„Bibelrunde am Währinger Gürtel“
(Dominik Troger)
Die
Volksoper lädt in Kooperation mit den Wiener Festwochen zu einer
„divers-feministischen“ Bibelrunde. Den Anlass bilden Peter Sellars als
Librettist und John Adams als Komponist mit ihrem Passions-Oratorium
„The Gospel According to the Other Mary“.
Die USA sind bekanntlich nicht nur bibelfest, sondern viele ihrer
Bewohner leben ihr Christsein mit einem öffentlich-emotionalen
Bekennertum, dass uns Europäer immer wieder überrascht. Und Peter Sellars
ist ohnehin so etwas wie ein „Jack-in-the-box“ der Wiener Festwochen,
der alle paar Jahre für Musiktheater mit geradezu „bigotten“
Moralansprüchen sorgt. In diesem Fall ist es nicht anders. Peter
Sellars hat das Libretto für „The Gospel According to the Other Mary“
aus unterschiedlichen biblischen und literarischen Quellen
zusammengestellt – und John Adams hat den Text mit seinen kompositorischen Energien gesegnet.
Der erste Akt spielt in einem Asyl für obdachlose und arbeitslose
Frauen und kulminiert in der Erweckung des Lazarus mit anschließendem
Pessachmahl. Der zweite Akt behandelt die Kreuzigung und die
Auferstehung. Sellars lässt die Handlung aber „parallel“ auf
verschiedenen Zeitebenen spielen: die biblische Handlung „durchtränkt“
eine unter Gewalt und Armut leidende, Erlösung suchende Gegenwart.
Jesus selbst tritt aber nie auf, von ihm wird nur berichtet. Die
„andere“ Mary, Martha, Lazarus und drei Countertenor-„Evangelisten“
geben die Erzählperspektive vor. (Die
„andere“ Maria wird im Evangelium des Matthäus 28, 1-10 erwähnt. Sie hat gemeinsam mit Maria von Magdala am Ostermorgen das Grab von Jesus aufgesucht.)
Im ersten Teil funktioniert das einigermaßen, weil die Figuren in ihrem
Leiden und in ihrem Glauben als Charaktere mit individueller
Lebensgeschichte greifbar werden: die karikative Martha, die
suizidgefährdete Mary, der tenoral „predigende“ Lazarus. Im zweiten
Teil gewinnt das Kollektiv als Volksmenge die Oberhand, die Golgathas
Hügel säumt. Sellars versucht mit ihr einen „befreiungstheologischen“
Brückenschlag zu aktuellen sozialrevolutionären Bewegungen, worunter
die dramaturgische Stringenz leidet. Einiges fühlt sich im Kontext der
Leidensgeschichte auch „unpassend“ an, etwa wenn von „Streikposten“ in
Weinbergen die Rede ist. Man darf das aber nicht so genau nehmen,
Sellars ist „Theaterprediger“ und kein „Historiker“.
Zur „Predigt“ hat auch John Adams ausgeholt und frönt dabei einem
ausgefeilten Eklektizismus, der forcierte minimalistische „Pattern“
genauso einbezieht wie die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Adams
hat als Komponist die „Frühphase“ des Minimalismus bald hinter sich
gelassen und selbst dabei nur selten die wuchtige rhythmische Stringenz
eines Philip Glas erreicht. Dafür darf es im „Gospel“ der anderen Maria
zum Beispiel auch fast „impressionistisch“ zugehen, wie nach der von kräftigen
repetitiven Momenten gespeisten „Arie“ des Lazarus im ersten Teil.
Adams richtet seine Musik illustrativ am Text aus wie etwa stöhnende
Streicherglissandi im Zuge der Lazarushandlung belegen. Er verteilt
solistische Aufgaben, etwa für Zymbal und für Klarinette. Passagen im
Finale des ersten Aktes sind mit einem schwebend „atmosphärischen“ Streicherklang
versehen – und schaut ihm hier nicht
auch ein bisschen György Ligeti über die Schultern? Einige Gesangsnummern kleiden
sich in eine „spiritualartige“ Haltung, denen vor allem die Altstimme
der Martha eine gefestigte klangvolle Ausstrahlung verleiht. Die drei
Countertenöre tönen hingegen etwas einförmig, in den Chören schimmert
da und dort Britten durch. Und der murmelnde Volkschor auf Golgotha wird
zum bedrohlich von der Bühne ins Auditorium grollenden „Geräusch“.
