LULU

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Theater an der Wien
11.6.2010
Premiere

Dirigent: Daniele Gatti

Inszenierung: Peter Stein
Wiederaufnahme: Jean-Romain Vesperini
Bühne: Ferdinand Wögerbauer
Kostüme
: Moidele Bickel
Licht: Duane Schuler


Mahler Chamber Orchestra

Koproduktion: Opéra de Lyon, Mailänder Scala,
Wiener Festwochen

Lulu - Laura Aikin
Gräfin Geschwitz / Theater-Garderobiere -
Natascha Petrinsky
Dr. Schön/Jack - Stephen West
Alwa, sein Sohn - Thomas Piffka
Tierbändiger/Athlet - Rudolf Rosen
Schigolch - Franz Mazura
Gymnasiast - Magdalena Anna Hofmann
Maler/Ein Neger - Roman Sadnik
Prinz / Kammerdiener - Robert Wörle
Theaterdirektor/Bankier - Johann-Werner Prein
u.a.


Gesellschaftstück mit Musik
(Dominik Troger)

Alban Bergs „Lulu“ galt die zweite Opernproduktion der Wiener Festwochen – in Kooperation mit der Opéra de Lyon und der Mailänder Scala. Gespielt wird die dreiaktige, von Friedrich Cerha endgefertige Fassung: ein Abend, den man sich nicht entgehen lassen sollte.

Gewiss, vier Stunden (inklusive zweier längerer Pausen) könnten einem lang werden – aber genau das passierte am Premierenabend nicht. Im nicht ganz ausverkauften Theater an der Wien entwickelte sich ein Abend gediegenen Musiktheaters. Als Zuseher wurde man von Peter Steins Inszenierung (Wiederaufnahme für die Wiener Festwochen: Jean-Romain Vesperini) gleichsam an der Hand genommen und höchst „seriös“ durch das Stück geführt.

Stein hat die Handlung in die 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts verlegt, er hält sich an die im Libretto vorgeschriebenen Szenenwechsel. Die Bühnenbauten (Ferdinand Wögerbauer) halten sich zum Teil recht eng an die Szenenanweisungen, Lulus Ölgemälde fädelt sich als symbolischer Ariadnefaden optisch durch den Abend. Die Kostüme sind nicht ohne Raffinement, vor allem was Lulu betrifft. Die Gesellschaft im Pariser Hotel war etwas „schräg“ ausstaffiert, aber durchaus passend.

Steins Regie verzichtet auf alle Mätzchen, die heute so gerne „als modern“ verkauft werden. Er konzentriert sich auf die Charaktere, auf den Text und auf die Musik – und das wird von den Sängern mit großer Genauigkeit umgesetzt. Der Abend hat viel mit Schauspiel im besten Sinne zu tun, mit einem Vertrauen in die Wirkungskraft und künstlerische Kompetenz der Vorlage, bei der es genügt, mit kundiger Hand gleichsam nur die Hülle abzustreifen, um sie auf dem Theater zu neuem Leben zu erwecken.

Steins Bühnensprache ist – in Anbetracht dessen, was man landauf, landab immer öfter vorgesetzt bekommt – von einer wohltuenden Gelassenheit. Keine Sekunde lang ahnt man den dozierenden Zeigefinder, erstickt ein ideologisches Korsett den künstlerischen Freiraum der Figuren. Er inszeniert „aus dem Stück heraus“, er arrangiert die Vielschichtigkeit der Personen und der Handlungsfäden und belässt dabei den Figuren ihre Autonomie. So drängt er Lulu beispielsweise weder in die Richtung eines kindlichen Sex-Objektes noch streicht er bei ihr die Opferrolle überdeutlich heraus. Lulu entwickelt Persönlichkeit und Initiative, der allerdings Grenzen gesetzt sind – aber diese Grenzen liegen nicht nur außerhalb von ihr. Mag sein, dass er das „Grelle“ der Handlung etwas weniger betont hat, dass er sich auch um gewisse mythische Relationen weniger bekümmert (Lulu als weiblicher Don Juan). Steins „Lulu“ „liest“ sich wie ein Klassiker des Gesellschaftsstücks, eine künstlerisch leicht überhöhte Spielart von Ibsen oder Strindberg, in der Gesamtschau – wenn man an die erschütternde Schlusszene denkt – aber nicht minder radikal.

Was der Abend noch lehrte: wie wichtig es ist, dass der dritte Akt in der von Friedrich Cerha hergestellten Gesamtheit aufgeführt wird. Es entsteht dadurch ein viel geschlossenerer Eindruck, der dem Stück insgesamt zu Gute kommt, die Charaktere der Figuren weiter schärft und den Handlungsfaden sinnvoll zu Ende spinnt.

