LULU

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Premiere
Wiener Staatsoper
12.2.2000


Dirigent: Michael Boder

Inszenierung: Willy Decker
Bühnenbild und Kostüme: Wolfgang Gussmann

Lulu - Anat Efraty
Gräfin Geschwitz - Graciela Araya
Dr. Schön/Jack - Franz Grundheber
Alwa, sein Sohn - Jorma Silvasti
Tierbändiger/Athlet - Wolfgang Bankl
Schigolch - Rudolf Mazzola
Gymnasiast - Katalin Halmai

Maler - Torsten Kerl
Theater-Garderobiere -Regina Mauel
Medizinalrat - Klaus Ofczarek
Prinz/Kammerdiener - Benedikt Kobel
Theaterdirektor - Alfred Sramek


Von der uneinlösbaren Macht des Mythos
(Dominik Troger)

"Frank Wedekind nannte seine Lulu-Tragödie ein Lesedrama." Mit diesem Zitat beginnt Willy Decker seine Anmerkungen zu dieser, seiner Lulu-Inszenierung (nachzulesen im Programmheft der Wiener Staatsoper) - und er fährt fort: "Diese Bezeichnung weist auf einen Grundwiderspruch, ein Grundproblem jeder Lulu-Aufführung: die Tatsache des Widerspruchs zwischen der Ungreifbarkeit, der Unergründbarkeit und der Irrealität der Lulu-Figur und der Notwendigkeit, diese Figur von einem realen Menschen aus Fleisch und Blut darstellen zu lassen."
Als "ewige Verkörperung von Lust" entschwindet Lulu also ins mythische "Übermenschliche" und will doch ganz "real" auf die Bühne gestellt und gesungen werden. Und damit ist wahrscheinlich der Angelpunkt jeder Lulu-Aufführung angesprochen - und gleichzeitig auch angedeutet, dass eine Lösung dieses Widerspruchs nicht möglich ist.

Das Problem ist eben ein grundsätzliches und beginnt bei der Figur der Lulu, die kindhaft erotisch-naiv und zugleich durchtrieben die männlichen Vorstellungen von Weiblichkeit objektiviert - so, wie sie sich in der Dekadenz des zu Ende gehenden Fin de siecle subsummiert haben. Man könnte die "Lulu" ja fast als "Zeitstück" abtun, dass seine Schuldigkeit längst getan hat - wäre da nicht Bergs traumhaft sichere Musik, die den Mythos zu einem packenden Konversationsstück transformiert, das neben dem Freud und Leid der Lust auch so viel Action bietet wie ein Kriminalroman. Aber der Mythos? Wenn es gelänge den oben angesprochenen Mythos aller männlichen Weiblichkeitsfantasien auf die Bühne zu bringen, dann müsste das schon ein verdammter Glücksfall sein. Decker verließ sich also doch auch lieber auf die Action, das heißt, er sorgte für stete Bewegung und gute Personenregie, für laszive Gesten, die nie unter die Gürtellinie abrutschten und für eine wohlaufgeräumte Einheitsbühne, die zusätzlich wenige erotische Anreize bot. Nur das rote "Kuss"-Sofa, den geschwungenen Lippen eines Mundes nachgeformt, hätte als Ausstattungsstück auch in einschlägigen Etablissements seine Verehrer gefunden.
Ja es scheint fast, als hätte sich Decker mit dem "Bestmöglichen" bescheiden zufrieden gegeben: einer sehr zahmen Lulu, von der man nicht weiß, warum sich die Männer ihretwegen umbringen, die aber andererseits viel Platz und Raum lässt, um die Konflikte der Personen und die symphonischen Ausbrüche der Bergschen Musik zur Geltung kommen zu lassen. Das Resultat dieser "Bescheidenheit" war dann ein durchaus spannender Opernabend, geprägt von leidenschaftlichen Konversationen über das Lieben und Leiden, der mit fortschreitender Handlung immer mehr an Konturen gewann - und unter dem Messer von Jack the Ripper sein packendes Ende fand. (Gespielt wurde die zweiaktige Fassung mit der Schlusszene des dritten Aktes als Epilog.)

