„Szenische Restlverwertung"
(Dominik Troger)
Die
neue Staatsoperndirektion hat sich in ihrer ersten Spielzeit einen
„echten“ Bieto nach Wien geholt. Geopfert wurde dafür
die cineastische „Carmen“-Inszenierung von Franco Zeffirelli
aus dem Jahr 1978.
Calixto
Bietos „Carmen“-Inszenierung
stammt aus dem Jahr 1999 und hat inzwischen zumindest die „halbe
Opernwelt“ durchreist: Barcelona, Madrid, San Francisco, Boston,
Paris, London, Basel, Oslo, Venedig, Palermo, Mallorca, Antwerpen
(keine Vollständigkeit der Auflistung angestrebt). Sie jetzt auch
nach Wien zu holen ist – mit Verlaub – eigentlich überflüssig.
Aber die Direktion konnte damit ein „kulturpolitisches Statement“
abgeben, noch dazu ganz ohne Risiko.
Denn für Bieto geht es in „Carmen“ – wie man einem
Interview der Tageszeitung KURIER (21. Februar 2021) entnehmen konnte
– „letztlich (…)
auch nur um einen simplen Mord aus Eifersucht.“ Die
Einschränkung „letztlich“
ist praktisch, sie lässt dem Regisseur Spielraum für ein paar
szenische „Aberrationen“ (wie die „Sonnenanbeterin“
im vierten Akt), an denen man vielleicht eine „verfremdende
Ironie“ erkennen soll, aber im Wesentlichen lässt Bieto die
Handlung auf diesen„simplen Mord aus Eifersucht“ zulaufen.
Im Vergleich mit der Vorgängerproduktion muss sich das Publikum aber
mit einer kargen Szene begnügen. Bieto hat die Story in die spanische
Franco-Ära mit übergriffigen und eifrig Alkohol konsumierenden Soldaten
und Schmugglern verlegt. Ein paar Mercedes-Limousinen
ersetzen die Zeffirelli'sche Opulenz – und es gibt die heutzutage
auf Opernbühnen übliche Banalisierung und Sexualisierung des Sujets.
Das Finale wird bei Bieto zu einem „Kampf der Geschlechter“,
der in einer nur mit Kreidestrichen am Boden angedeuteten Arena stattfindet.
Düsternis hat von allem Besitz ergriffen. Der Mord wird mit blutrünstiger
Kühle inszeniert, es fehlt an menschlicher Anteilnahme – eine
Vivisektion existentieller Emotionalität.
Bei Zeffirelli war die Szene immer klar verortet. Im Finale befand
sich beispielsweise ein Teil der Arena im Hintergrund. Südliche Wärme
durchstrahlte dieses Bild, der sandbraune Platz vor der Arena war
durchglüht von der Mittagssonne, während sich in den dunkelblauen
Himmel schon ein schwarzer Dämmerungsschatten mischte. Diese Kulisse
war noch mit einem künstlerischen Auge geschaut und verschmolz im
betonten Blickwinkel architektonische Erhabenheit mit
der in die Weite schweifenden Melancholie eines großen, nahezu menschenleeres
Platzes. Diese Kulisse umstrahlte Carmen und Don José wie ein Aura,
sie erzählte von ihrem Leben, sie entfremdete sie nicht von sich selbst.
Zeffirelli hat „Oper“ des 19. Jahrhunderts inszeniert,
mit üppiger Statisterie und Kostümen, so als hätte er Sevilla nach
Wien bringen wollen.
Mag sein, dass er die Ausdeutung der Bühnencharaktere mehr den Ausführenden
überlassen hat – jedenfalls hat er Micaela nicht so verzeichnet
wie Bieto, hat er die Figuren nicht zum Spielball eigener existentieller
Ängste und Erfahrungen gemacht. Denn die Charaktere sind ohnehin
im Libretto angelegt. Um bei Micaela zu bleiben: Als Gegenpol zu Carmen ist ihr Charakter ist
ganz klar umrissen – eine naive, gottesfürchtige junge Frau,
die in Don José verliebt ist und ihm einen mütterlichen (!) Kuss gibt.
Niemals würde sie Don José so gierig befummeln wie es sich Bieto ausgedacht
hat.
Und Carmen selbst? Entzaubert und ins 20. Jahrhundert geworfen lockt
sie Don José mit einem erotisch wenig inspirierten Tänzchen, während
sich dieser auf der hinteren Sitzreihe des Mercedes an Hochprozentigem
labt. Das ist keine Carmen der Klischees anhaften, aber es ist auch
keine Carmen, die ein besonders Flair umgibt. Eine solche „entmythisierte“
in ihrem Wesen „verflachte“ Carmen ist vielleicht „ehrlicher“,
aber ist sie für die Bühne interessanter? Wenn das Publikum im Theater
dieselben Typen trifft wie auf der Straße vor dem Theater, warum soll
es dann um teures Geld noch ins Theater gehen? Der saftige Mezzo von
Anita Rachvelishvili gab dieser
Carmen ein opulentes musikalisches Erscheinungsbild, das sich inszenierungsbedingt
weniger um raffiierte erotische Schattierungen bekümmerte, sondern
mehr mit kräftigen Pinselstrichen malte. Ihr Hausdebüt als Amneris
im Jahr 2018 hat sich mir stärker eingeprägt.
Und Don José? Pjotr Beczala ist
als Don José für den erkankten Charles Castronovo eingesprungen.
Beczala hat die Partie bereits 2018 an der Wiener Staatsoper gesungen
und damals die Zeffirelli-Optik mit den üblichen, austauschbaren
Operngesten gefüllt. Er hat in der Darstellung der Figur von
der Probenarbeit sichtlich profitiert. Sein inzwischen schon recht
„bronzen“ gefärbter Tenor gab die Partie mit muskulöser
Eleganz und einer traurig-sinnlichen Empfindung, die von Anfang an
klar machte, dass das kein gutes Ende nehmen wird.
Mit einer gehörigen Portion an Selbstbewusstein ausgestattet manövrierte
Erwin Schrott seinen Bassbariton als Escamillio durch den Abend.
Bereits im Jahr 2018 bei seinem Wiener Rollendebüt hat er in dieser
Partie mit starker Bühnenpräsenz überzeugt – auch wenn man bei
ihm gesanglich nicht immer alles auf die Goldwaage legen darf. Vera-Lotte
Boecker, als Micaela eingesprungen, steuerte einen etwas spröden
Sopran bei, der mit zu harten Lyrismen seine Liebe beschwörte.
Szilvia Vörös und Slávka
Zámečníková als Carmens Gefährtinnen mussten sich in dieser
Inszenierung als „verdorbene“ Charaktere präsentieren,
wie auch die übrigen „Clanmitglieder“. Der Chor darf an
der Rampe den Stierkämpfern zujubeln – und hilft damit Statisten
sparen.
Das Orchester unter Andrés Orozco-Estrada
schwelgte nicht gerade in mediterraner Üppigkeit, sach- und selbstbezogen,
manchmal fast ein wenig spröd anmutend, passte es besser zur Inszenierung,
als dass es die Singenden beflügelt hätte.
Fazit: Diese „Carmen" ist kein Glanzstück, sondern
eine szenische Restlverwertung. Als Stream war es erträglich,
wie das alles im Haus wirkt, wird man sehen.