LA SONNAMBULA
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Wiener Staatsoper
19.10.2001 Premiere
27.10.2001

Musikalische Leitung: Stefano Ranzani

Inszenierung, Bühnenbild, Licht: Marco Arturo Marelli
Kostüme: Dagmar Niefind-Marelli
Choreinstudierung: Ernst Dunshirn

Graf Rodolfo - Egils Silins
Teresa - Nelly Boschkowa
Amina - Stefania Bonfadelli
Elvino - Juan Diego Flórez
Lisa - Simina Ivan
Alessio - Boaz Daniel
Ein Notar - Johann Reinprecht

Schlafwandelnd in den "Opernhimmel"
(Dominik Troger)

Premiere
Diesen Abend ging es einem wie in dem Grimm'schen Märchen vom süßen Brei. Die erste dreiviertel Stunde konnte man kaum genug bekommen von diesem melodramatischen Liebesgeflüster, aber dann schlug sich die Schleckerei doch auf den Magen. Dabei gibt's die richtigen Schokoladestückchen erst am Schluss. So löffelte man sich also durch, erfreute sich an dem prachtvollen Schöngesang von Stefania Bonfadelli (Amina) und Juan Diego Flórez (Elvino) und hoffte weiter umsonst auf eine musikalische und szenische Akzentsetzung.

Wahrscheinlich ist das überhaupt ein Grundproblem dieses Werks, dass es viel zu lange in gleicher Liebes-Lust-Schmerz-Gestimmtheit dahinfließt, durchbrochen von ein paar eingestreuten Opera-Buffa-Rosinen, die einen aber kaum mehr als ein Schmunzeln abringen. Bellini, in Abgeschiedenheit am Comer See verweilend, komponierte mit "La Sonnambula" eine Art von Sonettenkranz um das Thema Liebe, durchdrungen von lyrischer Schwermut. Und schwer ist es, ihm den ganzen langen Weg durch Liebesfreud und -klage nachzufolgen, noch schwerer, wie der Abend zeigte, ihr melancholisches Klagen in dramatischen Effekt umzupolen.

(Es passiert ja wirklich nicht viel: "Standesamtliche Hochzeit" zwischen Elvino und Amina wird gefeiert. Ein Fremder kommt als Gast, der Graf Rodolfo. In der anschließenden Nacht schlafwandelt Amina in das Zimmer Rodolfo's, der gerade dabei war, sich ein Schäferstündchen mit Lisa anzuzetteln. Der Graf bleibt gegenüber Amina standhaft, und verlässt das Zimmer - aber Amina wird schlafend in seinem Bett gefunden. Große Eifersucht beim Tenor, großes Liebesklagen beim Sopran. Elvino beschließt kurzfristig auf Lisa zu setzen. Aber deren sich anbahnendes Verhältnis mit dem Grafen wird aufgedeckt. Da schlafwandelt Amina vor versammelter Gesellschaft zum Glück ein zweites Mal, um alle Zweifel an ihrer Unschuld wegzuwischen. Glückliches Finale!)

Aber das mit dem "Schöngesang" aus dem ersten Absatz ist ganz und gar ernst gemeint. Juan Diego Flórez ist ein Glücksfall für die an interessanten und guten Stimmen ausgedörrten Opernbühnen. Er ist jung, schaut gut aus und hat einen beneidenswerten lyrischen Tenor, der auch Ausflüge in Bellini'sche Höhen mit Bravour besteht. Seine Stimme ist in melodiösen Schmelz gefasst und hat dieses schwermütige Nachklingen, das - weil wir ja schon bei lyrischen Vergleichen sind - einen an die Stimmung Lenau'scher Gedichte erinnert. Das passt wunderbar zur sensiblen Aura dieses Werkes, zu dieser Exkursion in eine romantische Seelenlandschaft, durch die ein paar Eifersuchtsgewitter ziehen. Und Stefania Bonfadelli steht ihm da um nichts nach, voll berührender Liebe und verinnerlichtem Somnambulismus, gefasst in eine herzerwärmende, koloraturerprobte Sopranstimme. So konnte man das Aussingen dieser emotionalen Mikroskala Bellini'scher Empfindungen in vollen Zügen genießen.

