DER IDIOT
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Theater an der Wien im Museumsquartier Halle E
28. April 2023
Österreichische Erstaufführung

Musikalische Leitung: Thomas Sanderling

Inszenierung: Vasily Barkhatov
Bühne: Christian Schmidt
Kostüm: Stefanie Seitz
Licht: Alexander Sivaev
Video: Christian Borchers

ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Arnold Schoenberg Chor
(Leitung: Erwin Ortner)
Pianist Bühne: Mennan Bërveniku

Fürst Myschkin - Dmitry Golovnin
Nastassja - Ekaterina Sannikova
Rogoschin - Dmitry Cheblykov
Lebedjew - Petr Sokolov
General Jepantschin - Valery Gilmanov
Jepantschina - Ksenia Vyaznikova
Aglaja - Ieva Prudnikovaite
Alexandra - Tatjana Schneider
Ganja - Mihails Culpajevs
Totzki - Alexey Dedov
Warja - Kamile Bonté
Adelaida (stumme Rolle) - Bernadette Kizik

 


„Zu viel Roman, zu wenig Oper
(Dominik Troger)

Es wurde ein langer Premierenabend: „Der Idiot“ von Mieczyslaw Weinberg erwies sich als zähe Opernkost, an der das Publikum der Österreichischen Erstaufführung viel zu nagen hatte. Insofern war es mehr eine erschöpfende, als erfüllende Erstbegegnung mit einem Werk, dessen Komplexität man sich erst erarbeiten müsste.

Fjodor M. Dostojewski hat umfangreiche Romane geschrieben. Die vielen Dialoge, die sie beleben, verlocken zur Dramatisierung. Mitte der 1980er-Jahre hat sich der Komponist Mieczyslaw Weinberg den „Idioten“ vorgenommen und Alexander Medwedew hat ihm aus dem Roman ein Libretto „destilliert“. Die Handlung dreht sich um den Fürsten Myschkin, der als Epileptiker und „Gottesnarr“ durch die St. Petersburger Gesellschaft „geistert“. Diese Gesellschaft weiß mit dem Fürsten wenig anzufangen – und er mit ihr, auch wenn er in eine mühsame Liebesbeziehung mit Nastassja Iwanowna und ihrer Rivalin Aglaja gerät. Auch der Kaufmannssohn Rogoschin, den der aus einem Schweizer Sanatorium anreisende Fürst bereits in der ersten Szene auf der Zugfahrt nach St. Peterburg kennengelernt hat, umbuhlt Nastassja und ermordet sie schließlich. Er zeigt die Leiche Myschkin – und dieser beginnt wieder so zu frieren, wie am Beginn der Oper bei der eben erwähnten Zugfahrt. Dostojewski hat sein Finale etwas anders aufgelöst: Myschkin spendet dem zusammengebrochenen Mörder „Mitleidstrost“ und landet dann geistig umnachtet wieder im Sanatorium.

Weinberg, selbst im zweiten Weltkrieg von seiner polnischen Heimat in die Sowjetunion entwurzelt, wird die Heimatlosigkeit des „Idioten“ fasziniert haben, seine melancholische Fremdheit in einer Welt, gegenüber der er von starkem, vielleicht religiös zu nennendem Mitgefühl beseelt ist. Ob dieses Mitgefühl nihilistische Lebenserfahrungen aufheben kann, das ist die Frage. Dostojewski scheint dergleichen anzudeuten, bei Weinberg bin ich mir nicht so sicher: seinem Fürsten friert zu stark. Dementsprechend sind die Ebenen, auf denen diese Oper zum Publikum spricht, alles andere als „vordergründig“. Trotzdem hätte es sich angeboten, die Handlung zu straffen, wie zum Beispiel den zweiten Akt nur auf Nastassjas Geburtstagsfest spielen zu lassen. Und sind Rogoschin, der schließlich zum Mörder wird, sowie sein Opfer Nastassja nicht eigentlich viel bühnentauglichere Charaktere als dieser angekränkelte Fürst Myschkin?

Ein in Details ausgeschmückter, manchmal ironisierender, kunstvoll mit Leitmotiven assoziierter, dann wieder von pathetischen Anwandlungen durchsetzter „Konversationston“ beherrscht über weite Strecken das Werk. Orchesterausbrüche sind selten und Weinbergs Musik scheut die plakative Vereinnahmung. Außerdem gibt es eine Melancholie in dieser Musik, die dem theatralischen Effekt grundsätzlich zu misstrauen scheint. Dass Weinberg musikalische Anleihen bei Schostakowitsch genommen hat, ist unüberhörbar. Die Oper wurde 1991 in einer reduzierten Kammermusikfassung in Moskau uraufgeführt, erst vor zehn Jahren wurde in Mannheim die vollständige Fassung präsentiert.

