VOLKSOPER VOR 100 JAHREN: STERNENGEBOT
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14.3.1908: Siegfried Wagners „Sternengebot“ an der Wiener Volksoper
oder
Eine weitere Boshaftigkeit von Karl Kraus

Während man sich an der Staatsoper an „Fra Diavolo“ ergötzte, setzte die Volksoper ihr damals intensiv gepflegtes Programm an Wiener Erstaufführungen mit Siegfried Wagners fünfter Oper „Sternengebot“ fort. Keine zwei Monate nach der Hamburger Uraufführung (21.1.1908) lud man am 14.3.1908 zur Premiere.

Zugegeben, das Werk entpuppte sich als Marginalie der Operngeschichte, bot dem sensationsgierigen Wiener Publikum aber immerhin die Möglichkeit, im Sohn den hochgeschätzten Vater und Meister zu würdigen. Wer sich über den verworrenen Inhalt einen Einblick verschaffen möchte, hat unter http://www.siegfried-wagner.org/html/sternengebot.html dazu Gelegenheit. Schon ein kurzer Blick auf das Textbuch zeigt, dass die diesbezüglichen Reaktionen der Zeitgenossen, die auch bei wohlwollendem Schulterklopfen Siegfried Wagners Befähigung zum Textdichter nicht unbedingt in den Himmel lobten, verständlich waren. Ein kurzes Beispiel, das sofort stark mit Vater Richard assoziiert, findet man in den Fußnoten.(1) Dem Komponisten und Musiker schien man noch eher über den Weg getraut zu haben. In einer knappen Zusammenfassung des Aufführungsabends im Illustrierten Österreichischen Journal (20.3.1908) heißt es unter anderem:

„Die glänzende Beherrschung des Orchesters und die eigenartige Erfindungsgabe Wagners lassen den stürmischen Beifall, der ihm gezollt wurde, vollkommen gerechtfertigt erscheinen. (...) Die Aufführung war interessant, und auch das Publikum; alles war höchst gespannt, den Sohn des berühmten Meisters zu sehen, und der Beifall nach dem zweiten Akt so groß, bis Wagner auf der Bühne erschien. Nach dem dritten Akt applaudierte man aber auch dem Komponisten Wagner, dessen Talent man anerkennen muß (...)“

Ähnlich hatte schon die Reichspost am 15.3.1908 argumentiert:

„Deutlicher als die Sprache der Handlung ist die Sprache der Musik. Sie ist weder banal noch exzentrisch gehalten, prunkt nicht mit sonderlich Orchestraleffekten und ist bemüht, die einzelnen Rollen entsprechend zu charakterisieren. Die Komposition im ganzen und mithin auch die ganze Richtung Jungsiegfrieds selbst schwankt zwischen zwei Kunstprinzipien, dem deklamatorischen Stile Richard Wagners ohne strenge Gliederung und strenges Festhalten der Leitmotive und einem gewissen volkstümlichen Stile. Das, was jedoch der junge Wagner in seiner erstaufgeführten Oper „Bärenhäuter“ ahnen ließ und durch einige glückliche Szenen auch versprach eine Popularisierung des deklamatorischen Kunstgesanges, ein Herabsteigen des hehren Pathos in die Seele des Volkes, gleichsam eine Assimilierung Wagners mit Weber, hat er in seinen weiteren Werken, wie auch im „Sternengebot“ nicht gehalten und in dieser Beziehung bedeuten diese Werke eher einen Rückschritt. Zu Festmusik und heiteren Weisen ist in letzterem Werke immerhin Gelegenheit geboten, wir hören auch schmetternde Trompetenfanfaren, einen echt Straußschen Walzer, später als düstere Erinnerung geschickt in Moll transponiert, freundliche sangbare Frauenchöre, aber das Vorspiel zum zweiten Akt ist mit seinen sordinierten Geigen eine getreue Nachbildung des herrlichen ersten Lohengrinvorspiels und der Aufzug zum Turnier trägt deutlich die Spuren des Aufzuges der Gäste in der Wartburg. Zu einem dramatischen Dialog, einem Gesangsduett, zu einer scharfen Ausprägung der Szene fehlt dem Komponisten die Kraft des Ausdrucks und die Gewandheit der Form. Denn trotz aller dramatischen Steigerungen im Orchester wird die Szene selten für den Zuhörer spannend und fesselnd, wie es bei der vielgliedrigen und schwerfälligen Struktur des Stoffes notwendig wäre. Der erste Akt, welcher sich mit der schwierigen Exposition der ganzen Dichtung befaßt ist der längste und zugleich schwächste; freundlicher und lebhafter gestaltete sich der zweite und dritte Akt, der letztere noch unterstützt durch eine äußerst wirksame Dekoration, den in helles Rot getauchten Burgsaal. (...)“

Viel kritischer liest sich das in der Abendausgabe der Wiener Zeitung (16.3.1908):

„(...) „Bärenhäuter“ war junges Leben, volkstümliche Naivität; man hörte die Quellen Webers rauschen. Seitdem bringt Siegfried Wagner, mit unseliger Hast über seine Kraft hinausstürmend, meist nur Parodien zu den Werken seines großen Vaters auf die Bühne. (...) Was die Leute im „Sternengebot“ singen, ist Abklatsch aus dem Wagnerschen Musikdrama, komisch durch das Mißverhältnis des pathetischen Sprechgesanges und der nichtigen Situation. In dem Orchester schwimmen die Brocken von des Vaters Tische und von den Tischen anderer Meister. Die Ansätze zu individueller künstlerischer Äußerung, die im „Bärenhäuter“ auf schlicht fröhliche, einfache Kunstübung hoffen ließen, sind nun gänzlich geschwunden.“

