THE GOSPEL ACCORDING TO THE OTHER MARY
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Volksoper
24. Juni 2024

Dirigent: Nicole Paiement

Regie: Lisenka Heijboer Castañón
Bühnenbild, Licht & Video: Hendrik Walther
Bühnenbild: Sarah Nixon
Kostüme: Carmen Schabracq
Choreographie: Miguel Alejandro Castillo Le Maitre
Sounddesign: Martin Lukesch
Choreinstudierung: Roger Díaz-Cajamarca, Holger Kristen

Mary - Wallis Giunta
Martha, her sister - Jasmin White
Lazarus, their brother - Alok Kumar
1st Countertenor - Jaye Simmons
2nd Countertenor - Christopher Ainslie
3rd Countertenor - Edu Rojas

Tänzerinnen - Viviane Tanzmeister, Adela Maharani, Aida Rodriguez, Laura Rosenstone, Nina Sandino mirabella paidamwoyo* dziruni

 

„Bibelrunde am Währinger Gürtel
(Dominik Troger)

Die Volksoper lädt in Kooperation mit den Wiener Festwochen zu einer „divers-feministischen“ Bibelrunde. Den Anlass bilden Peter Sellars als Librettist und John Adams als Komponist mit ihrem Passions-Oratorium „The Gospel According to the Other Mary“.

Die USA sind bekanntlich nicht nur bibelfest, sondern viele ihrer Bewohner leben ihr Christsein mit einem öffentlich-emotionalen Bekennertum, dass uns Europäer immer wieder überrascht. Und Peter Sellars ist ohnehin so etwas wie ein „Jack-in-the-box“ der Wiener Festwochen, der alle paar Jahre für Musiktheater mit geradezu „bigotten“ Moralansprüchen sorgt. In diesem Fall ist es nicht anders. Peter Sellars hat das Libretto für „The Gospel According to the Other Mary“ aus unterschiedlichen biblischen und literarischen Quellen zusammengestellt – und John Adams hat den Text mit  seinen kompositorischen Energien gesegnet.

Der erste Akt spielt in einem Asyl für obdachlose und arbeitslose Frauen und kulminiert in der Erweckung des Lazarus mit anschließendem Pessachmahl. Der zweite Akt behandelt die Kreuzigung und die Auferstehung. Sellars lässt die Handlung aber „parallel“ auf verschiedenen Zeitebenen spielen: die biblische Handlung „durchtränkt“ eine unter Gewalt und Armut leidende, Erlösung suchende Gegenwart. Jesus selbst tritt aber nie auf, von ihm wird nur berichtet. Die „andere“ Mary
, Martha, Lazarus und drei Countertenor-„Evangelisten“ geben die Erzählperspektive vor. (Die „andere“ Maria wird im Evangelium des Matthäus 28, 1-10 erwähnt. Sie hat gemeinsam mit Maria von Magdala am Ostermorgen das Grab von Jesus aufgesucht.)

Im ersten Teil funktioniert das einigermaßen, weil die Figuren in ihrem Leiden und in ihrem Glauben als Charaktere mit individueller Lebensgeschichte greifbar werden: die karikative Martha, die suizidgefährdete Mary, der tenoral „predigende“ Lazarus. Im zweiten Teil gewinnt das Kollektiv als Volksmenge die Oberhand, die Golgathas Hügel säumt. Sellars versucht mit ihr einen „befreiungstheologischen“ Brückenschlag zu aktuellen sozialrevolutionären Bewegungen, worunter die dramaturgische Stringenz leidet. Einiges fühlt sich im Kontext der Leidensgeschichte auch „unpassend“ an, etwa wenn von „Streikposten
in Weinbergen die Rede ist. Man darf das aber nicht so genau nehmen, Sellars ist  „Theaterprediger“ und kein „Historiker“.

Zur „Predigt“ hat auch John Adams ausgeholt und frönt dabei einem ausgefeilten Eklektizismus, der forcierte minimalistische „Pattern“ genauso einbezieht wie die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Adams hat als Komponist die „Frühphase“ des Minimalismus bald hinter sich gelassen und selbst dabei nur selten die wuchtige rhythmische Stringenz eines Philip Glas erreicht. Dafür darf es im „Gospel“ der anderen Maria zum Beispiel auch fast „impressionistisch“ zugehen, wie nach der von kräftigen repetitiven Momenten gespeisten „Arie“ des Lazarus im ersten Teil.

Adams richtet seine Musik illustrativ am Text aus wie etwa stöhnende Streicherglissandi im Zuge der Lazarushandlung belegen. Er verteilt solistische Aufgaben, etwa für Zymbal und für Klarinette. Passagen im Finale des ersten Aktes sind mit einem schwebend
atmosphärischen Streicherklang versehen – und schaut ihm hier nicht auch ein bisschen György Ligeti über die Schultern? Einige Gesangsnummern kleiden sich in eine „spiritualartige“ Haltung, denen vor allem die Altstimme der Martha eine gefestigte klangvolle Ausstrahlung verleiht. Die drei Countertenöre tönen hingegen etwas einförmig, in den Chören schimmert da und dort Britten durch. Und der murmelnde Volkschor auf Golgotha wird zum bedrohlich von der Bühne ins Auditorium grollenden „Geräusch“.

