WOZZECK

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Wiener Staatsoper
21. März 2022
Premiere

Dirigent: Pilippe Jordan

Inszenierung: Simon Stone
Bühne: Bob Cousins
Kostüme: Alice Babidge & Fauve Ryckebusch
Licht: James Farncombe
Choreinstudierung: Thomas Lang

Wozzeck - Christian Gerhaher
Tambourmajor - Sean Panikkar
Andres - Josh Lovell
Hauptmann - Jörg Schneider
Doktor - Dmitry Belosselskiy
Narr - Thomas Ebenstein
Marie - Anja Kampe
Margret - Christina Bock

1. Handwerksbursch - Peter Kellner
2. Handwerksbursch - Stefan Astakhov
Knabe - Dimiter Paunov
Soldat - Won Cheol Song
Wirt - Wong Cheol Song



Arbeitslos in Simmering?!
(Dominik Troger)

Die Wiener Staatsoper präsentiert einen neuen „Wozzeck“. Die Inszenierung ist das typisches Produkt der gegenwärtigen Opernverhältnisse. Der Regisseur hat ein Konzept. Das Konzept wird durchgezogen. Es ergeben sich szenisch große Unstimmigkeiten im Vergleich mit der Partitur. Aber wen stört das noch?

„Wozzeck“-Premiere an der Wiener Staatsoper. Gut hundert freie Plätze auf der Galerie, im Vorfeld gab es Karten im „Sonderangebot“. Für die kommenden vier Vorstellungen der Premierenserie waren am Premierenabend noch Hunderte Karten verfügbar – pro Vorstellung! Man mag COVID die Schuld geben – oder nicht, aber der „Wozzeck“ ist nie ein Repertoirestück gewesen (auch wenn auf Seite 120 im Programmheft zur Aufführung anderes zu lesen ist).

Die Statistik stützt diese Einschätzung: Die letzte „Wozzeck“-Vorstellung an der Wiener Staatsoper gab es 2014. Es gab seit der Wiedereröffnung des Hauses zwei Neuinszenierungen und keine hundert Vorstellungen insgesamt – in 67 Jahren! Aber beide Produktionen, die von Oscar Fritz Schuh und Ausstatter Caspar Neher (1955) beziehungsweise die spätere von Adolf Dresen und Herbert Kaplmüller (1987) haben sich weitgehend an die Partitur gehalten. Man könnte sie heute noch spielen und auch einem dem Berg’schen Opernschaffen ganz „naiv“ gegenüberstehenden Publikum dieses unglaublich dichte und spannende Werk in einer exemplarischen Weise vermitteln. Die Neuproduktion, die an diesem Abend Premiere hatte, ist dazu nicht in der Lage.

Regisseur Simon Stone erklärt im Programmheft zur Aufführung (S. 17) wegen der knappen Szenenanweisungen sei die Thematik „grundsätzlich universell gehalten“. Diese Aussage verblüfft insofern, weil die knappen Szenenanweisungen die Schauplätze der Handlung überraschend präzise umreißen. Die Örtlichkeiten sind angeben, sogar Tageszeiten werden definiert. Berg hat in der Partitur notiert, wann sich der Vorhang zu schließen und zu öffnen habe. Er gibt Hinweise zum Bühnenverhalten seiner Figuren. Wer in der Partitur blättert, wird schnell den Eindruck gewinnen, dass Berg szenisch nichts dem Zufall überlassen wollte.

Vor diesem Hintergrund ist die Aussage von Simon Stone wahrscheinlich eine Schutzbehauptung. Meint er doch sinngemäß, es sei viel zu „einschränkend“ und zu „verengt gedacht“, würde er sich an die Partitur halten.* Stone hat sein Konzept und drückt es durch. Er sorgt durch die Drehbühne für viel Bewegung, er müllt die Zwischenspiele mit Bildern zu, er defokussiert und dekonstruiert Bergs brillante szenische und musikalische Ökonomie. Stones verortet die „Wozzeck“-Handlung in einem modernen Wien – ich befürchte, dass Stone vom gegenwärtigen Wien ziemlich wenig Ahnung hat.

