LULU

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Museumsquartier Halle E
27. Mai 2023
Premiere
Projekt der Wiener Festwochen und Musiktheater an der Wien, in Zusammenarbeit mit P.O.R.K.(Lissabon)

Musikalische Leitung : Maxime Pascal

Regie, Choreographie, Kostüm: Marlene Monteiro Freitas
Bühne: Yannick Fouassier, Marlene Monteiro Freitas
Mitarbeit Regie, Choerographie, Kostüm: Andreas Merk, Hain-Yi Hsiang
Licht: Yannick Fouassier

ORF Radio-Symphonieorchester Wien


Lulu - Vera-Lotte Boecker
Gräfin Geschwitz - Anne Sofie von Otter
Dr. Schön/Jack the Ripper - Bo Skovhus
Alwa, sein Sohn - Edgaras Montvidas
Schigolch, ein Greis - Kurt Rydl
Theatergarderobiere/Gymnasiast - Katrin Wundsam
Maler - Cameron Becker
Tierbändiger/Athlet - Martin Summer
Prinz/Kammerdiener - Paul Kaufmann
Theaterdirektor - Andreas Jankowitsch
Medizinalrat - Franz Tscherne


Lulu bei den Wiener Festwochen
(Dominik Troger)

Die Wiener Festwochen haben sich in Kooperation mit dem Musiktheater an der Wien Alban Bergs „Lulu“ vorgenommen. Eine gute Besetzung wurde mit einer opernunerfahrenen Regisseurin zusammengespannt, die aus der Tanz- und Performanceszene kommt.

2010 hat man für eine Festwochen-„Lulu“ noch Peter Stein als Regisseur und Daniele Gatti am Pult aufgeboten. Gespielt wurde die von Friedrich Cerha vervollständigte dreiaktige Fassung. Aber damals hielt noch Luc Bondy die künstlerischen Fäden der Wiener Festwochen in der Hand. Nach Bondys Abgang und einem kurzen Intermezzo von Markus Hinterhäuser begann die rasante künstlerische und kommerzielle Talfahrt des Festivals, verbunden mit einer radikalen Abkehr vom klassischen Musiktheater – und die COVID-Krise war auch nicht dazu angetan, das festgefahrene Festivalschiff wieder flott zu machen.

Immerhin sind die Wiener Festwochen über Jahrzehnte ein Theater- und Musik-Festival von internationaler Bedeutung gewesen. Keine zwanzig Jahre ist es zum Beispiel her, dass Pierre Boulez und Patrice Chéreau bei den Festwochen zu Gast waren. Beide Namen sind untrennbar mit der Werkgeschichte von Alban Bergs „Lulu“ verbunden, haben sie doch 1979 die von Friedrich Cerha komplettierte dreiaktige Fassung in Paris erstmals zur Aufführung gebracht. Im Booklet der Gesamtaufnahme, die im Zuge dieser Produktion eingespielt wurde, wird Pierre Boulez mit dem Satz zitiert: „Der dritte Akt existiert jetzt nicht mehr als Mythos, er ist Realität geworden, und in dieser vollständigen Fassung wird man Lulu künftig spielen müssen.“ Aber Boulez war zu optimistisch: Die Reiz des Fragmentarischen ist zu groß, zieht Regisseure und Dramaturgen an wie Motten das Licht.

Die „Lulu“-Neuproduktion der Wiener Festwochen ist konsequenter Weise eine Fest für alle Liebhaber des „Unfertigen“. Es werden nur die ersten beiden Akte gespielt, anstelle des dritten Aktes werden zwei Sätze der „Lulu“-Suite gegeben. Die Inszenierung tut ihr Möglichstes, die Handlung zu verfremden, setzt auf ein zeremonielles „Bewegungstheater“, bei dem zusätzlich zur Besetzung noch Performancekünstler mitwirken. Regisseurin Marlene Monteiro Freitas ist es nur in einem sehr weiten Sinne darum gegangen, die „Lulu“-Geschichte auf die Bühne zu stellen: „Sie fügt vielmehr mit ihren acht Performer*innen den beiden Vektoren Partitur und Libretto einen dritten Vektor hinzu, der manchmal mit der Musik, manchmal mit der Story verschmilzt, aber auch seine eigenen Wege geht.“ (Zitat Programmheft zur Aufführung) Monteiro macht sich auf die Suche nach „allegorischen Bildern“, die das Werk „verdichten“ sollen, ohne sich dabei viel um die Figuren selbst zu kümmern, sowie um die diesbezüglich klaren Hinweise im Libretto und in der Musik.

Aber wird nicht Lulu schon im Stück selbst „allegorisiert“, wenn sie im ersten Bild als Pierrot dem Maler Modell sitzt? Doch diese auch für das Publikum nachvollziehbare Ebene hat Freitas augenscheinlich nicht interessiert. Im Gegenteil: Sie hat Lulu enterotisiert. Weiße Bluse, schwarze Hose verströmten eine businessmäßige Förmlichkeit, die der Figur aller anrüchigen sexuellen Avancen beraubte. Sie hat die Handlung mehr auf ein von zeremoniellen Regeln geprägtes, fast rituelles Ringen von „Kunstfiguren“ hingebogen, ohne sich auf deren sehr menschlichen Wünsche und Sehnsüchte einzulassen.