Ob unter dieser poetisch ausgemalten Oberfläche jedoch innere Bewegtheit brodelt, das blieb dahingestellt und setzte einen als Zuhörer in die fatale Situation, einerseits jeden Ton von Flórez und Bonfadelli einzusaugen wie ein Löschblatt jeden Wassertropfen begierig in sein Poren aufnimmt, andererseits aber mit einer vor allem im ersten Akt rapide fortschreitenden Langeweile zu kämpfen. Diese Empfindung war beinahe schizophren, hatte aber offenbar damit zu tun, dass sowohl Regie als auch die musikalische Leitung den Abend in dieser lyrischen Grundhaltung erstarren ließen, was einen auf Dauer mehr enervierte als dass es einem zu reger Anteilnahme verholfen hätte. Das Orchester enthielt sich unter der Stabführung von Stefano Ranzani derart jeglicher Akzentsetzung, dass es, beinahe "unsichtbar" geworden, nur mehr eine, zugegebenermaßen sehr schöne, dünnwandige Klangkulisse abgab - sicher keine falsche Strategie angesichts der sängerischen Prachtentfaltung, aber wohl mehr konzert- denn operngemäß.

Wirklich aufgelöst wird der ganze "Lyrizismus" auch von Bellini erst am Schluss des Werkes, wenn Amina in wiedergewonnener Liebesfreude taumelnd ein paar atemberaubende Koloraturen hinlegt (Stefania Bonfadelli hat sie gut getroffen). Dann wird diese Grundhaltung in einen dramatische Akzent überführt, der einem als Zuhörer wie ein Guss eiskalten Wassers ins Gesicht spritzt. Für diesen "Schlussauftritt" durfte Bonfadelli aus dem weißen Brautkleide oder Nachtgewand - je nachdem, ob sie gerade "sonnambulen" muss oder nicht - in ein prunkvolles rotes Samtkleid schlüpfen. Ein guter Gag, um den Abend mit dem ihm gebührenden Schwung zu beschließen.

Das Inszenierungskonzept von Marco Arturo Marelli erwies sich als ziemlich harmlos, wofür man heutzutage ja schon fast dankbar sein muss. Warum er das bieder-dörfliche Geschehen in ein Schweizer-Nobelsanatorium à la Thomas Mann's "Zauberberg" verlegt, ist nicht recht nachvollziehbar. "Diese Künstlichkeit soll der Inszenierung den Rahmen geben." - liest man im Programmheft (Seite 6). Nun, es gibt immerhin eine feudalgroße Sanatoriumshalle mit angegliederter Liegekur-Terrasse zu bestaunen. Das Ganze ist für das Auge schön anzuschauen - egal ob es jetzt wirklich Sinn macht oder nicht. In der ersten halben Stunde belebt das etwas exotische Ambiente auch die Szene. Der Chor mimt die tuberkulösen oder anderweitig erkrankten, jedenfalls noblen Gäste. Krankenschwestern verteilen dezent vor dem Festessen Medizin. Ja, so denkt man, das Ganze könnte auch ein geplanter "Event" für die Sanatoriumsgäste sein, damit denen zwischen Liegekur und Schwindsucht nicht ganz so langweilig ist. Mit fortlaufendem Abend verliert aber diese Idee an Stringenz. Gerade mal das umschlagende Wetter bringt noch ein wenig Leben in die Szenerie. Das Ende des ersten Aktes wird von dichtem Schneegestöber begleitet, das draußen von der Liegeterrasse in die unterkühlte Nacht hereinbläst. Ja, und während der Pause geht dann still und heimlich sogar eine Lawine ab, die man den ganzen zweiten Akt als sichtbar gewordenes Mahnmal der emotionalen Umwälzungen bewundern kann: eine von links in die Bühnenmitte vorleckende Schneezunge. Ein Klavier ist ihr zum Opfer gefallen. Stilleben verlorenen Liebesglücks.

Ein paar hübsche Pointen waren auszumachen - etwa im Buffo-Spiel zwischen dem Grafen (Egils Silins) und Lisa (Simina Ivan), wobei Lisa halbaktweise mit einem nackten Bein über die Bühne laufen muss, weil dieser eine Strumpf als Indiz für ihre Untreue gelten wird. Marelli versuchte es auch mit tiefenpsychologischen Ansätzen: Elvino leidet angeblich an einem Mutterkomplex, und deshalb steht auch die ganze Zeit eine schwarzumschleifte Fotografie seiner verstorbenen Mutter auf der Bühne herum. Jedenfalls ließ sich am Endprodukt die Intention Marelli's "ein psychologisch dichtes Drama zu entwerfen" (Programmheft, Seite 5) nur in Ansätzen nachvollziehen.