Dass es auch heutzutage arme Leute gibt und Frauenmorde, wer wird das leugnen. Es laufen genug gestörte Typen herum. Aber wenn Stone es mit der „Modernisierung“ schon so genau nimmt, dann sollte er wissen, dass in der U-Bahn Station „Simmering“ keine Obdachlosen schlafen. (Laut der Hausordnung der Wiener Linien ist das Sitzen oder Liegen auf dem Boden bzw. nicht dafür vorgesehenen Einrichtungen verboten.) Außerdem habe ich mich den ganzen Abend lang gefragt, wie Marie zu dieser großen und gut ausgestatteten „Drehbühnen“-Wohnung kommt: Wohnküche, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Badezimmer. Die angebliche Armut Mariens ist das große Mysterium dieser Neuproduktion, besitzt sie laut Libretto doch angeblich nur ein „Stückchen“ (!) von einem Spiegel. („Unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt und ein Stückchen Spiegel.“ 1. Szene, 2. Akt) Wozzeck wird mit seinen kleinen Jobs schwerlich soviel verdienen, um ihr diese Wohnung bezahlen zu können.

Dieser Wozzeck ist überhaupt ein armes Schwein – oder sollte man nicht eher schreiben: eine „graue Maus“. In einem durchgeknallten zweiten Akt muss er sich als plüschige Riesenmaus verkleiden. Die Szene im Wirtshausgarten gerät zu einem drehbühnenbewegten Faschingsumzug oder was auch immer. Die Handlung rutscht völlig aus dem Fokus, erst beim Auftauchen des Narren hinter hohen Grasbüscheln fängt sie sich wieder ein wenig ein. Wozzeck ist arbeitslos, Gelegenheits-Friseur, militärischen Hintergrund hat er keinen. Im zweiten Bild steht er in der Schlange vor dem Arbeitsamt und phantasiert apokalyptisch eingefärbte Wahnbilder.

Der gesungene Text spielt ohnehin keine Rolle mehr. Wieder klafften Libretto und Szene weit auseinander. Stöcke schneiden passiert nicht. Der Tambourmajor – ein Wiener Polizist – faselt etwas von einem Federbusch. Und überhaupt, die Blasmusik beim Würstelstand. Wann bekommt man heutzutage in Wien schon Blasmusik zu hören? Aber viel schlimmer steht es um die Moral. Wer macht sich hierzulande noch Gewissensbisse wegen eines unehelichen Kindes? Wenn „Wozzeck“ in Simmering spielt, dann hätte Stone auf Frauenschicksale in sogenannten Parallelgesellschaften verweisen können, aber in einem taufscheinchristlich (wenn überhaupt) geprägten (Unterschichten?)-Milieu ist das kein Thema und ziemlich unglaubwürdig. Dazu gesellt sich ein Doktor, der in einer modernen Klinik Darmspiegelungen vornimmt, sich mit seinen Aussagen aber auf dem Stand des medizinischen Wissens vor zweihundert Jahren bewegt. Je mehr man sich mit der Idee beschäftigt, um so absurder mutet das Ansinnen dieser Inszenierung an, den „Wozzeck“ in das Wien der Gegenwart zu verlegen.

In der Schlussszene dieser Neuproduktion treibt die Ignoranz des Regieteams gegenüber der Vorlage noch eine ganz besondere Blüte: Maries Knabe spielt mit einem Feuerwehrauto und singt dazu sein „Hopp Hopp“! Großes Rätselraten. Sollte man nicht eher ein „Tatü“ erwarten? Jedes Spielzeug-Plastikpferd oder – genderbewusst – sogar ein rosa Einhorn wären stimmiger gewesen. Laut Szenenanweisung sollte der Knabe den anderen Kindern außerdem naiv auf seinem Steckenpferd „nachreiten“. Die Tragik der Szene liegt genau darin, dass der kleine Bub nicht kapiert, was mit seiner Mutter passiert ist. Bei Stone geht er am Schluss Emotionen heischend auf das Publikum zu. (Der Knabe war in dieser Produktion ein Volksschulkind und zu alt.)

Immerhin passte in dieser finalen Szene der bereits angesprochene Fokus einigermaßen. Im Fitnessstudio war ohnehin zu wenig Platz, um Wozzeck wie ein Rasiermesser dahineilen zulassen. (Das Bild sollte eigentlich auf offener Straße spielen.) In der Garderobe des Fitnessstudios sieht man Männer beim Umziehen und nackt – ein weiterer nichtssagender optischer Füller, wie die kopulierenden Paare als unnötige Illustration von Wozzecks-Wahnvorstellungen oder die umständliche Bergung von Wozzecks Leiche vor dem Schlussbild, die zum Schnürboden hochgezogen (!) wird und dann über der Bühne baumelt. (Maries Leiche wird von Wozzeck in einem Kanal entsorgt, Wozzeck muss dazu einen Kanaldeckel beiseite schaffen. Er wird sich selbst in diesem Kanal „versenken“. Erweckte der Ablauf den Anschein, als würde Wozzeck Selbstmord begehen?)

