ORLANDO FURIOSO

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Theater an der Wien
22.10.2011
Konzertante Aufführung

Dirigent: Jean-Christophe Spinosi

Ensemble Matheus

Orlando - Delphine Galou
Alcina - Marina de Liso
Bradamante - Kristina Hammarström
Ruggiero - Iestyn Davies
Medoro - Blandine Staskiewicz
Angelica - Veronica Cangemi
Astolfo - Christian Senn


Orlando im Liebeswahn
(Dominik Troger)

In der Barockoper kann man noch ganze Kontinente entdecken. Einer dieser Kontinente heißt Vivaldi. Dankenswerter Weise bewährt sich das Theater an der Wien schon seit einigen Jahren als Reiseführer in diese zunehmend ins Auge der operninteressierten Öffentlichkeit rückende „Terra incognita“.

An diesem Abend stand ein besonders reizvolles und bereits bekannteres Werk aus der Hand des venezianischen Meisters auf dem Programm:„Orlando furioso“, 1727 in Venedig uraufgeführt. Vivaldi hat hier auf Basis eines Librettos von Grazio Braccioli zwei Handlungsblöcke aus dem berühmten Versepos des Ludovico Ariosto montiert: Die Geschichte um Alcina, die dem Wiener Publikum seit der erfolgreichen szenischen Staatsopernproduktion von Händels „Alcina“ wieder geläufig geworden ist, und Orlandos Liebeswahnsinn, in den er wegen seiner angebeteten Angelica verfällt, die sich mit Medoro einlässt. Die Pointe: Durch seinen von unerfüllter Liebe ausgelösten Wahnsinn wird Orlando immun gegenüber Alcinas Zauber und kann ihre Macht brechen. Am Schluss ist er von seiner Liebe geheilt und gibt Angelica frei. Alcina muss das Feld räumen, nachdem sie vorsorglich noch angekündigt hat, rachenehmende Furien zu beschwören.

Mit der männerlüsternen Alcina und dem „rasenden Roland“ stehen sich zwei starke Bühnencharaktere gegenüber, aber auch die übrigen Figuren sind mehr als affektorientierte „Schablonen“ – und die Handlung ist voller „barocker Phantasy“. Das hat sicher dazu beigetragen, dass sich das Werk schon länger wieder größerer Beliebtheit erfreut und bereits 1978 mit Marilyn Horne als Orlando eingespielt wurde – allerdings gekürzt und insgesamt wohl nicht mehr dem heutigen Stilempfinden für Barockoper entsprechend. Inzwischen gibt es zwei weitere Aufnahmen. Eine davon hat das im Theater an der Wien aufspielende Ensemble Matheus unter der Leitung von Jean-Christophe Spinosi aufgenommen.

Weil keine Ouvertüre überliefert ist, wurde der Abend mit einer Sinfonia, Konzert in D-Dur für Streicher und Cembalo RV 116, eingeleitet. Die Bühne war offen und die Platane aus der derzeit gezeigten „Serse“-Produktion beschattete mit ihrem stimmungsvollen Grün Alcinas Zauberinsel. Die Sänger standen an der Rampe, Orlando kam aber für einen seiner „Wahnsinns“-Auftritte durch den „Serse“-Garten angewandelt. Die Sängerin des Orlando, Delphine Galou, schlank gewachsen, machte schon vom Aussehen als jugendlicher Ritter sehr gute Figur. Sie hatte sich ihrer Schuhe entledigt und spazierte bloßfüßig unter Bäumen und über das Bühnengras nach vorne. Eine nette szenische Auflockerung in passender „Kulisse“.

Der musikalische Leiter des Abends (und des eben erwähnten „Serse“), Jean-Christophe Spinosi, erwies sich einmal mehr als Animator, lebte die Musik, feuerte sie an, ließ sie poetisch fließen oder keck dahinsprudeln, da und dort mit humorvoller Ironie. Das Spiel des Ensemble Matheus scheint mir im Vergleich zu anderen „Originalklang“-Ensembles etwas kompromissloser, präsentiert mehr das unpolierte Holzstück, bei dem die Urwüchsigkeit der organischen Konturen noch plastischer hervortritt. Zusammen mit dem affektbetonenden Spiel wurde eine dramatisch akzentuierte Wiedergabe erreicht, die von den zärtlich-leisen Momenten bis hin zum expressiven Forte Spannung und Spontanität vermittelte.

