THE RAPE OF LUCRETIA

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Theater an der Wien
Premiere
17.2.2011

Musikalische Leitung:Sian Edwards

Inszenierung:Keith Warner
Ausstattung: Ashley Martin-Davies
Licht: Mark Jonathan

Klangforum Wien

Male Chorus - Kim Begley
Female Chorus - Angel Blue
Collatinus - Jonathan Lemalu
Junius - Markus Butter
Tarquinius - Nathan Gunn
Lucretia - Angelika Kirchschlager
Bianca - Jean Rigby
Lucia - Anja Nina Bahrmann


Kompromissloses Musiktheater

(Dominik Troger)

Britten an der Staatsoper – Britten im Theater an der Wien: Dort wagte man sich an eine szenische Aufführung von „The Rape of Lucretia“, eines der spröderen Werke aus der Hand des britischen Komponisten. Der Lohn für dieses Wagnis: eine packende, überaus (!) gelungene Aufführung.

„The Rape of Lucretia“ wurde 2008 im Konzerthaus konzertant gegeben, auch damals sang Angelika Kirchschlager die Titelrolle. Das 1946 uraufgeführte Werk kreist um den Gründungsmythos der römischen Republik – um das Schicksal der tugendhaften Lucretia, Gemahlin des Collatinus, die von Tarquinius geschändet wird und daraufhin Selbstmord begeht.

Britten lässt die antike Geschichte von einem weiblichen und einem männlichen „Chor“, der nur aus einer weiblichen und einer männlichen Singstimme besteht, aus heutiger Perspektive erzählen. Die Handlung oszilliert zwischen den beiden Erzählern und der antiken Handlung. Sehr seltsam wirkt der christliche Kontext, den die Erzähler aufgreifen und der Lucretias Tod in die Richtung des Erlösungstodes von Jesus Christus rückt. Das manchmal etwas „blumige Libretto“ verstärkt die Distanz für die Zuhörer: ein sprödes, auf der Ebene von Text und Aussage antiquiert wirkendes Werk, das aber durch Brittens Komposition phasenweise zu fast schmerzender Gegenwärtigkeit erwacht.

Der szenischen Realisation durch Keith Warner, in der Ausstattung von Ashley Martin-Davis, sowie der musikalische Umsetzung durch das Klangforum Wien unter Sian Edwards ist es gelungen, die Momente dieser Gegenwärtigkeit sehr expressiv und exemplarisch herauszuarbeiten. Das Schicksal Lucretias ging einem unter die Haut, und der verlockende Duft weiblicher Schönheit vermischte sich mit der Testosteron geschwängerten Luft eines römischen Heerlagers, aus dem Tarquinius in vollster Gier entbrannt, nach Rom eilt. Angelika Kirchschlager (Lucretia) und Nathan Gunn (Tarquinius) prallten wie Prototypen weiblicher und männlicher Gefühlswelten aufeinander, mit der Fähigkeit zu starken Emotionen und ausgestattet mit Begehren hervorrufender Körperlichkeit.

Warner verschmolz den etwas oratorienhaften Aufbau des Stückes durch den Einsatz von Bühnenmaschinerie und die expressive Körperlichkeit der handelnden Personen zu einer von unterschwelligen erotischen Wünschen, Gewaltausbrüchen und Schuldgefühlen gepeinigten Gefühlswelt. Die Bühne wurde dreigeteilt, der Bühnenboden für die Lucretia-Handlung adaptiert, zwei Kojen wurden rechts und links unter dem Schnürboden hoch über die Rampe gesetzt, jeweils als Zimmer für Male Chorus und Female Chorus ausstaffiert.

Der Male Chorus wurde von Warner als Geschichtsprofessor konzipiert, der inmitten von Bücherregalen seinem Job nachkommt. Der Female Chorus hatte eine Studentenbude bezogen – mit inkludiertem Besuch vom Professor – gewiss eine Anspielung auf eine erotische Meister-Schülerinnen-Beziehung.

