THE IO PASSION
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Kammeroper
12.2.2011

Libretto: Stephen Plaice
Uraufführung: Aldeburgh 2004

Musikalische Leitung: Daniel Hoyem-Cavazza
Inszenierung: Nicola Raab
Ausstattung: Claudia Doderer
Lichtdesign: Christian Weißkircher

Kammerensemble der Wiener Kammeroper:
Violine I - Silvia Iberer
Violine II - Annette Mittendorfer
Viola - Rita Cuda
Violoncello - Christof Unterberger
Bassettklarinette - Berhard Pfaffelmaier

Premiere: 10.2.2010

Woman 1 / Hera - Brigitte Pekarek
Woman 2 / Hera - Jennifer Davison
Woman 3 / Io - Barbara E. Schedel

Man 1 / Inachus - Hans Gröning
Man 2 / Zeus - Ben Maddox
Man 3 / Hermes - Rupert Bergmann



„Dramatisierte Kammermusik
(Dominik Troger)

An der Kammeroper hatte am Donnerstag „The Io Passion“ von Harrison Birtwistle Premiere. Die hier besprochene zweite Vorstellung hätte zwar noch einige Besucher vertragen, der Eindruck, den die Produktion hinterließ, war aber ein vorzüglicher.

Der britische Komponist Harrison Birtwistle (*1934) hat ein gewisses Faible für die Aktualisierung alter und neuer Mythen – nicht nur, weil er in den 1990er-Jahren eine Oper über „King Kong“ geschrieben hat „The Second Mrs. Kong“. Da gibt es „The Mask of Orpheus“ oder „The Minotaur“ oder eben: „The Io Passion“. Immer wieder werden dabei die Grenzen von Traum und Wirklichkeit verschoben und aufgelöst. Nonlineare Handlungstränge brechen die Kausalität auf und machen es dem Publikum nicht einfach, dem Geschehen zu folgen. Für „The Io Passion“ hat man im Programmfolder der Kammeroper sogar das „Szenario nach der Partitur von Harrison Birtwistle“ abgedruckt.

Dieses Szenario verströmt zwar den Charme einer Dienstanweisung, aber immerhin erfährt man, dass es auch hier wieder um die Verschränkung von Realitäten geht. So ist eine der Spalten mit „TRAUM“ überschrieben. Außerdem erkennt man gut die angelegte Struktur: Sieben Szenen durchlaufen ein ähnliches Muster, das sich aus Aktionen auf der Bühne, hinter der Bühne, hinter der Szene und fünf Traumsequenzen zusammensetzt – und in diesen Träumen dockt Birtwistle am Io-Mythos an. Darüber spannt sich ein Handlungsrahmen, der in einem Briefwechsel besteht: Das Schreiben, Aufgeben und Lesen von Briefen leitet von einer zur nächsten Szene über, dann folgt meist eine mythische Traumsequenz, ehe die Handlung gleichsam von vorne (das Schreiben, Aufgeben und Lesen von Briefen), aber unter neuen, vom Ios-Mythos diktierten Voraussetzungen, weitergeführt wird. Die Briefpartner – eine Frau und ein Mann – werden jeweils durch drei Personen dargestellt.

Das Schicksal des Paares und seiner Repräsentanten nimmt seinen Ausgang bei einem gemeinsamen, erotisch geschwängerten Griechenlandurlaub, über den in den Briefen reflektiert wird. Dieses grundlegende Handlungsmotiv wird von Birtwistle mit der Sage von Io verzahnt: Io, die Geliebte des Zeus, von Hera beneidet, vom Göttervater in eine Kuh verwandelt, von Hera durch die Rinderbremse gequält. Ios lunares Element – zunehmender Mond, Vollmond, Neumond – wird nach altem Vorbild zudem als Symbole für die Lebensalter genommen: Mädchen, Frau, altes Weib. In den mythischen Traumsequenzen wird die Sage von Io „nacherzählt“, Frau und Mann werden zu mythologische Figuren der Io-Sage wie Hermes, Io, Zeus, und Hera.

Dieser Aufbau ermöglichte Birtwistle, unterschiedliche Aggregatzustände von „erotischen Leidenschaften“ zu beschreiben und archetypisch zu verankern. Diese Leidenschaften lodern intensiv oder verträumt aus dem sehr locker gewobenen und auch textlich nur rudimentär angedeuteten Handlungsgefüge. Die Bühnenaktion selbst scheint mehr ein Schatten oder ein Abbild seelischer Vorgänge, eine aus unbewussten Strömen sich manifestierende, auf Wunscherfüllung drängende Aktion – in der Musik aus dem Kammerensemble gleichsam präfiguriert. So als würde die Musik als Sonne den Mond bestrahlen und zum Leuchten bringen.