Das passte sehr gut zu Vivaldis Ideenreichtum, beispielsweise zur besonderen Art, wie er mit dem Wahnsinn Orlandos verfährt: Orlando verliert dabei seine Musikalität. Sie rutscht in eine immer wieder als bedrohlich empfundene Rezitativbegleitung ab, die nur von kurzen, aufbegehrenden ariosen Ausbrüchen unterbrochen wird. Auf dem Höhepunkt seines Wahnes kommen Orlando sogar französisch (!) gesprochene Sätze unter. Das macht einen ganz überraschenden Effekt.

In den Arien läuft Vivaldi dort zu großer Form auf, wo er, so hat man das Gefühl, vor lauter Musizierlust gar nicht mehr aufhören kann – und wenn ein szenisch geprägtes Stimmungselement hinzukommt. Hier ist vor allem die Arie des Ruggiero gegen Ende des ersten Aktes zu nennen, die schon so verheißungsvoll beginnt: „Sol da te, mio dolce amore“. Alcina hat Ruggiero mittels Trank von einer Zauberquelle „gefügig“ gemacht. Die Quelle sprudelt fast schon impressionistisch in der virtuosen Flötenbegleitung zu dieser Arie weiter, während Ruggiero in süßen Tönen seine Liebe zu Alcina besingt. Eine ideale „Vorlage“ für den geschmeidigen, hell-timbrierten und tragfähigen Countertenor von Iestyn Davies, der im Duett mit dem Flötisten über die Augen Alcinas „schalmeite“.

Für Orlando gibt es im zweiten Akt eine „Gewitterarie“, in der Vivaldi seinem Nimbus als Komponist der „Vier Jahreszeiten“ gerecht wird. Delphine Galou brillierte hier mit ihrem leicht dunklen, auch in der Tiefe gut fundierten, agilen Mezzo, der aber sogar für das Theater an der Wien eine Spur zu klein sein dürfte. Orlandos Wahnsinn vermittelte sie ohne Übertreibungen, mit gut ausbalancierter Emotionalität.

Marina de Liso war für die Alcina an Stelle der ursprünglich vorgesehenen Renata Pokupic eingesprungen. Ihre Stimme reihte sich in dieses Fest leicht dunkel angehauchter Mezzosoprane ein. Ihre mehr lyrisch und wohlklingend vorgetragenen Alcina hätte etwa stärker die expressive und verführerische Autorität dieser Zauberin ausspielen können. Kristina Hammarström gesellte sich als weiterer Mezzo und kultivierter Bradamante hinzu. Sie war sozusagen von der Händel’schen Kompanie an der Staatsoper zur Vivaldi’schen übergewechselt. Die vierte im Bunde war die Französin Blandine Staskiewicz, die dieses insgesamt stark qualitätsbewusste Mezzoquartett mit dem Medoro „abrundete“. Staskiewiczs ließ einen klaren, kräftigen Mezzo hören, wodurch sie in den Arien präsenter wirkte als Orlando.

Auch Veronica Cangemi war vor kurzer Zeit noch an der Staatsoper in Sachen „Alcina“ unterwegs. Das kleinere Theater an der Wien kommt dem lyrischen Tonfall ihres Soprans entgegen. Das Timbre der Stimme ist nicht aufblühend an sich, verfügt aber über eine feine, traurige Poesie, die erst in getragenen Stücken so richtig zur Geltung kommt. Da entstehen dann jene stimmungsvollen Momente in denen man als Zuhörer „schwelgen“ kann.

Die Herren waren an diesem Abend deutlich „unterrepräsentiert“ und hatten auch nicht so viel zu singen. Die Begegnung mit Iestyn Davies hat schon – wie erwähnt – seine Liebeserklärung an Alcina reich gelohnt. Christian Senn als Astolfo sorgte für das baritonale Gegengewicht: flexibel, aber schon etwas kerniger und nicht nur dem Barockgesang verschrieben.

Dass bei diesen konzertanten Barockopern-Aufführungen im Theater an der Wien doch einige Plätze leer bleiben, daran hat man sich gewöhnt. Dafür ist das anwesende Publikum sehr konzentriert und versteht sich noch aufs Zuhören. Es wird kaum gehustet und während der Vorstellung nicht mit einem Smartphone herumgespielt. Für Opernfans ist das heutzutage schon fast wie das Paradies. Applaudiert wurde nach fast jeder Arie – und am Schluss lang anhaltend mit Bravorufen.