Immerhin wird die Aufführung selbst gelobt:

„Die Aufführung in der Volksoper war vielfach, vornehmlich im orchestralen Teile, gelungen. Kapellmeister Gille war ein umsichtiger Führer. Herr Hofbauer als Dämon Kurzbold war allen voran, vermochte aber mit seinen ansehnlichen Vorzügen in das Sinnwidrige keinen Sinn zu bringen. In diesem vergeblichen Kampfe zeichneten sich auch die Herren Lordmann, Schwarz und Frau Drill-Oridge, diese überaus wertvolle Erwerbung der Volksoper, aus. Der Tenor, Herr Anton, hat noch keine Herrschaft über sein gewiß brauchbares Material gewonnen. In der Generalprobe, aus welcher wir das Urteil schöpfen, entwickelte Frl. Ritzinger dramatische Energie und ihre bekannte Eignung für den großen Stil, der freilich in das „Sternengebot“ nur als Karikatur eingedrungen ist. Vor der Aufführung selbst hatte Frl. Ritzinger absagen müssen; an ihre Stelle trat Frl. von Brenneis vom königlichen Landestheater in Prag, wo die Künstlerin schon im „Sternengebot“ die gleiche Partie gesungen hat. Das Publikum war von der sympathischen Erscheinung und von der wohlklingenden Stimme der Prager Sängerin angenehm berührt. Die Regie, die Aufzüge, die Ballettpantomime hat Siegfried Wagner während der Vorbereitungen selbst überwacht; das Gebotene war dem Werke entsprechend angepaßt.“

Das aus heutiger Sicht vielleicht interessanteste Resultat dieser Rarität ist aber die „anregende“ Wirkung, die sie auf Karl Kraus ausgeübt hat. In der Fackel, Heft 256, 5.6.1908, präsentierte er Siegfried Wagner seine Abrechnung:

„(…) Was soll um Gotteswillen aus einem jungen Menschen werden, der ganz so aussieht, wie sein Vater, der berühmte Komponist, und absolut nicht komponieren kann? Um nicht komponieren zu können, dazu braucht man gewiß nicht der Sohn eines großen Mannes zu sein. Das Traurige hiebei ist aber nicht die Unfähigkeit, sondern die Ähnlichkeit. Da ist der Vater an einem Palazzo von Venedig gestorben, die Fremden pilgern zu der geweihten Stätte, am Lido aber badet die irdische Hülle des teuren Verblichenen und den Fremden bleibt auch dies unvergeßlich. Man bewundert ein Naturspiel, aber man sollte es verurteilen. Wozu dienen solche Attrappen der Natur? Um mit Ähnlichkeiten zu verblüffen, genügt doch das ausgeschnittene Profil einer Leinwand; in das Loch steckt ein altes Weib sein Gesicht, stellt sich auf den Sessel eines Wirtshausgartens und sagt: Jetzt werden die Herrschaften den Richard Wagner sehen. Vorher aber bitte ich um ein kleines Trinkgeld oder Douceur … Es laufen gegenwärtig in Europa ein paar höchst unverdiente Träger berühmter Namen herum. Man hat es aus falscher Humanität unterlassen, sie rechtzeitig im Kaukasus, im Dovregebirge oder in der sächsischen Schweiz auszusetzen, und nun müssen wir sehen, wie die Folgen der Geschlechtsakte sich vor die besseren Schöpfungen der berühmten Männer stellen. Man zwinge sie wenigstens von Gesetzes wegen zur Annahme eines Pseudonyms und einer veränderten Barttracht, und warte ab, ob sie dann noch lebensfähig sind. Der Sohn Goethes hat sich von keinem literarhistorischen Standpunkt zur Aufnahme in die Gesamtausgabe von Goethes Werken empfohlen. Aber wenn einer gar so aussieht, daß er erst das 'Sternengebot' schreiben muß, damit einem der Ausruf 'Der ganze Papa!‘ in der Kehle stecken bleibt, so verwünscht man diese ewigen Foppereien der Natur. (...)“(2)

Zu Karl Kraus siehe auch: Karl Kraus und Enrico Caruso


(1) Helferich, 4. Szene im I. Akt
„(...) Entsagen – verzichten – / Herzens jähes Vernichten! / Um eines Wahnes willen, / Ja, Wahn! / Kümmert mich Trug-Sterndeuterei, / Aberglaubens Sinn-Verwirren? / Walt’ ich nicht meines Lebens frei? / Drückt’ mich and’rer Wahn und Irren? / Ich will! Zu mattem Entsagen taug’ ich nicht! / Fliehe von mir, Zweifel! Ich will zum Licht! (...)“ Zitiert aus dem Libretto auf www.naxos.com

(2) Zitat zur Online-Nutzung der „Fackel“:
Herausgeber: AAC – Austrian Academy Corpus
Titel: AAC-FACKEL
Untertitel: Online Version: "Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus, Wien 1899-1936"
Reihentitel: AAC Digital Edition Nr. 1
URL: http://www.aac.ac.at/fackel
Abrufdatum: 3.3.2008

2008 - © Dominik Troger