Ihre Grundidee war vielleicht, die „Story“ mit einem „Tennismatch“ zu vergleichen: deshalb die blauen Sportschuhe und weißen T-Shirts, die Handtücher, die Sportbänke, links die drei (Sportreporter-)plätze mit Mikrofon, der Dirigent auf einer Art Schiedsrichterturm, das Orchester auf einer Plattform im „ersten Stock“ des Bühnenhintergrundes als „Publikum“, davor zu ebener Erde die nahezu leergeräumte „Spielfläche“, auf der sich das Bühnenpersonal zu undefinierbaren zeremoniell und träge abgehandelten Bewegungsabläufen und „Bildern“ gruppierte: mal werden Karotten gegessen, mal wird mit Besen gefegt, Lulu fotografiert wie eine Reporterin den toten Medizinalrat aus verschiedenen Blickwinkeln, eine Akrobatin bewegt sich artistisch über die Bühne, Protagonisten spielen Blinde mit um den Kopf gewickelten Tüchern, am „nachvollziehbarsten“ noch die kabarettartige Einlage mit den blauen Handschuhen zum Varietébild.

Das Finale mit den Teilen der „Lulu“-Suite wurde durch Lulu mit Maske bebildert und einen sie begleitenden, schwarz gekleideten Mann, der sie bedeutungsschwanger sehr, sehr, sehr, sehr langsam an die Rampe führt. Zugegeben, das zähe Treiben der Performancekünstler hat man schnell aus der Wahrnehmung ausgeblendet, in den toten Winkel der eigenen Aufmerksamkeit verbannt: Die Sänger vermochten aus sich heraus genug zu fesseln, durch die stupiden szenischen Vorgaben in eine semikonzertante Aufführungssituation gedrängt.

Das Ensemble um Vera-Lotte Boecker als Lulu war zum Glück sehr rege. Es hat mit Erfahrung und Professionalität den Abend gerettet, ja sogar für eine Reihe spannender Szenen gesorgt – trotz akustisch nach wie vor nicht idealer Audio-Verstärkung in der Halle E des Museumsquartiers, die viele Nuancen „verschluckt“. Die Lulu der Vera-Lotte Boecker war eine starke Frau, gebaut auf einem festen, in der Höhe metallischen Sopran, eine gestrenge Lulu, ohne laszivem, kapriziösem Verführungscharme und nicht unbedingt Projektionsfläche männlicher Erotikphantasien. Sie brachte eine starke Persönlichkeit ins Spiel, mehr Dompteuse als „graziöseste Luftgymnastikerin der Jetztzeit“.

Bo Skovhus (Dr. Schön) war anzumerken, dass er trotz der Rahmenbedingungen gewillt war, aus der Partie herauszuholen, was nur möglich ist – von Lulu geschürtes Testosteron in Reinform. In der Szene mit dem Maler (Cameron Becker) ging es dann richtig zur Sache, Becker ebenfalls mit einer starken gesanglichen und emotional Beteiligung. Auch wenn Kurt Rydl (Schigolch) auf der Bühne stand, konnte sich das Publikum der Illusion hingeben, einer Operaufführung beizuwohnen und keiner schwachbrüstigen „Performance“. Schade, dass sich der Sänger dem Wiener Publikum gerade in dieser Produktion als hinterlistig abgründiger Schigolch vorstellen musste, den eine altersbedingte Sehnsucht nach gemütlichem Auskommen und erotischen Erinnerungen immer wieder in Lulus Dunstkreis treibt.

Nicht ganz so effizient in der Ausformulierung des Bergschen Expressionismus zeigte sich Edgaras Montvidas als Alva. Anne Sofie von Otter, als von der Regie recht „graumausig“ angelegte Geschwitz, hatte stimmlich der Partie da und dort ein wenig Tribut zu zollen. Die Nebenrollen rundeten das Bild, hätten insgesamt eines szenisch pointierteren Zuschnitts bedurft. Auch am Kostüm waren ihre Charaktere nicht abzulesen, alle irgendwie austauschbar gekleidet; schwarze Hose, weiße Hemden oder Shirts, mit oder ohne schwarzem Sakko. Darunter hat der Gesamteindruck schwer gelitten: Sind der Tierbändiger/Athlet (Martin Stummer), der frühreife Gymnasiast (Katrin Wundsam), der Prinz (Paul Kaufmann) oder der Theaterdirektor (Andreas Jankowitsch) doch wichtige Mosaiksteinchen, um das erotische Panoptikum jeder „Lulu“-Aufführung entsprechend auszukleiden.

Akustisch alles andere als optimal: die Positionierung des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien hoch im Bühnenhintergrund mit leicht verschwommen Klang, der Details wenig förderlich war. Vom musikalischen Leiter Maxime Pascal war das Orchester auf eine unerotische, staubtrockene „Moderne“ getrimmt worden, mit zupackendem Zugriff, ohne Hang zu erotisch-romantischen „Reminiszenzen“. Der Schlussapplaus dauerte knappe fünf Minuten lang, dann zog es das Publikum vor, rasch die Halle zu verlassen. Das Ensemble erhielt viel Applaus, ein paar pflichtbewusste, nicht sehr durchsetzungsstarke Buhrufe galten dem Regieteam.