Das Kammermusik-Ensemble (2 x Violine, Viola, Violoncello, Bassettklarinette) steht im Mittelpunkt, denn auf der Bühne wird wenig „gesungen“. Von Beginn an weben die Instrumente in elegischem Tonfall von klagenden, manchmal ein wenig „bruchstückhaft“ eingestreuten Klarinetten-Kantilenen durchsetzt, eine Musik, die in ihrer Emotionalität ganz ferne Erinnerungen an „Tristan’sche“ Wehmut wachruft, an die Süße der Liebe, an nervöses Nicht-mehr-erwarten-können, an Blutrausch – allerdings ohne, dass der musikalische Fluss dadurch deutlich unterbrochen würde.

Dabei werden kaum „extreme“ Spieltechniken eingesetzt, um den musikalischen Strom zu brechen oder provokativ zu wirken. Meist findet Birtwistle einen fließend-musikalischen, ernsthaften und lyrischen Tonfall für „Ios Passion“, ausgeführt mit einer „altersweisen“ Reduktion der Mittel. Nur an wenigen Stellen, gepaart mit den orgienhaften Höhepunkten der Traumhandlung, wird die Musik dramatisch zugespitzt und gerät ein wenig „aus der Fassung“. Sie gewinnt dann jene Facetten eines absurden britischen Humors, den man in diesem Zusammenhang mit „anarchischer Zügellosigkeit“ umschreiben könnte und der die musikalische Liebeslyrik mit bacchantischen Einsprengseln „versetzt“. Die Gesangslinien werden etwas expressiver geführt, bleiben aber im Wesentlichen kantabel.

Birtwistles musikalischer Ausdruck zeigt Parallelen mit Henzes „Phaedra“, wo (freilich in größerem Rahmen) ein ähnliches inneres Leuchten den Klang bestimmt und den Mythos beschwört – fast wie eine Trost suchende Rückwendung zur Wiege der europäischen Kultur. (Wobei, um der Chronologie zu entsprechen: „The Io Passion“ wurde 2004 uraufgeführt, „Phaedra“ 2007.)

Die Bühnenrealisation durch Nicola Raab (Inszenierung) und Claudia Doderer (Bühne & Kostüme) hielt sich offenbar eng an die Birtwistle’sche „Dienstanweisung“ und verlegte das Geschehen in eine hellgestylte Wohnung, mit großen Fenstern, einem Spiegel ohne Glas, der den Wohnbereich von Frau und Mann „virtuell“ abtrennte, Nischen mit Sitzgelegenheiten, einem Podest zum Schreiben und Opfern. In der Rückwand zeigte ein langgestrecktes, schmales Display den Mond als Animation in seinem Zyklus des Werdens und Vergehens – fast in Echtzeit auf die Spieldauer des Werkes abgestimmt. Die Kostüme vermittelten bürgerliches (britisches?) Lebensgefühl und waren erotisch geschneidert, so als schimmere die Begehrlichkeit durch blasse Blusen oder das grüne Kleid Ios, als „Rind“ in erotischer Pose mit aufgesetzten Hörnern drapiert. Es war spannend zu sehen, wie sich die Szene mit solchem „Eros“ auflud und sich in den mythischen Träumen orgienhaft (und ein wenig grotesk) entlud. Das Produktionsteam ist nicht in die Falle eines banalen Aktionismus getappt. (Bekanntlich ist Nacktheit an sich weniger erotisch produktiv als ihre gekonnte Verhüllung.)

Den positiven Gesamteindruck komplettierte ein Ensemble ohne Schwachpunkte: die beiden Sprechrollen Brigitte Pekarek und Ben Maddox; Jenniver Davison, die wahrscheinlich den dankbarsten Gesangspart hatte und ihren schönen, fraulichen Sopran auch mit erotischem Funkeln oder eifersüchtigem Geifer zu versehen wusste; Barbara E. Schedel, mit mädchenhafterem Sopran als zartere, leidensfähige Io und Woman 3 Begehren weckend; Hans Gröning mit markantem Bariton; und Rupert Bergmann, der als Hermes aus einem „Kanal“ in die Oberwelt entstieg und mit seinem Bassbariton für grotesk-bedrohlich wirkenden Momente sorgte. Vorzüglich spielte das „Klarinettenquintett“ unter Daniel Hoyem-Cavazza. Das Publikum spendete der sehenswerten Produktion animierten Schlussapplaus.

Fazit: „The Io Passion“ ist weniger „Oper“, sondern mehr „dramatisierte Kammermusik“. Diese ist, wenn man sich auf das Zuhören einlässt, sehr reizvoll und von einer überraschend starken inneren Spannung getragen.