Aus obigem lässt sich schon ableiten, dass dieser Abend weniger den Sängerpersönlichkeiten als viel mehr der Ensembleleistung gehörte. Und beim "Wettbewerb" der Kollektive hatte diesmal das Orchester die Nase vorn. Michael Boder sorgte von den Orchestermusikern klangvoll unterstützt für einen symphonisch aufbereiteten Alban Berg, der in dieser Aufmachung geradezu "klassisch" wirkte. Aus dem Orchestergraben kamen die eigentlichen Impulse, dort lohnte es sich, nach einem Substrat jenes oben beschwörten Mythos zu suchen - nach einem archaischen triebhaften Urgrund menschlichen Seins, dass sich dann schicksalshaft in der Bühnenhandlung manifestiert. Das Sängerensemble hatte es da schwerer, mitzuhalten. Während es an stimmlicher Präsenz nicht ermangelte, war die schauspielerische Überzeugungskraft schon härter erkämpft. Aber wie wollte man zum Beispiel die Leistung einer Lulu auch wirklich bemessen, die etwas zu sein hat, was sie eigentlich nicht sein kann?
So bleibt am Schluss nur anzumerken, dass sich die Lulu längst einen Stammplatz im Repertoire verdient hätte, wie eine Elektra oder ein Rosenkavalier - und vielleicht ist mit dieser erfolgreichen Neuinszenierung jetzt der entscheidende Schritt gelungen.

"Arena der Begehrlichkeit" titelte Ljubisa Tosic im "Standard" vom 14.2. und resümiert: "Schlussendlich jedoch ereignete sich an diesem Abend das seltene Wunder einer ungeteilten Zustimmung, die einmal auch den wohl erleichterten Regisseur nicht ausklammerte. War alles vielleicht doch etwas zu brav und solide?"

In der Nachkritik der "Kronen Zeitung" vom 13.12. notiert Karlheinz Roschitz : "Eine Zirkusmanege mit schwarzen Fauteuils, einer roten Sitzbank, Porträts Lulus... Decker und Bühnenbildner Gussmann verdichten das Geschehen zu einer Folge von Kampfszenen, in denen die Figuren wie in einem Mahlstrom ihrem Untergang entgegentreiben. ... Überraschung des Abends ist die junge Anat Efraty, die das 'wilde schöne Tier ohne Seele' als Geschöpf voller Ungreifbarkeit und Unergründlichkeit zu gestalten versucht."

In der Nachtkritik vom "Kurier" am 13.2. befand Franz Endler: "So viel Zustimmung erreicht Alban Berg in den letzten Jahren immer: Auch diesmal jubelte das Publikum nach Lulu in der Wiener Staatsoper den Interpreten zu und meinte ohne Zweifel auch das Werk."

"Decker betont in dem Wedekind-Stoff vor allem den Kampf der Geschlechter, und so ist der Austragungsort folgerichtig in einer Arena angesiedelt, die zum Zuschauerraum hin offen ist." beschreibt H. G. Pribil in der "Wiener Zeitung" vom 14.2.00. Viel Lob gibt es von ihm auch für die musikalische Umsetzung: "Boder betont immer wieder auch die Süße dieser Meisterpartitur, bleibt aber andererseits auch der Expressivität und schneidenden Schärfe nichts schuldig, lässt die Musik messerscharf in das Bewusstsein eindringen. ... Mit der Titelpartie hat sich Anat Efraty auf ein sehr großes Wagnis eingelassen - und gewonnen. Mit halsbrecherischer Bravour stürzt sie sich in das stimmliche Abenteuer dieser mörderischen Partie und bleibt ihr nichts an Intensität schuldig."

In den "Oberösterreichischen Nachrichten" vom 14.2. schreibt Walter Beyer: "Anders als Boulez und Maazel, welche die von Friedrich Cerha vollendete dreiaktige Fassung gewählt haben, entschied man sich diesmal für die vollendet-unvollendete zweiaktige Version mit dem Tode Lulus, was sich dramaturgisch als absolut richtig erwies." Beyer ist mit der Inszenierung vollauf zufrieden. Auch Anat Efraty hat überzeugt: "Wie sie zwischen Kindlichkeit und Laszivität balanzierend mit den enormen Schwierigkeiten dieser Partie zurecht kommt verdient Hochachtung. ... Rollendeckend und stimmlich erstklassig wie immer Franz Grundheber als Dr. Schön. Ein Sonderlob dem Tierbändiger und Athlet von Wolfgang Bankl."

Im Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung" befand Micahel Struck-Schloen, dass es sich bei dieser Art von "zweiaktigem Torso" um ein Auslaufmodell handelt: "So wirkte die Wiener Version nicht wie ein inszeniertes Fragment, sondern wie eine rückamputierte Regie, die hinter den Stand der Lulu-Rezeption (...) zurückfällt". Viel Lob für Anat Efraty "eine Lulu der Sonderklasse" und Michael Boder: "Und sicher war es der sehnsüchtige, verführerische Streicherklang der Philharmoniker, dieses stete Changieren zwischen zwölftöniger Schärfe und boudoirhaft-romantischem Parfüm, was dem Wiener Alban Berg für sein letztes großes Werk vorgeschwebt haben muss".