MASS
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Semperdepot
17.4.2011
Premiere

Musikalische Leitung: Walter Kobéra
Regie: Hendrik Müller
Bühne & Kostüme: Matthias Werner
Choreografie: Nikolaus Adler
Lichtdesign: Norbert Chmel
Chorleinstudierung: Michael Grohotolsky
Einstudierung Kinderchor: Johannes Mertl

Wiener Kammerchor
Opernschule der Wiener Staatsoper
amadeus ensemble-wien

Zelebrant - Alexander Kaimbacher
Knabensolo - Leonid Sushon

Mit Rebecca Nelsen, Bibiana Nwobilo, Simona Eisinger, Anna Clare Hauf, Marion Feichter, Manuela Leonhartsberger, Marko Formanek, Abdul Candao, Martin Piskorski, Georg Leskovich, Dieter Kschwendt-Michel, Andreas Kammerzelt, Joachim Claucig und Heimir Wium




Themaverfehlung
(Dominik Troger)

Die Neue Oper Wien steuerte im Semperdepot zum Wiener Osterklang Festival eine abgespeckte „Kammerversion“ von Leonard Bernsteins „Mass“ bei. Die Regie führte Hendrik Müller. Ob man dem Werk und dem Publikum damit einen Gefallen getan hat, darf bezweifelt werden.

Leonard Bernsteins „Mass“ basiert auf der Tridentinischen Messe, deren Gliederung und lateinische Texte er übernommen und um zusätzliche englische und hebräische „Erläuterungen“ und eine Art „Handlung“ erweitert hat. Ein Zelebrant und eine „Glaubensgemeinschaft“ feiern einen Gottesdienst. Nach einem fröhlichen Beginn kommt es zu einer Glaubenskrise, an deren Höhepunkt der Zelebrant Monstranz und Kelch auf den Boden wirft und zerstört. Doch die Krise wird überwunden, das Werk endet mit einem Friedensgebet und Segen. Um die 200 (!) Mitwirkende würde dieses Musiktheaterstück in größter Besetzung benötigen, das 1971 im John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington uraufgeführt wurde. (Im Februar 1981 war „Mass“ sogar an der Wiener Staatsoper zu sehen.)

Das Werk lebt stark von einem monumentalen Eklektizismus, mit dem Bernstein unterschiedlichste musikalische Strömungen seiner Zeit zusammenzwingt – und zu einer teilweise süffigen, musicalähnlichen, manchmal auch minimalistisch angehauchten Musik verdichtet, die um deftige spiritualaffine Jazz, Rock- und Popanklänge nicht verlegen ist. Der Einsatz mehrerer Chöre, ein „formaler“ für die lateinischen Texte, ein Knabenchor, sogenannte Street Singers, die auf der Spielfläche für Gesang und Ballett zu sorgen haben, sowie ein eigenes Bühnenorchesters zielen auf große akustische Raumeffekte, auf den Gegensatz von Masse und Individuum, in dem sich das Thema Glauben und Religion auf unterschiedlichen, auch stark emotional besetzten Ebenen abhandeln lässt. Dabei kann die Musik durchaus innig werden, etwa im finalen Aufschwung nach der großen Krise, dem Wahnsinnsanfall des Zelebranten („Things get broken“), der zuerst zart und tröstend von einer Soloflöte zu einem Knabensopran-Solo überleitet („Sing God a secret song“) und zuletzt einen gemeinsamen, friedvollen Lobgesang entwickelt.

Bernstein hat (zitiert im Programmheft) betont, dass „Mass“ für ihn ein „deeply religious work“ ist. Und er trat mit solchen Aussagen gewissen Anfeindungen entgegen, die ihm nach der Uraufführung Blasphemie vorgeworfen haben. Aus europäischer Sicht ist „Mass“ sehr „amerikanisch“, eine plakative Religions-Show aus dem Lande der Fernsehprediger. Nun, man muss es ja nicht immer so seriös angehen wie Poulenc mit den Dialogen seiner Karmeliterinnen, die derzeit im nahe anbei liegenden Theater an der Wien zu Gast sind.

Doch zurück ins Semperdepot. Der architektonisch interessante Bau hat eine schwierige Akustik und eine im Vergleich zu seiner Höhe zu kleine Spielfläche. Verschärfend kommt hinzu, dass die Neue Oper Wien nicht über die Möglichkeiten eines großen Hauses verfügt, um „Mass“ mit den gebotenen Mitteln aufzuführen. Man hat nun die Kammerversion gewählt und diese mit entsprechend verstärkendem technischem Equipment umgesetzt. Ob diese Version überzeugender ist, als die „Vollversion", darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Mir persönlich kam es vor, als hätte man Bernsteins gewagtes „Theaterstück für Sänger, Schauspieler und Tänzer“ (so seine Werkdefinition) in ein zu kleines Gebäude gesperrt und zurechtgestutzt. Eventuell war die Situation dort, wo sich die „reservierten Plätze“ befanden, eine akustisch feinere. Ein gewisser Zug ins Grelle, Soundtrackmäßige wurde zudem durch die Regie stark forciert – von der wird aber noch zu reden sein.