Was die Besetzung betrifft – und das ist einer der wenigen Vorzüge des Alters – konnte ich schon zwingendere „Wozzeck“-Vorstellungen an der Wiener Staatsoper genießen. Walter Berry und Franz Grundheber haben diese Rolle in Wien einst geprägt. Als Kontrastprogramm gab Simon Keenlyside die Figur mehr als neurotisch fixierte Patientenakte, denn als bodenständigen, einfachen Kerl, dem es immer wieder mal so komisch „hochkommt“. Aber was ist Christian Gerhaher? Ich befürchte, vor allem ein arbeitsloser Gelegenheits-Friseur, den es mit manieristischer Textdeutlichkeit umtreibt, und dem es auch die Inszenierung nicht ermöglichte, mehr Bodenständigkeit zu entwickeln. Seine eher helle, nicht allzu kräftige Stimme riss keine seelischen Abgründe auf. Da klang nichts „hohl“, wenn Wozzeck im zweiten Bild des ersten Aktes seinem Wahn freien Lauf lässt. Die ganze Szene verpuffte, noch dazu in diesem seltsamen Bühnenarrangement. Gerhahers Wozzeck blieb in Spiel und Gesang ein wenig untergewichtig, eine gescheiterte Exsistenz ohne expressionistischer Überformung.

Anja Kampe hatte es als Marie etwas leichter, sie darf den Polizisten alias Tambourmajor immerhin ins Gemächt rempeln. Kampe bringt immer viel Emotionalität auf die Bühne, und ihre Marie atmete jene aus Gewissensbissen gespeiste Verletzlichkeit, die den Blick des Publikums für das menschliches Elend schärft. Mehr Sopranpower hätte ihr aber nicht geschadet. Am besten im Sinne der Staatsopern-„Wozzeck“-Rezeption hat sich wahrscheinlich der Hauptmann von Jörg Schneider profiliert. Schneider hat das Gefühl für den abgrundtiefen Büchner’schen Humor, den Berg musikalisch so gut eingefangen hat, den diese Produktion aber auf Kosten oberflächlicher Optik sträflich vernachlässigt. Der Doktor von Dmitry Belosselskiy war mir eine Spur zu gemütlich, zu wenig abgefeimt und unpointiert. Andres war mit Josh Lovell etwas nüchtern besetzt, Margret wurde von Christina Bock beigesteuert und wirkte auf mich etwas gekünstelt. Thomas Ebenstein war der Narr, dessen Auftritt man viel effektvoller hätte gestalten können. Erst mit dem Narren tritt das Irrationale ins Bewusstsein Wozzecks und des Publikums! Aber diese Chance hatte Stone zu diesem Zeitpunkt bereits verspielt. Der Polizist alias Tambourmajor gesungen von Sean Panikkar reichte mit zu „zahmem“ Tenor stimmlich an Rollenvorbilder nicht heran.

Das Orchester unter Philippe Jordan war auf der sinnlichen Seite unterwegs, was einen mehr „symphonischen“ Gesamteindruck ergab. Aber die Pointensetzung hätte etwas rigider ausfallen können, zu nüchternem „musikologischem Sezieren“ neigte das Spiel dankenswerter Weise nicht. Manches solistische Detail entzückte. Jordan ist ein Dirigent, der um die klanglichen Qualitäten des Orchesters weiß, auch bei einem „Wozzeck“ – und das verlieh diesem, aus meiner Sicht szenisch schwer misslungenen Abend zumindest im Orchestergraben eine gewisse Nachhaltigkeit. Es gab langen Schlussapplaus (über zehn Minuten). Für das Regieteam gab es ein paar Buhrufe.

* Konkret bezieht sich Stone auf den militärischen Hintergrund der Handlung. Das ganze Zitat lautet: „Aus diesem Grund finde ich es auch schade, wenn man die Handlung in der vorgeschlagenen, rein militärischen Umgebung beließe. Es wäre viel zu einschränkend und verengt gedacht, all die hier geschilderten Repressionen, Brutalitäten, Missbräuche, Sadismen in die Grenzen eines vergangenen, rein soldatischen Biotops einzuzwängen.“ (Programmheft der Wiener Staatsoper zur Neuproduktion, S. 17.)