FIDELIO IN WIEN 2000 - 2020

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Die Wiener Opernhäuser, die Theater, die Konzertsäle haben Mitte März 2020 geschlossen – um, wie sich inzwischen herausgestellt hat, in dieser Saison nicht mehr zu öffnen. Was liegt also näher, als ein bisschen die jüngere Wiener Operngeschichte Revue passieren zu lassen und mit dem Jahresregenten Ludwig
van Beethoven zu beginnen?
Eine Zusammenschau.


Bearbeitungsstand Mai 2020

Autor: Dominik Troger

Kapitelübersicht

I. Theater an der Wien: 200 Jahre „Fidelio“-Uraufführung (2005)
II. Wiener Staatsoper: „Eine der besten Opernproduktionen, die es je gab.“
III. Wiener Staatsoper: „Fidelio“-Abschiede
IV. Wiener Staatsoper: Musikalische Neueinstudierung (2004)
V. Wiener Staatsoper: „Fidelio“ im Repertoire (2000-2020)
VI. Theater an der Wien: „Fidelio“ als Vermächtnis von
Nikolaus Harnoncourt (2013)
VII. Theater an der Wien: „Fidelio“ als Vermächtnis von
Nikolaus Harnoncourt (2016)

VIII. Volksoper: Über 70 Jahre lang kein „Fidelio“ (2014)
IX. Wiener Festwochen: „Fidelio“ (2016)
X. Theater an der Wien: „Fidelio“ Erst- und Letztfassung (2017/18)
XI. Wiener Staatsoper: „Fidelio“-Erstfassung im Jubiläumsjahr 2020
XII. Theater an der Wien: „Fidelio 1806 im Jubiläumsjahr 2020 &
Nachträge


VI. Theater an der Wien: „Fidelio“ als Vermächtnis von Nikolaus Harnoncourt (2013)

Am 17. März 2013 hatte im Theater an der Wien eine „Fidelio“-Produktion unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt Premiere. Harnoncourt hat sich dabei nicht – wie man vielleicht erwartet hätte – für die Urfassung des Werkes entschieden, sondern die Letztfassung von 1814 einstudiert. Es habe hier ein praktischer Zugang über den akademischen gesiegt, so Harnoncourt sinngemäß in einem längeren Interview, das im Programmheft zur Aufführung nachgelesen werden kann. Aber natürlich verzichtete er auf die „Einlage“ der dritten Leonore-Ouvertüre, die sich erst im Rahmen des Rezeptionsgeschichte in die Letztfassung „geschlichen“ hat. Außerdem besetzte er die Hauptpartien mit lyrischeren Stimmen als im gängigen Opernbetrieb üblich. Ein wichtiges Merkmal in der musikalischen Umsetzung war die Hinzuziehung des Concentus Musicus Wien, der für Harnoncourts „Originalklang-Philosophie“ einzustehen hatte.

Jedenfalls waren alle vorgewarnt: Im KURIER (11. März 2013) hatte der Maestro im Vorfeld der Premiere erklärt, dass er sich das Werk mit einem modernen Orchesterklang nicht mehr vorstellen könne – und dass Tonschönheit nicht das Ziel seiner Aufführungsbestrebungen sei. Trotz dieser „Vorwarnung“ ist es Harnoncourt gelungen, einen Teil der Rezensenten und des Publikums mit forschen Klängen und grellen Bläsern zu „verschrecken“ – da wurden Blasinstrumente sogar mit Baumaschinen verglichen (Gert Korentschnig, KURIER, 19. März 2013). Es steht die Vermutung im Raum, dass Harnoncourt in jenen späten Schaffensjahren doch noch etwas schroffer und jede Note noch einmal „hinterfragender“ musizieren ließ, um weiter unermüdlich gegen landläufige Erwartungshaltungen zu opponieren. Auch manch lang gehaltene Pause und die Tempowahl erwiesen sich an diesem Premierenabend als „hinterfragenswert“.