Der
musikalische Reichtum wird aber nicht so recht erfahrbar,
verwässert über die Gesamtlänge der Aufführung bemessen. Hätte man
kürzen sollen? Würde „The Gospel According to the Other Mary“ als
Oratorium konzertant aufgeführt, besser die angestrebte Verquickung von
politischer Mobilisation und Verinnerlichung befördert haben? Ist die
grundsätzliche Haltung der Musik nicht eher beschaulich, auch wenn die
moralische Agitation des Librettos da und dort versucht, dem Publikum
etwas Anderes „vorzugaukeln“? Adams verweigert sich diesen Passagen
zwar nicht – wie etwa gleich am Beginn, wenn er das Orchester
kantig lospoltern lässt, um Marys Bericht vom Gefängnis rüde zu
kommentieren – aber es konnte im Laufe der Aufführung passieren, dass
man als Zuhörer auf Minuten den Fokus verlor, ehe einen dann eine
Passage (zum Beispiel das kurze Klarinettensolo im zweiten Akt) wieder
„einfing“. Das hatte aber auch mit der Thematik zu tun: Mary
artikuliert beispielsweise bereits in der zweiten Szene des Stücks ihre
Glaubenszweifel („Do I realy believe? Who am I praying to?“) – und es stellte sich dann schnell die Frage, ob man das überhaupt „interessant“ findet.
Die Inszenierung von Lisenka Heijboer Castañón
hat nicht viel dazu beigetragen, das Grauen Golgothas zu
„versinnbildlichen“. Aber wie könnte man das auch? Im ersten Akt zeigte
die Drehbühne einen im Vergleich zur Bühnenhöhe sehr flachen
schachtelartigen Holzbau mit Schiebetüren, die dem Publikum den Blick
auf kleine vollgeräumte Zimmer öffnen. Dadurch war der erste Akt szenisch „konkreter“ und
besser verortet, als der zweite, blieb im Geschehen nachvollziehbarer,
litt optisch aber unter diesem bühnentechnischen „Flachbau“. (Angeblich sind auf der Galerie die Stehplätze und die obersten Sitzreihen deshalb nicht
in den Verkauf gelangt. Man hätte von dort wegen des steilen
Blickwinkels vor allem das Dach gesehen, aber kaum mehr dem Geschehen
in den Zimmern folgen können.) Die Kostüme waren ganz auf zeitgemäße „Korrektheit“ und „Diversität“
ausgerichtet, der Countertenor mit dem schwarzen Büstenhalter und roten Rock vielleicht das beste Beispiel dafür.
Im
zweiten Akt blieb die Bühne offen und das in politische Agitation
umgemünzte Passionsgeschehen wurde – auch mit Spruchbändern – plakativ
bebildert. Die zu einer bedeutungsvollen Zeremonie aufgeblasene
kollektive Massenfußwaschung wird mir aber für alle kommenden
Gründonnerstage in Erinnerung bleiben. Es ist immer ein Problem, wenn
als lächerlich empfunden wird, was ganz ernst gemeint ist. Außerdem
lässt man ein abgeschlagenes (Malchus-)Ohr groß über die Bühne laufen (siehe Johannes 18,10.) und der Polizist, dem es abgeschlagen wurde, trägt eine Krampusmaske.
Das Finale, wenn die weinende Mary in einen braunen Zottelmantel
gehüllt auf der Bühne steht und vom Schnürboden aus beregnet wird,
setzte einen weiteren seltsam-grotesken szenischen Akzent. Die pittoreske
Gefühlswelt, die Sellars sogar auf der Schädelstätte aufkommen lässt,
wenn es plötzlich auferstehungshaft Frühling wird und die Frösche quaken, hat es der Regie aber nicht leicht gemacht.
Über die musikalische Umsetzung lässt sich angesichts der Erstbegegnung mehr mutmaßen als urteilen, die Stabführung von Nicole Paiement
wirkte konzentriert und dem Werk angemessen, gespielt wurde manchmal zu laut. Die Dynamik war
auf meinem Balkonplatz zu unausgewogen und hat wohl auch Details „verschluckt“ (im ersten Akt kam der Chor aus
den Lautsprechern), die Spannung hielt für mich nur phasenweise an. Am
stimmigsten agierte und sang Jasmin White als Martha, mit „spirituellem“ Impetus. Alok Kumar lieh dem Lazarus einen etwas spröden Tenor, der kräftig den repetitiven Orchestermassen standhielt. Wallis Giunta wechselte
als Mary mit ihrer Mezzostimme in verschiedene
biblische Marienidentitäten. Der Gesang wurde mit Microports verstärkt.
In den Schlussapplaus mischten sich sogar einige Bravorufe.
Die Vorstellung dauerte inklusive Pause und rund fünf Minuten langem
Beifall ziemlich genau drei Stunden. Die Volksoper war im Parterre
einigermaßen ausgelastet, auf dem Balkon und der Galerie gab es sehr
viele freie Plätze. Am 30. Juni folgt die letzte Aufführung.
(Premiere und Österreichische Erstaufführung war schon am 15. Juni
2024.)
PS: Die Volksoper hat den Abend außerdem dazu genützt, um Gewalt gegen
Frauen zu thematisieren. Über die Rückenlehnen vieler Sitzplätze hatte
man dünne gelbe Kartons gestülpt. Auf ihnen war zu lesen: „Jede 3. Frau
ist im Laufe ihres Lebens von körperlicher / oder sexueller Gewalt
betroffen.“ Der künstlerische Rahmen für diese Aktion war gut gewählt,
aber ihr wäre ein ausverkauftes Haus angemessener gewesen, damit die
Botschaft mehr Menschen erreicht.
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