Auch wenn in dieser Produktion das darstellerische Element vor dem musikalischen Priorität erlangt, das Ensemble agierte sehr homogen und ohne auffallende Schwachpunkte. Danele Gatti sorgte mit dem Mahler Chamber Orchestra für eine sehr „mahlerische“ Umsetzung – vor allem bei den Zwischenspielen konnte man diesen „historischen“ Bezug stark heraushören. Gatti gelang es zudem, die Komplexität von Bergs musikalischer Sprache zu vermitteln, ohne dabei aber das „Bühnendrama“ aus den Augen zu verlieren. Dass sich dabei sowohl Gatti als auch das Mahler Chamber Orchetra einer eher trockeneren Klangsprache bedienen würden, war zu erwarten gewesen.

Laura Aikin erfüllte als „Lulu“ keine Klischees – und schon das war sehr wohltuend, weil diese Figur dadurch viel mehr als Mensch in den Mittelpunkt rückte. Diese Lulu löst sich gleichsam vom Poster des Pinup-Girls – und drängt nach Personifizierung. Die finalen Überlegungen der Geschwitz, nach Deutschland zurückzukehren und Rechtswissenschaften zu studieren, um sich der Frauenfrage zu widmen, werden dadurch direkt angesprochen und viel deutlicher manifest. Man mag an Aikin stimmlich das kindlich-erotische vermisst haben, das Timbre ist eher fest und kaum aufblühend. Es passt zu einer Frau, die früh gelernt hat, zu überleben, die ihrer Sinnlichkeit auch ein gehöriges Maß an Unverfrorenheit beizumischen im Stande ist, um ihre Existenz zu sichern. Vielleicht war deshalb gerade das letzte Bild so beeindruckend, weil hier diese Kühle plötzlich aufschmolz, weil man spürte, wie sehr Lulu sich demütigt, um Geld anzuschaffen, wie sie den letzten Rest an Selbstachtung aufopfert, um zu überleben. Hier sind ihr die Fäden endgültig aus der Hand geglitten und Alwa, Schigolch, Geschwitz erinnern an Parasiten, die an Lulu nicht nur ihre Eigenliebe, sondern auch ihren Magen mästen wollen.

Nun, die Geschwitz könnte man sagen, hätte noch am ehesten Anspruch darauf, an Lulus wirtschaftlichem Erfolg zu partizipieren. Auch bei der Zeichnung dieser Figur hat Stein Maß bewahrt und den Menschen gesucht. Geschwitz zeigt sich in dieser Produktion einfach nur als liebender Mensch. Ihre Liebe zu Lulu dient nicht zur Thematisierung von sozialen Spannungsverhältnissen – sie erscheint in ihrer Liebe und Hingabe ganz natürlich, um nichts befremdlicher als Alwas Anhimmelungen oder Schigolchs Erinnerungen. Natascha Petrinksy steuerte als Geschwitz einen nicht sehr vollen, eher nüchtern und in der Höhe schon ein bisschen enger klingenden Mezzo bei, der mehr den intellektuellen Anspruch der Figur betonte.

Thomas Piffka sang einen auch zu tenoralen Kraftausbrüchen fähigen Alwa – der bei aller Expressivität fast immer die stimmliche Ausgewogenheit wahren konnte. Sein Vater, Stephen West, überzeugte mich mehr als Jack the Ripper denn als Dr. Schön. Da fehlte es meiner Meinung nach etwas an Prägnanz und narzistischem Darstellungswillen. Allerdings war das Orchester im Verhältnis zu den Singstimmen wohl insgesamt eine Spur zu dominierend.

Franz Mazura, 1979 bei der Uraufführung der dreiaktigen Version in Paris noch Dr. Schön, zeigte sich jetzt zum Schigolch gereift. Über Schigolch weiß man bekanntlich nichts Genaues, sein Verhältnis zu Lulu ist von eindeutiger Uneindeutigkeit. Bei einem „asthmatischen Greis“ steht die sängerische Kompetenz nicht mehr so im Vordergrund. Es ist eine klassische Rolle für altgediente Sänger mit starker Bühnenpräsenz, schön, wenn dann auch die Stimme noch mithalten kann.

Rudolf Rosen (als intriganter Athlet u.a.), Robert Wörle (als stimmlich markanter Prinz u.a.), Roman Sadnik (Maler, u.a.) überzeugten ebenso an diesem sehr ausgewogenen, bis zum letzten Takt spannenden Abend.

Trotz der beiden Pausen (die erste Pause dauerte fast 40 (!) Minuten) hielt sich die Ausfallsrate beim Publikum in engeren Grenzen (allerdings waren schon vor Vorstellungsbeginn im Foyer viele Karten angeboten worden). Der Applaus war stark und anhaltend, Bravo-Rufe kamen nicht so üppig.