HAMLET
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Theater an der Wien
Premiere
23. April 2012


Musikalische Leitung: Marc Minkowski
Inszenierung: Olivier Py
Ausstattung: Pierre-André Weitz
Licht: Bertrand Killy


Arnold Schönberg Chor

Hamlet - Stephane Degout
Ophélie - Christine Schäfer
Claudius - Phillip Ens
Gertrude - Stella Grigorian
Laérte - Frédéric Antoun
Le Spectre - Jérome Varnier
Polonius - Pavel Kudinov
Horatio / 1. Fossoyeur - Martijn Cornet
Marcellus / 1. Fossoyeur - Julien Behr



„Französische Oper für Fortgeschrittene
(Dominik Troger)

Mit Ambroise Thomas Oper „Hamlet“ hat das Theater an der Wien – wieder einmal – eine bemerkenswerte Produktion auf die Bühne gestellt. Die Premiere erwies sich als musikalischer Leckerbissen, die Inszenierung hat ihre Qualitäten, evozierte aber auch einige Buhrufe.

1868 uraufgeführt geriet die Oper in Frankreich zum großen Renner. Der internationale Erfolg des Werkes knüpfte sich stark an die schwedische Sopranistin Christine Nilsson. Sie war die Ophélie der Uraufführung, der ersten englischen Aufführung 1869 in Covent Garden und der amerikanischen Erstaufführung 1872. Nach der Jahrhundertwende verschob sich der Status des Werkes zunehmend in Richtung „Rarität“. Thomas hat übrigens den positiven Schluss der Uraufführungsfassung, in der Hamlet (im Widerspruch zu Shakespeare) überlebt und das königliche Erbe antritt, für die Erstaufführung in London abgeändert und gekürzt: dort stirbt Hamlet.

Wenn das Werk nie ganz aus dem Fokus einer operninteressierten Öffentlichkeit geschwunden ist, dann lag das vor allem an der langen Wahnsinnsszene Ophélies im vierten Akt, an der Sängerinnen wie Maria Callas, Joan Sutherland und Natalie Dessay ihre Virtuosität bewiesen haben. Der Hamlet wurde in jüngerer Zeit von Thomas Hampson und Simon Keenlyside verkörpert. Die Partie des Hamlet ist zwar nicht so spektakulär wie die virtuose, selbstmörderische „Arabeske“ der Ophélie, sie ermöglicht es einem Sänger aber, sich als vielfältiger Bühnencharakter von Shakespear‘schem Format zu profilieren.

Musikalisch entdeckt man Parallelen zu Charles Gounod („Romeo et Juliette“ 1867 uraufgeführt), aber auch zu Jaques Frommental Halèvys „La Juive“ (vor allem bei den grellschneidenden Aktschlüssen scheint sich der Komponist am Finale der „Jüdin“ orientiert zu haben). Wenn man sich in der Szene der beiden Totengräber (5. Akt) plötzlich an die Geharnischten aus der „Zauberflöte“ erinnert fühlt, dann wird passend auf eine „Grenzsituation“ menschlichen Daseins angespielt. Es gibt ein Trinklied Hamlets und natürlich ein (im Theater an der Wien gestrichenes) Ballett. Hier schlägt die damalige Konvention ein wenig durch – ähnlich wie in Gounods „Faust“. Die vielfältige Instrumentation, die leitmotivisch inspirierte Orchesterbegleitung, die schon Richtung Massenet verweist, hat man an diesem Abend besonders gut herausgehört. (Und dass an der Staatsoper gerade die französische Fassung des „Don Carlos“ gespielt wird, lädt zu weiteren Vergleichen ein.)

Marc Minkowski hat die Wiener Symphoniker ausgezeichnet präpariert. Klangschön und mit sinnlicher, mitschwingender Erregung modellierte er die lyrischen Passagen, ließ er jeder Phrase ein zärtlich gehegtes Wachstum angedeihen. Die Handlung spielt passender Weise im Frühling und Thomas hat diese Naturstimmung oft angedeutet, etwa am Beginn des zweiten Aktes (Garten, Vogelstimmen) oder im vierten Akt (Frühlingsballett). (Auf alten Theaterfotos ist Ophélie meist mit Blumenkränzen dargestellt.) Die Musik tauchte je nach Szene in mildes oder düsteres Licht, das sich hin und wieder mit dramatischer, blechbläsergestützter Grelle gleißend aufhellte. Die festliche Musik im ersten Akt beispielsweise, bei der Minkowski das Strahlen von „Wagnerblech“ schlank aber durchschlagskräftig aufbrausen ließ, sprengte schon ein wenig die räumlich limitierten Dimensionen des Hauses. Die Spannung hielt vom ersten bis zum letzten Takt.

Auf der Bühne stand ein homogenes Ensemble zur Verfügung. Stéphane Degout sang den Hamlet mit klangschönem, jugendlich-männlichem Bariton. Die Stimme bestand in den lyrischen Momenten ebenso wie in den emotionalen Ausbrüchen und in der Höhe; klang immer kontrolliert, locker, nie forciert. Sein Hamlet tauchte kompromisslos ein in die seelischen Abgründe, die von der Inszenierung deutlich bloß gelegt wurden. Degout erwies sich hier als Schauspieler minutiöser Seelenregungen und von hoher Beobachtungsgabe – und sich auf dieses Regiekonzept einzulassen, dass inzestuöse Unterschwelligkeiten andeutend, Hamlet sogar splitterfasernackt in die Arme der Königin Mutter treibt, war mental – womöglich – gar keine einfache Sache.