Wenn man es nicht schon gewusst hätte, so wäre Alexander Kaimbacher als Zelebrant die Entdeckung des Abends gewesen. Sein gestaltungsfähiger lyrischer Charaktertenor war den emotionalen Ausbrüchen der Partie ebenso gewachsen wie einem zarten, feinfühligen Piano, das sich zum Beispiel mit dem Knabensopran (schön gesungen von Leonid Sushon) im Schlussabschnitt zu einem besinnlichen Duett verband. Kaimbacher hat in dieser Produktion allerdings keinen „Zelebranten“ zu mimen, sondern erinnerte stark an den Boss eines marketingaffinen Drogenkartells. In der entscheidenden Glaubenskrise entert er mit einer alten Maschinenpistole bewaffnet die Bühne und killt einen Street Singer. Dadurch wird viel Fleisch und Blut gegenwärtig, und der „Zelebrant“ fasst auch noch in die Wunde des vor sich hinzuckenden Bauchschussverletzten, um ein bisschen mit dem roten Saft herumzuschmieren – und diese Szene darf als Transsubstantiation des banalen Zeitgeschmacks in Form heutiger Theaterregie gelten.

Es ist ohnehin immer dasselbe, wenn die szenische Darstellung religiöser Themenstellungen angegangen werden soll: Das Regieteam geht aus der eigenen begrenzten Weltsicht meist davon aus, dass das Publikum mit solchen Begrifflichkeiten nichts mehr am Hut haben darf und bietet Ersatzstoffe an. In diesem Fall wurde der „Messcharakter“ der Handlung zur Kapitalismus- und Konsumkritik umfunktioniert und im Programmheft wurden entsprechende Querverweise gesetzt: ein Abschnitt aus Walter Benjamins „Kapitalismus als Religion“, Brecht’sche Belehrungen und ein paar Absätze aus Carl Amerys „Die Kirchen und der Totale Markt“.

Die Bühne zeigte eine „Las Vegas“-Palme mit sie umspülenden Pool und eine mit goldener Folie überzogene Drehtüre im Hintergrund. Ein grüner Stöckelschuh in einer Vitrine symbolisierte wohl die heilige Monstranz der schicken und hippigen konsumgläubigen Gemeinde. Diese „Gemeinde“ erfüllte die Bühne mit beständiger Unruhe, plantschte im Wasser, riss in ihrer Verzweiflung Topfpflanzen aus, räkelte sich in unbezähmbarer Sinnenlust begehrlich hin- und her, schikanierte einen Rollstuhlfahrer und übte sich in weiteren Verrenkungen und Aggressionspotentialen. Mehrmals wurden Revolver gezückt, um damit Angst und Schrecken zu verbreiten. Der Inhalt von Handtaschen wurde in alle Himmelsrichtungen verstreut und am Höhepunkt dieses absurden Selbsterfahrungstrips für junge Schauspieler wurden von der Galerie des Semperdepots ein oder zwei Dutzend Häuptel Salat auf die Spielfläche geworfen, wo sie auch angeknabbert, vor allem aber zerteilt wurden, um sich mit üppig verstreuten kleinen Blättchen aus Goldfolie zu einem für die Mitwirkenden gemeingefährlichen schlüpfrigen Bodenbelag zu vermischen.

Bei so viel Bühnengeschehen war man ernsthaft überrascht, als in der letzten Viertelstunde dann doch noch Ruhe einkehrte, und dass Hendrik Müller zum Finale nicht noch einmal die Maschinenpistole auspacken ließ, um damit alle Mitwirkenden von der Bühne zu schießen. Nein, da begann die Aufführung endlich Luft zu holen und zu atmen, nach eineinhalb Stunden langem, unermüdlich und rücksichtslos am Leben erhaltenem Aktionismus.

Das Publikum der Premiere reagierte mit länger anhaltendem Applaus und auch mit Bravorufen. Möglicherweise gab es für das Regieteam ein, zwei Buhrufe. Von meinem Platz auf der Galerie war das nicht eindeutig herauszuhören.

Fazit: Laut Homepage der Neuen Oper Wien sind alle Vorstellungen bereits ausverkauft. Deshalb wäre es zynisch, dem Publikum der Folgevorstellungen eine „gute Unterhaltung“ zu wünschen, aber man sollte sich nicht in die erste Reihe setzen: sonst wird man womöglich nass oder es fliegen einem die Salatblätter um die Ohren.