Die eigentliche Handlung begann in einem Feldlager mit langen Bänken, auf dem sich die Anführer massieren lassen, mit nacktem Oberkörper, sich betrinkend und über die Treue der Frauen in Streit geratend. In dieser männlichen Konkurrenzsituation fährt Tarquinius der Stachel ins Fleisch, so dass er die Tugendhaftigkeit der Lucretia auf die Probe stellen möchte. Lucretia wird vor einem riesigen Webstuhl in die Handlung eingeführt, von Bianca und Lucia begleitet. Die Bühne hatte sich zu diesem Zwecke großflächig „umgebaut“ – soviel Einsatz an Maschinerie sieht man im Theater an der Wien selten.

Eindringlich hat Warner die Szene gelöst, in der Tarquinius von seinem Zimmer über den dunklen Gang zu Lucretia schleicht, um sie ungebeten in ihrem Schlafgemach aufzusuchen. Er lässt Tarquinius unter (!) einem mehrere Quadratmeter großen Tuch, das Lucretia als Decke dient, plötzlich auftauchen, aufstehen, sich zu ihr vorwärtstasten. Dann folgten die expressivsten Momente des Abends, die Liebeserklärung des Eindringlings, Lucretias Erwachen, ihr Verweigern und sein brutal erfochtener, vermeintlicher Sieg. Diese überaus heikel zu spielende Szene kam ohne billige Effekte aus, entwickelte sich ganz natürlich zu hautnahem Realismus. Kirchschlager und Gunn schienen dabei an Ausdrucksgrenzen zu stoßen, an die man auf Wiener Opernbühnen sonst kaum einmal anstreift. Das Bühnensetting bestand aus einer leicht erhobenen, leergeräumten Spielfläche von Scheinwerfern seitlich und von unten bestrahlt, ein riesiges Bett gleichsam, eine Arena für den ungleichen Ringkampf zwischen den Geschlechtern.

Lucretias Selbstmord zeigte die richtige Mischung aus Heroismus, traumatischer Verwirrung und erotischer Beimengung. Hat Tarquinius die tugendhafte Römerin nicht doch entflammt? Ist das die geahnte Schuld, die die Hand zum entleibenden Messer greifen lässt? Das Messer befindet sich zuerst in der Hand der Erzählerin. Die Berichtenden leiden mit den Wesen, von denen sie erzählen. Wie weit hat Warner hier subtile Parallelen aufgezeigt? Es wäre nicht nur deshalb lohend, sich diese Produktion zweimal oder dreimal anzuschauen.

Wie schon angedeutet, vermittelten sowohl Angelika Kirchschlager als auch Nathan Gunn eine starke Identifikation mit ihren Rollen: Kirchschlager mit ihrem an Mozart und Strauss geschulten Mezzo, der bei Rollen wie diesen den Erfahrungsschatz der Bühnenfigur stark erweitert; Nathan Gunn mit seinem etwas rauen Bariton, der zu einem kampfgestählten Körper passt, der sich in dieser Produktion mit nackter Oberweite in bestem Lichte zeigen durfte.

Ein bisschen raubeinig waren auch die anderen Römer bestückt, wobei Collatinus (Jonathan Lemalu) eine angemessene Weichherzigkeit mit einschloss, während sich Junius (Markus Butter) auf Heuchelei und Ränkeschmieden verstand. Jean Rigby (Bianca) und Anja Nina Bahrmann (Lucia) rundeten passend die weibliche Seite de Handlung ab. Kim Begley (Male Chorus) sang den Erzähler mit hellem, leicht heroischen Tenor. Eine gewisse pathetische Überhöhung hat Britten in einigen Passagen wohl mitgedacht, trotz der mitschwingenden Betroffenheit. Angel Blue (Female Chorus) hat wirklích einen „sprechenden Namen“. Sie durchlitt Lucretias Schicksal und wurde zum Sprachrohr von Frauenleid und -seele.

Sian Edwards bohrte mit der Hilfe des Klangforums Wien präzise in den Eingeweiden von Brittens Komposition und schmirgelte die Patina von dem 60 Jahre alten Werk. Eine aufwühlende Kompromisslosigkeit zog sich vom Anfang bis zum Ende und verschränkte Sinnlichkeit und Gewalt in immer neuen Kombinationen und atmosphärischen Spannungen. Das Publikum zeigte sich widerspruchslos begeistert, das Regieteam mit eingeschlossen, und applaudierte ungefähr zehn Minuten lang.

Fazit: In Anbetracht der schwierig zu realisierenden Vorlage möglicherweise die bisher beste Neuproduktion der laufenden Wiener Opernsaison.