CANDIDE
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Thester an der Wien im Museumsquartier Halle E

Premiere

17. Jänner 2024

Musikalische Leitung: Marin Alsop

Inszenierung: Lydia Steier
Bühne und Video: Momme Hinrichs
Kostüm: Ursula Kudrna
Licht: Elana Siberski
Choreografie: Tabatha McFadyen

ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Arnold Schoenberg Chor

Erzähler (Sprechrolle) - Vincent Glander

Candide - Matthew Newlin
Cunegonde - Nikola Hillebrand
Maximilian / Tsar Ivan - James Newby
Dr. Pangloss / Martin - Ben McAteer
Old Lady - Helene Schneiderman
Grand Inquisitor / Captain / Governor /
Vanderdendur / Ragotski - Mark Milhofer
Paquette - Tatiana Kuryatnikova
Baron / Don Issachar / Inquisitor II / Señor I /
Charles Edward / Crook - Paul Knights
Señor II / Inquisitor III / Hermann Augustus - Arvid Assarsson
Sultan Achmet - Benjamin Savoie
Archbishop / Stanislaus - Benjamin Heil
Baronesse - Pablo Delgado
Bear-Keeper - Alessio Borsari
Cosmetic Merchant - Takanobu Kawazoe
Doctor - Tomasz Kufta
Junkman - Zacharías Galaviz-Guerra
Alchemist - Carl Kachouh
Croupier - Jörg Espenkott

Tänzer: William John Banks, Martin Dvorák, Nikos Fragkou,
Máté Rácz, Thomas Riess, Felix Schnabe, Jamie Winbank


Erfolg mit Candide
(Dominik Troger)

Die „beste aller möglichen Welten“ wird vom Theater an der Wien im Museumsquartier nicht präsentiert, aber eine sehr gute Produktion von „Candide“ – Leonard Bernsteins „Operetten-Musical-Oper“ nach Voltaires satirischem Roman.

Voltaire soll „Candide“ in nur drei Tagen verfasst haben, Leonard Bernstein hat sein Musiktheaterprojekt „Candide“ über dreißig Jahre lang beschäftigt. Die Uraufführung fand 1956 am Broadway statt, aber das war noch lange nicht die bestmögliche aller Bearbeitungen. Die Aufführung im Museumsquartier basiert auf einer Konzertfassung aus dem Jahr 1989! Bernstein hat zuvor das Werk noch einer Revision unterzogen und laut Programmheft des Theaters an der Wien gilt diese Konzertfassung „als letztes Wort des Komponisten zu Candide“.

Vor vier Jahren hat das Theater an der Wien „Candide“ in der Kammeroper gespielt, damals wurde auf die Broadway-Fassung von 1974 zurückgegriffen. Aber den Unterschieden in den einzelnen Fassungen nachzuspüren ist eine Aufgabe für habilitationslüsterne Librettoforscher. Die Variante, die das Publikum im Museumsquartier serviert bekommt, ist jedenfalls eine der bestmöglichsten: Durch die Funktion eines Erzählers wird der lose und sich so rasch abspulende Handlungsfaden gestrafft und die Reise von Westfalen bis in die Neue Welt und zurück zu einem revueartigen bunten musikalischen Strauß gebunden.

Das Publikum reist also mit Voltaire und Bernstein von Stadt zu Stadt, von Land zu Land – und mit Lydia Steiers Inszenierung durch die Geschichte. Der Beginn trägt noch die Züge des Rokoko – und gegen Ende des zweiten Teils zeigt die Spielhölle in Venedig das Ambiente fratzenhafter, gegenwärtiger Ausschweifungen mit einem Banknoten verschlingenden Donald Trump als einem von vielen „Blickfängen“. Denn dem Auge wird viel geboten: Eine Flut an Kostümen (Ursula Kudrna), von pittoresk bis an- und abstößig, die mit viel Bewegung aufgefächert wird. Die Inszenierung bleibt nah an der Handlung, setzt auf viel Humor, ohne mit unanzweifelbarem Regisseursego zur Publikumsbelehrung auszuholen.

Lydia Steier hat in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Presse“ (16. Jänner 2024) angemerkt, dass sie „Candide“ ein wenig an die britische Komikertruppe Monty Python erinnere – und ein bisschen davon war an diesem Abend spürbar, passte sehr gut zu Voltaire und einem aufmüpfigen Leonard Bernstein, dem bei der Erstkonzeption von „Candide“ noch die McCarthy-Ära in den Knochen gesteckt haben dürfte. (Bernstein wurde jahrelang vom FBI überwacht!)