Die Inszenierung in der Halle E des Museumsquartiers stellte einen nach einer Seite offenen, altertümlichen Eisenbahnwaggon auf die Drehbühne, wodurch die Handlung szenisch zu einer „Endlosschleife“ geflochten wurde: Immer wieder kehren die Protagonisten in den Waggon zurück, in dem im ersten Akt der Oper der Fürst nach St. Petersburg reist. Am Schluss wird auf den Sitzen die Leiche Nastassjas liegen und Myschkin wird wieder frieren wie am Beginn der Oper, gleichsam rettungslos eingefroren in seiner wahnüberschatteten Biographie. Die Fenster des Waggons waren als Projektionsflächen mit Videos hinterlegt. Derart wurde zum Beispiel die Fahrt des Zuges durch eine verschneite Schneelandschaft simuliert – und auf diese Weise lassen sich sogar Videos sinnvoll in eine Inszenierung integrieren.

Regisseur Vasily Barkhatov ist es allerdings nicht wirklich gelungen, dem Fürsten, diesem „Ritter von der traurigen Gestalt“, ein interessanteres Mäntelchen umzuhängen als eine lange beige Kapuzenjacke. Immerhin ließ er Briefe, die gewechselt wurden, Protagonisten mit dem Messer in den Rücken ritzen und dann die blutige Schrift vom blanken Fleisch ins Publikum drohen. Rogoschin ritzte sich bereits im ersten Akt mit einem Messer penetrant den linken Unterarm. Aber der Versuch mit grellem Effekt die Handlung etwas „psychopathologisch“ aufzuladen hat die Spannungskurve nicht gehoben. Das Bettenlager im zweiten Akt war auch etwas seltsam, aber dank des Eisenbahnwaggons gab es einen geschickt gewählten Ankerpunkt, der trotz der vielen Szenenwechsel als optisch stark wirkendes Symbol die Aufführung zusammengehalten hat.

Das ORF Symphonieorchester ist bei solchen Partituren fast immer gut aufgehoben und spielte in hoher Qualität. Dirigent Thomas Sanderling am Pult hat bereits im Jahr 2013 die Aufführung in Mannheim betreut. Die Mitwirkenden auf der Bühne boten durchwegs ein gutes gesangliches Niveau und waren darstellerisch überzeugend. Dmitry Golovnin gestaltete die Titelfigur als eindrucksvolles Porträt dieses heimatlosen Mannes, der wie von einem fremden Stern in eine von Geld und Lebensgier zersetzte Gesellschaft fällt. Golovnins hellmetallischen, kraftvollen Tenor kennt man schon von der Wiener Staatsoper (zum Beispiel letzte Saison als Hermann). Leider hat die Tonanlage noch eine Dosis Metall hinzugefügt. Die Stimmen klangen durchwegs (zu) laut und fast schon etwas scharf. Viel Metall lag auch in den Stimmen von Ekaterina Sannikova als umworbene Halbweltdame Nastassja und in der ihrer Rivalin gesungen von Ieva Prudnikovaite.

Dmitry Cheblykov als Rogoschin und Petr Sokolov als Lebedjew waren ebenfalls stimmkräftig, aber etwas nuancierter unterwegs. Lebdejew hat die Funktion eines gerissenen „Society“-Kenners und Erzählers, der sich auch mal zum Publikum wendet – und dem man gerne mehr Raffinement zugestanden hätte, als in dieser Produktionsumgebung möglich war. (Die Regie hat ihm das Lied des Messerschleifers übertragen, wodurch dieser „gespenstischen“ Einlage ein wenig der Reiz genommen wurde.) Der Ganja von Mihails Culpajev fiel ebenfalls in die Kategorie metallischer Tenor. Valery Gilmanov und Ksenia Vyaznikova stellten das Generalsehepaar bei. Dazu gesellten sich noch weitere Mitwirkende sowie der wie immer verlässliche Arnold Schönberg Chor.

Der Abend dauerte von 19.00 bis gegen 22.45h (inklusive einer knapp 30 Minuten langen Pause nach den rund eindreiviertel Stunden des ersten Teils). Der starke Schlussapplaus dauerte etwa sieben, acht Minuten lang. Die Premiere war sehr gut besucht, die Abwanderungstendenz in der Pause hielt sich in Grenzen.

Fazit: An den Erfolg von Weinbergs „Passagierin“, 2016 bei den Wiener Festwochen zu Gast, wird „Der Idiot“ nur schwer anschließen können.