Wie „schnell” oder wie „langsam“ soll also ein Allegro vivace gespielt werden? Derek Weber hat in seiner Aufführungsbesprechung für KLASSIKINFO.DE (17. März 2013) die Antwort leicht verständlich auf den Punkt gebracht: Demnach würde Harnoncourt dort flüssige Tempi vorgeben, wo andere schleppen und vice versa. [1] Insofern war es nur folgerichtig, dass sich derart das Finale (und zuvor schon beim „Oh namenlose Freude“) mehr in eine „Trauermusik“ verwandelte, weit entfernt von einem beglückenden, vorwärtstragenden Beethoven’schen Enthusiasmus. (Harnoncourt hat die „namenlose Freude“ aber schon in früheren „Fidelio“-Produktionen mehr gebremst als freudvoll angefeuert.)

Für die Besetzung von Leonore und Florestan hat Harnoncourt bewusst lyrischere Stimmen gewählt: Juliane Banse und Michael Schade. Schade hat am Beginn seiner Karriere den Jaquino gesungen (1995 einmal an der Wiener Staatsoper) und Juliane Banse stand 1996 dreimal als Marzelline auf der Staatsopernbühne. Schade erzählte in einem Interview (DIE PRESSE, 15. März 2013) Harnoncourt habe ihm gesagt, dass er das „Oh namenlose Freude“ nicht forte singen dürfe, weil Florestan in diesem Moment noch viel zu erschöpft sei, um aufzutrumpfen. Für Schades Tenor war diese mehr schonende, weniger heldische Gangart durchaus von Vorteil. Der Sänger hat in dem genannten Interview zudem angemerkt, dass er sich auch überlegt habe, wieviel Beethovens Musik mit Schubert zu tun haben könnte. 2013 hat Schade beim Sommernachtskonzert der Wiener Philharmoniker mit der Gralserzählung aber auch erste „Lohengrin“-Luft geschnuppert. Insofern ließ sich an seinem Florestan die stimmliche Weiterentwicklung seines lyrischen Tenors ablesen. Juliane Banse, die darstellerisch mehr überzeugte als mit ihrem doch deutlich gestressten Sopran, hat in einem Interview mit dem STANDARD (14. März 2013) betont, dass die Annahme dieser Partie überhaupt nur unter diesen Voraussetzungen für sie denkbar gewesen sei: Sie selbst und Schade seien keine Sänger, die an einem normalen Opernhaus ständig Fidelio sängen.

Es sagt viel über diese Produktion aus, dass der Rocco von Lars Woldt am meisten beeindruckte. Er hatte einen Pflichterfüller ohne Komik zu mimen, mit unverkennbar sadistischem Zug und fähig zu unangenehmem Kasernenton. Er war der bühnenpräsenteste und stimmkräftigste Sänger an diesem Abend wie auch die meisten Rezensenten in der einen oder anderen Form attestierten. Beim Pizarro ist man doch etwas griffigere Charaktere gewöhnt, als ihn Martin Gantner auf die Bühne stellte. Der Don Fernando von Garry Magee litt stark unter der Regieidee, ihn als Beethoven kostümiert (!) auf die Bühne zu schicken. Den 1. Gefangenen sang Andrew Owens, den 2. Gefangenen Ben Connor, damals beide Mitglieder des mit der Saison 2012/13 ins Leben gerufenen Jungen Ensembles des Theaters an der Wien in der Kammeroper.

Anna Prohaska gab die Marzelline. Recht aufgeblüht ist ihre Stimme nicht, insofern passte sie zum Bühnensetting, das sich dem Singspiel verweigerte. Ihr Sopran klang in dieser Aufführung eher hell und ein wenig körperlos. Als auf Liebe hoffende Marzelline hinterließ sie einen zu nüchternen Eindruck und die Stimme schien nicht all zu groß zu sein. Die Sängerin gab in dieser Produktion ihr eigentliches Wiener Operndebüt, trat sie doch vor allem in Berlin auf, wo sie seit einigen Jahren als „Opern-Jungstar“ Karriere gemacht hatte. Johannes Chum sang den Jaquino: in dieser Inszenierung ein nüchterner Vollzugsbeamter niedrigeren Ranges mit unsympathischem Zug.