Der Applaus verteilte sich dementsprechend vor allem auf Flórez und Bonfadelli (beide mit heftigen Bravorufen, Blumen und Begeisterung) und auch auf Egils Silins, der seinen Grafen mit noblem Gesang und Spiel über die Bühne brachte. Die Lisa von Simina Ivan konnte nur an den technisch anspruchslosen Stellen ihres Parts überzeugen - das machte in Summe ein, zwei Buhs. Den Solovorhang von Stefano Ranzani überging das Publikum mit freundlichem Applaus. Beim Regieteam schieden sich zwar die Geister, die Bravorufer blieben allerdings deutlich in der Überzahl - und insoferne stimmte das Verhältnis.

Aufführung am 27.10.2001
Die dritte Aufführung dieser Neuinszenierung bot eine gute Gelegenheit, die Premiereneindrücke etwas abzurunden.

Als eindeutige Schwachstelle entpuppte sich das Orchester unter der Stabführung von Stefano Ranzani, dessen an und für sich begrüßenswerte dezente Orchesterbegleitung, leider auch den in den einzelnen Instrumentengruppen versteckten melodischen Reichtum der Bellini'schen Partitur verschluckt. Auch wenn Bellini vorzugsweise das Orchester als Gesangsbegleitung ausgelegt hat, so entlockt er ihm doch reizvolle Klangfarben, hüllt er die Sänger in ein zartes, manchmal auch mit aparten rhythmischen Mustern durchwirktes, betörendes Kleid. Eine Herausforderung, die offenbar erst gar nicht gesucht wurde. Denn welches Orchester hätte mehr die Fähigkeiten dazu, sich mit weichschmelzendem Streicherklang und romantischem Bläserton ganz den süffigen Melodien Bellini'scher Opernromantik auszuliefern?

Das Libretto hat seine dramaturgischen Schwächen, denen man als Zuhörer des 21. Jahrhunderts hilflos ausgeliefert ist. Das führt beispielsweise zu einem eklantanen Spannungsabfall im ersten Akt, sobald der Fremde Graf die Szene betritt, dem dann noch die Erzählung einer Gespenstergeschichte folgt. Diese Erzählung soll offenbar den Auftritt der schlafwandelnden Amina vorbereiten und das Publikum zusätzlich verwirren, hat aber (trotz der hübschen fast volksliedhaft-melodischen Ausgestaltung) in den 170 Jahren seit der Uraufführung nichts an Banalität eingebüßt.

Die Inszenierung erhält sich an und für sich diesen leicht ironischen Touch - (Ich hatte vergessen anzumerken, dass Amina ja zuerst als Stubenmädchen eingeführt wird.) - ohne aufdringlich zu wirken. Dazu gehören die behaarte Brust Egils Silins, der im luxuriösen Schlafrock sein erotisches Abenteuer mit Lisa sucht genauso, wie die weißen gestrickten Wolljäckchen der Krankenschwestern, die sich um die Sanatoriumsbesucher kümmern. Witzige Detailfülle kann man auch am Ende des ersten Aktes ausmachen, wenn die Gäste Amina aufstöbern und sich in liebevoll gestalteten Pyjamas und Nachtgewändern einfinden. Da gewinnt das Ganze dann schon die Züge einer Rossini'schen Burleske, so à la "Cenerentola".

Die Personenregie ist seicht, die Figur des Elvino mehr einfältig gezeichnet, denn sie scheint nur Eifersucht oder Liebesglut zu kennen. Juan Diego Flórez ist aber auch kein schauspielerisches Naturtalent. Dafür singt er hervorragend und hat noch alle Chancen, sich die unterschiedlichen emotionalen Skalen auch im Ausdruck zu verfeinern. Stefania Bonfadelli wirkt im Spiel professioneller, aber man hat bei ihr nicht wirklich den Eindruck, hier einer originären Primadonna zu begegnen. Aber das ist auch immer eine Frage des persönlichen Geschmacks.

"Der kluge Ansatz erstarrt im Schnee." befindet Gert Korentschnig im Kurier vom 21.10.01 über die Inszenierung. Was die Sänger betrifft so ist er voll des Lobes für Bonfadelli und Flórez. "Dank dieses Paares müssen wir erst gar nicht darüber diskutieren ob Bellinis Zuckerguss (in dem freilich mehr Qualität steckt als in zahlreichen anderen scheinbaren Belcanto-Banalitäten) noch genießbar ist." Kurzcharakterisik des Dirigenten: "Pathetisch."

"Triumph eines idealen Liebespaares" titelt Karlheinz Roschitz in der Kronen Zeitung (21.10.2001). "Stefania Bonfadelli gestaltet die extrem schwierige Partie nobel, verhalten, mit warm leuchtendem Timbre. Sie strahlt den Bellini'schen Zauber unschuldigen Verliebtseins aus." Beim Dirigenten lobt er den "geschmeidigen, ja süffigen Bellini Klang" und den "diskreten Ausdruck". Die Buhs für den Regisseur findet er "peinlich".