Der musikalische Reichtum wird aber nicht so recht erfahrbar, verwässert über die Gesamtlänge der Aufführung bemessen. Hätte man kürzen sollen? Würde „The Gospel According to the Other Mary“ als Oratorium konzertant aufgeführt, besser die angestrebte Verquickung von politischer Mobilisation und Verinnerlichung befördert haben? Ist die grundsätzliche Haltung der Musik nicht eher beschaulich, auch wenn die moralische Agitation des Librettos da und dort versucht, dem Publikum etwas Anderes „vorzugaukeln“? Adams verweigert sich diesen Passagen zwar nicht – wie etwa gleich am Beginn, wenn er das Orchester  kantig lospoltern lässt, um Marys Bericht vom Gefängnis rüde zu kommentieren – aber es konnte im Laufe der Aufführung passieren, dass man als Zuhörer auf Minuten den Fokus verlor, ehe einen dann eine Passage (zum Beispiel das kurze Klarinettensolo im zweiten Akt) wieder „einfing“. Das hatte aber auch mit der Thematik zu tun: Mary artikuliert beispielsweise bereits in der zweiten Szene des Stücks ihre Glaubenszweifel („Do I realy believe? Who am I praying to?“)
und es stellte sich dann schnell die Frage, ob man das überhaupt „interessant“ findet.

Die Inszenierung von Lisenka Heijboer Castañón hat nicht viel dazu beigetragen, das Grauen Golgothas zu „versinnbildlichen“. Aber wie könnte man das auch? Im ersten Akt zeigte die Drehbühne einen im Vergleich zur Bühnenhöhe sehr flachen schachtelartigen Holzbau mit Schiebetüren, die dem Publikum den Blick auf kleine vollgeräumte Zimmer öffnen. Dadurch war der erste Akt szenisch „konkreter“ und besser verortet, als der zweite, blieb im Geschehen nachvollziehbarer, litt optisch aber unter diesem bühnentechnischen „Flachbau“.
(Angeblich sind auf der Galerie die Stehplätze und die obersten Sitzreihen deshalb nicht in den Verkauf gelangt. Man hätte von dort wegen des steilen Blickwinkels vor allem das Dach gesehen, aber kaum mehr dem Geschehen in den Zimmern folgen können.) Die Kostüme waren ganz auf zeitgemäße Korrektheit“ und Diversität ausgerichtet, der Countertenor mit dem schwarzen Büstenhalter und roten Rock vielleicht das beste Beispiel dafür.

Im zweiten Akt blieb die Bühne offen und das in politische Agitation umgemünzte Passionsgeschehen wurde – auch mit Spruchbändern – plakativ bebildert. Die zu einer bedeutungsvollen Zeremonie aufgeblasene kollektive Massenfußwaschung wird mir aber für alle kommenden Gründonnerstage in Erinnerung bleiben. Es ist immer ein Problem, wenn als lächerlich empfunden wird, was ganz ernst gemeint ist. Außerdem lässt man ein abgeschlagenes (Malchus-)Ohr groß über die Bühne laufen (siehe Johannes 18,10.) und der Polizist, dem es abgeschlagen wurde, trägt eine Krampusmaske. Das Finale, wenn die weinende Mary in einen braunen Zottelmantel gehüllt auf der Bühne steht und vom Schnürboden aus beregnet wird, setzte einen weiteren seltsam-grotesken szenischen Akzent. Die pittoreske Gefühlswelt, die Sellars sogar auf der Schädelstätte aufkommen lässt, wenn es plötzlich auferstehungshaft Frühling wird und die Frösche quaken, hat es der Regie aber nicht leicht gemacht.

Über die musikalische Umsetzung lässt sich angesichts der Erstbegegnung mehr mutmaßen als urteilen, die  Stabführung von Nicole Paiement wirkte konzentriert und dem Werk angemessen, gespielt wurde manchmal zu laut. Die Dynamik war auf meinem Balkonplatz zu unausgewogen und hat wohl auch Details
verschluckt (im ersten Akt kam der Chor aus den Lautsprechern), die Spannung hielt für mich nur phasenweise an. Am stimmigsten agierte und sang Jasmin White als Martha, mit „spirituellem“ Impetus. Alok Kumar lieh dem Lazarus einen etwas spröden Tenor, der kräftig den repetitiven Orchestermassen standhielt. Wallis Giunta wechselte als Mary mit ihrer Mezzostimme in verschiedene biblische Marienidentitäten. Der Gesang wurde mit Microports verstärkt. In den  Schlussapplaus mischten sich sogar einige Bravorufe.

Die Vorstellung dauerte inklusive Pause und rund fünf Minuten langem Beifall ziemlich genau drei Stunden. Die Volksoper war im Parterre einigermaßen ausgelastet, auf dem Balkon und der Galerie gab es sehr viele freie Plätze. Am 30. Juni folgt die letzte Aufführung.  (Premiere und Österreichische Erstaufführung war schon am 15. Juni 2024.)

PS: Die Volksoper hat den Abend außerdem dazu genützt, um Gewalt gegen Frauen zu thematisieren. Über die Rückenlehnen vieler Sitzplätze hatte man dünne gelbe Kartons  gestülpt. Auf ihnen war zu lesen: „Jede 3. Frau ist im Laufe ihres Lebens von körperlicher / oder sexueller Gewalt betroffen.“ Der künstlerische Rahmen für diese Aktion war gut gewählt, aber ihr wäre ein ausverkauftes Haus angemessener gewesen, damit die Botschaft mehr Menschen erreicht.