Es gab durchaus Momente, die positiv in Erinnerung blieben: Mit wehmütiger Zurückhaltung erklang der Gefangenenchor, voll fragiler Hoffnung, leuchtete wie Februarsonne, die gegen Mittag ein kaltes Nebelmeer durchbricht – und so schnell wieder entschwindet. Die Gefangenen waren im Bühnenhintergrund hinter einer Absperrung untergebracht (melancholisch eindringlich der Arnold Schönberg Chor). Sehr behutsam ließ Harnoncourt das Ausklingen von Florestans Leonoren-Vision musizieren: ein in die Musik langsames und stückweises hineinsterben, wie ein sich in feinem Piano auflösendes Traumbild.

In der szenischen Umsetzung wurde die Handlung mit einer Bedeutungsschwere aufgeladen, die man kaum vermuten würde. Die Konflikte wurden verschärft, Jaquino beispielsweise zu einem widerlichen, zudringlichen Kerl geformt. Marzelline diente als Schreibkraft in der Gefängnisregistratur, eine große Schreibmaschine auf dem Tisch. Rocco war keine Figur des Singspiels, sondern ein übler Vollzugsbeamter in einer mit architektonischer Symbolik auftrumpfenden Diktatur. Alles schien von einem rigiden Machtapparat beherrscht, der in einem mit monumentalistischen Accessoires ausgestatteten Gefängnisambiente (besonders augenfällig zwei großen Flammenschalen) seine sinnbildliche Ausprägung erfuhr. Der düstere Bühnenbildentwurf stammte vom im Frühjahr 2012 verstorbenen Rolf Langenfass, für die militärisch uniformierenden Kostüme sorge Birgit Hutter.

Herbert Föttinger, künstlerischer Leiter des Theaters in der Josefstadt, steuerte mit diesem „Fidelio“ seine erste Opernregie bei. Er ließ die Szenen und Dialoge so ausspielen, als würde er ein Theaterstück inszenieren und als wäre das Libretto mit dem psychologischen Durchdringungsvermögen eines Henrik Ibsen verfasst worden. Manche Regieeinfälle befremdeten: etwa Marzellines Tänzchen auf dem wuchtigen Bürotisch; Leonore setzte sich während ihrer großen Arie sogar eine Pistole an die Schläfe in Andeutung einer verzweiflerischen Selbstmordabsicht; Pizarro erschoss am Schluss des ersten Aktes mit aller Drastik einen Mann auf dem Gefängnishof. Beim „Mir ist so wunderbar” fielen Schneeflocken vor Aktenschränken, das wirkte eigentümlich und aufgesetzt.

Im übrigen schien Föttinger wenig davon zu halten, im „Fidelio“-Finale die Apotheose einer „besseren Welt“ darzustellen. Er schickte nach dem „Oh namenlose Freude“ Florestan und Leonore samt Verlies in die Versenkung und ließ dann den Chor in Abendkleidung vor ein paar Notenständern aufmarschieren: Das letzte Bild wurde als Konzert gegeben – als abstraktes „Oratorium“. Die Mienen der Sänger blieben unnahbar und freudlos – wie das Abfeiern einer Parteitagsveranstaltung oder einer Totenmesse. Don Fernando erschien im Chor als Beethoven kostümiert: ein Gag, der nicht zündete.

Der Schlussapplaus fiel an diesem Premierenabend im Theater an der Wien nicht übermäßig enthusiastisch aus. Es zielten sogar ein paar Buhrufe auf Harnoncourt, die aber gegen den Applaus kaum ankamen. Beim Regieteam fiel das Missfallen etwas deutlicher aus. Szenenapplaus während der Vorstellung gab es selten. Letztlich hat Walter Weidringer in seiner Besprechung des Premierenabends (DIE PRESSE, 19. März 2013) Harnoncourt den Rang eines „Übertreibungskünstlers“ wie Thomas Bernhard zugesprochen – sozusagen als künstlerisches „Adelsprädikat“.

[1] https://www.klassikinfo.de/fidelio-wien/ [17.4.2020]

-------> VII. Theater an der Wien: „Fidelio“ als Vermächtnis von Nikolaus Harnoncourt (2016)

2020 - © Dominik Troger