Steiers „Subversivität“ verbirgt sich oft im Detail und es gibt jede Menge an Details zu entdecken. Beispielsweise bekommt das Publikum Hosen mit aufgenähten Madonnen zu sehen, die den Caballeros von Cadiz in heiliger Einfalt das Gemächt verdecken, oder abgesandelte Syphiliker, die ihre Hautausschläge zu Markte tragen und ein Tänzchen wagen. Manch sexueller Kontakt wird eindeutig angedeutet und in Cunegondes „Glitter and gay“ wird die Koloratur zur Beischlafmelodie. Nun könnte man zwar anmerken, dass die sexuellen Vorlieben des Gouverneurs von Buenos Aires nicht wirklich interessieren, aber die Regie hat alle Anstößigkeiten humorvoll genug verpackt, um auch diesen Punkt mit einem grotesken Blick auf menschliche Schwächen abzuhandeln.

Doch ganz hat sich Bernstein von der Bösartigkeit Voltaires nicht vereinnahmen lassen, mit der dieser gegen philosophische Lehren seiner Zeit ins Feld gezogen ist, die die Erde als beste aller möglichen Welten postulierten. Er bootet im Finale Voltaires Zynismus mit einem choralgestützten, fast religiös zu nennenden Optimismus aus. Wird Candide durch Bernstein zum „Parsifal der Aufklärung“? Vielleicht. Zumindest beschwört die Inszenierung von Lydia Steier im Finale ein zartes optimistisches Pflänzchen Hoffnung, dass szenisch aus einem Erdhäufchen emporwächst, das von Candide und Cunegonde in gärtnerischer Aufwallung zusammengetragen wurde.

Die langgestreckte Bühne der Halle E wurde an den Seiten abgeblendet und dadurch in der Breite etwas verkleinert. Das Bühnenbild von Momme Hinrichs schachtelt vier „Bühnen“ hintereinander, jeweils mit einem durch leuchtende Glühbirnen verzierten Rahmen versehen. Die einzelnen Spielflächen sind treppenartig in den Hintergrund gebaut, jede ein wenig kleiner als die vorherige, woraus sich ein hübscher perspektivischer Effekt ergibt. An der Rampe entlang werden mit Kulissenelementen Meereswogen simuliert und bei dem eifrigen Bootsverkehr, den das Stück verlangt, „schwimmen“ sogar mannsgroße Schiffchen am Publikum vorüber. Beim Schiffbruch im zweiten Teil breitet sich ein Stoffmeer über die Bühne aus und die Überlebenden stecken ihre Köpfe durch Löcher im Theatertuch und scheinen in den Fluten zu treiben – eine sehr effektvolle und optisch ansprechende Umsetzung.

Zu sehen gibt es also viel, zu hören auch. Mikroports sorgen dafür, dass die Stimmen in der letzten Hallenreihe ankommen. Es wird in englischer Sprache gesungen und erzählt, und es gibt deutsche Übertitel. Im Zentrum der Solisten stand Matthew Newlin als Candide. Er spielte und sang den Naivling, gehüllt in ein hellblaues Rokokostüm, ein unschuldsvoller Hauch von Satin und Seide, in dem er nicht nur stimmlich sehr gute Figur machte. Auch sein Tenor glänzte in dieser schlichten Unschuld, hell, aber nicht trocken, ein angenehmes Timbre, wie mit feinem Seidenglanz überzogen.

Nikola Hillebrand war eine pekuniären Verlockungen zugeneigte Cunegonde, der Sopran keck, aber nicht ganz so virtuos, dass ihr Pariser Liebesabenteuer ein richtiges Koloraturenfeuerwerk abgebrannt hätte. Helene Schneidermann war als „alte Dame“ für den komischen Part zuständig und Ben McAteer war als Pangloss der Ausgangspunkt der philosophischen Betrachtung, ein Stehaufmann im fortgeschrittenen Alter, der grotesk für seine Weltanschauung eintrat. Neben weiteren Mitwirkenden in vielen kleineren Rollen gab der Arnold Schönberg Chor wieder ein großartiges Beispiel seiner Vielseitigkeit und ein kleines Tanzensemble trug viel zum Erfolg des Abends bei, zauberte beispielsweise im zweiten Teil ein fesches und resches Matrosenballett auf die Bühne. Großartig auch Vincent Glander als frecher Erzähler, der die Figuren der Handlung durch die Weltgeschichte „schubste“.

Ob Marin Alsop am Pult und das ORF Radio-Symphonieorchester Wien noch ein bisschen mehr aus sich hätten herausgehen können? Die Ouvertüre gestaltete sich schwungvoll und mit Bernsteinschen Impetus, aber grundsätzlich war es doch eine recht kontrollierte Wiedergabe, in den Ensembles überzeugend, in den Solonummern vielleicht eine Spur zu zahm, so als hätte man Sorge, ein geliebtes Erbstück unter seinem Wert zu verkaufen.

Das Publikum reagierte nach rund zweidreiviertel Stunden (inklusive einer Pause) mit starkem, minutenlangem Applaus für alle Mitwirkenden. Fazit: eine rundum gelungene Produktion – wahrscheinlich das „Bestmögliche“, was das Theater an der Wien unter der Intendanz von Stefan Herheim bis dato dem Wiener Publikum geboten hat.