"Die seelischen Vorgänge, die das Drama vorantreiben, bleiben ausgespart." meint Wilhelm Sinkovicz in der Presse vom 22.10.01. "Schon das Dirigat Stefano Ranzanis tut nichts dazu, dem rhythmischen Fluß der Musik dramatische Nuancen abzugewinnen." befindet er. Und szenisch "verschenkt man die Chance, die stets zart knospenden, sinnlichen Botschaften von Bellinis Musik in ebenso behutsam entwickelte seelische Regungen umzumünzen." Was ihn letztlich zur grundsätzlichen Frage führt, warum man das Werk überhaupt spielt, wenn man es nicht adäquat umsetzen kann, weil auch Flórez und Bonfadelli trotz technisch sicherer Umsetzung "die Größe von Bellinis Gestaltungskunst nur erahnen lassen."

Für Peter Vujica im Standard (22.10.01) war eigentlich alles in Ordnung: "Es wurde größtenteils sehr schön gesungen und begleitet. Das hat dem Publikum zu Recht gefallen. Das Bühnenbild, ein altmodischer Speisesaal mit Panoramablick in die Schweizer Alpen, hat ebenfalls was hergemacht." Aber dann meint er doch, dass die Inszenierung mehr wie die "Abschlussarbeit eines Regiediplomanden" gewirkt hätte, was vom Publikum "gerecht mit kräftigen Buhs" benotet worden wäre. Die sängerische Leistung von Juan Diego Flórez inspirierte ihn zu folgendem Vergleich: "... sein fast automatenhaft sicher funktionierender Tenor hat etwas, das man als lyrisches Karma bezeichnen könnte. Bellinis Noten werden nicht reproduziert. Sie werden produziert. Substanziell erneuert, mit der Erfahrung des Unterbewussten angereichert."

"Musikalisch erreichte der Abend beachtliches Niveau: Da war Stefano Ranzoni am Pult genau der richtige Mann für Bellinis berühmte Kantilenen. Da wurde mit der 34-jährigen Veroneserin Stefania Bonfadelli , welche den Titelpart von der erkrankten Natalie Dessay übernommen hatte, sowie dem blutjungen peruanischen Tenor Juan Diego Florez ein neues Traumpaar für die Opernbühne geboren." befand Walter Beyer in den Oberöstereichischen Nachrichten vom 22.10.01

Ernst Naredi-Rainer in der Kärnter-Ausgabe der Kleinen-Zeitung (Online-Ausgabe 22.10.01) war mit der Regie wenig zufrieden: "Mag Felice Romanis Libretto auch naiv erscheinen, so wirkt doch Marellis Versuch, daraus ein Künstlerdrama zu formen und das Werden einer Primadonna vorzuführen, an den Haaren herbeigezogen." Wenig Lob findet er auch für die musikalische Leitung: "Stefano Ranzani, der bei seiner ersten Staatsopernpremiere zu lethargisch am Pult agiert, konnte das sich offensichtlich unterfordert fühlende Orchester nicht von den Qualitäten dieser (...) Partitur überzeugen, (...). Einige seelenvolle Holzbläsersoli müssen darüber hinwegtrösten, dass es oft an subtilen Zwischentönen mangelt. Viele interessante Details der Instrumentation ignorierend, stellt Ranzani die Simplizität des Orchestersatzes allzu deutlich aus."

Ebenfalls mit der Inszenierung nicht zufrieden ist der hinter dem Kürzel DEW verborgene Rezensent der Salzburger Nachrichten (Online-Ausgabe 22.10.01): "Auf dem Papier lesen sich die Programmheft-Beiträge Marco Arturo Marellis und vor allem Wolfgang Willascheks interessant. Auf der Bühne geht die Rechnung nicht auf. Und nach einigen Stunden "Sonnambula" drängt sich die Frage auf, was uns diese Primadonnen-Belcanto-Oper noch sagen kann. "

In der Wiener Zeitung (Online Ausgabe 22.10.01) titelte H.G. Pribil "Eine gelungene Wiederbelebung" und findet, dass Marelli "einiges zur Entstaubung des Werkes beigetragen" hat - weshalb er auch die Buhs "eigentlich für vollkommen ungerechtfertigt" haltet. Er lobt die Sänger und notiert betreffend Orchester: "Das in recht kleiner Besetzung angetretene Staatsopernorchester realisiert die Partitur pflichtgemäß, aber nicht mit besonderer Lust und Liebe."