Christine Schäfer verkörperte eine schon etwas frauliche Ophélie – ihr Sopran war im Timbre eigentlich zu reif und zu nüchtern für diese Rolle. Trotzdem fand sie im vierten Akt zu einem schwebenden, romantisch-zärtlichen Wesen, und die technischen Schwierigkeiten der Wahnsinnsarie waren eine Hürde, die von ihr zwar nicht ganz locker, aber doch eindrucksvoll überwunden wurde. Die Inszenierung löste diese Szene mit Hilfe der Drehbühne und halbnackten Männern mit schwarzen Hundemasken. Regisseur Olivier Py erzeugte ein Bild von bedrohter Sinnlichkeit und tänzerisch-ritueller Todesahnung.

Phillip Ens als böser König Claudius konnte stimmlich nicht ganz mit diesem hohen Niveau mithalten. Königin Gertrude (Stella Grigorian) lief in der „Badeszene“ mit Hamlet zu großer Form auf, eine stark begehrende und begehrenswerte Persönlichkeit mit energiegeladenem Mezzo. Ein schöner, ruhiger Bass kam Jerome Varnier über die Lippen, Geist des ermordeten Königs. Die weiteren Mitwirkenden wie zum Beispiel Frédéric Antoun (Laertes) und der Arnold Schönberg Chor wirkten authentisch und sorgten für eine gelungene Abrundung.

Die Inszenierung von Olivier Py musste zwar einige lautstarke Buhrufe einstecken, fand aber auch starke positive Resonanz. Wie meist kommt es auf den Maßstab an, den man anlegt. Mit dem „gewohnten“ Flair einer französischen Oper aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts konnte die Regie nicht aufwarten. Py hat diesen Thomas-Hamlet „vershakespearisiert“, ihn mit politischen und sexuellen „Zweideutigkeiten“ seiner opernhaften Wurzeln entfremdet. Da ist einiges „faul“ im Staate Dänemark: das Volk sehnt sich nach Revolution (mehrmaliges Rote-Fahne-Schwenken) und die Königsfamilie scheint mehr Gefühle für einander zu empfinden, als moralisch zuträglich ist.

Py forscht in erotischen Abgründen, er lädt die Szene sexuell auf, lässt reihenweise Männer mit nackten Oberkörpern „aufmarschieren“, setzt Hamlet nackt in eine Badewanne – der Körperpflege durch seine Königin Mutter anheimgestellt. Aber Erinnerungen an die inzwischen schon legendäre Duschszene im Staatsopern-„Macbeth“ wurden nicht wach. Die Ernsthaftigkeit von Pys Anliegen wurde von den Darstellern glaubhaft umgesetzt. Die Regie wahrte bei aller „Verfremdung“ einen Anstand dem Werk gegenüber – einen grüblerischen zwar (was Hamlets Charakter entspricht), einen triebhaften, einen etwas plakativ politischen, aber sie gab in keiner Szene den Komponisten, die Ausführenden oder das Publikum der Lächerlichkeit preis.

Vielleicht hat das Bühnenbild irritiert: Stiegen und nichts als Stiegen in Helsingörs „Kohlenkellern“. Stiegen, die sich teilen und verschieben und drehen, über die man steigt, auf denen man sitzt und geht, den Absturz vor (sogar maskenbedeckten!) Augen. Die allzu düstere Farbgebung stand zur Musik oft im Widerspruch: Schwarz und dunkles Grau beherrschten die Bühne und die Kostüme, ausgeleuchtet von fleischblassen, nackten Männerbrüsten. Das Bühnenbild bremste die Dynamik der Personenführung, dafür waren die Details recht gut gearbeitet wie beispielsweise Hamlets Seelenregungen und Verzweiflungen. Bei den Auftritten des „Vater Geistes“ ließ Py opernhaft agieren, zeremoniell, sogar mit Bühnennebel – er war auf keine platte „Psychologisierung“ dieser übernatürlichen Erscheinung aus.

Gescheitert ist die Produktion am Finale: Man hat sich am letalen Schluss der Londoner-Fassung orientiert und an Shakespeare. Das finale Gemetzel unter den Hauptdarstellern verpuffte nach fast dreieinhalb Stunden Vorstellung (inklusive Pause) ohne dramatischen Effekt. Kaum hat man mitbekommen, was passiert, schon liegen alle tot auf der Bühne, und Hamlet klettert pflichtbewusst-ironisch in den bereitgestellten Holzkistensarg. Ein Mann mit Gewehr springt hinauf. Vorhang! Sahen Py und Minkowski im Überleben Hamlets einen Anachronismus? Der hier gezeigte Schluss ist nicht befriedigend.

Das Publikum dankte mit Ovationen, bei Py gab es die schon erwähnten Einwände. Degout, Minkowski, aber auch Schäfer, erhielten den stärksten Applaus. Doch der Beifall brachte es auf keine zehn Minuten, und ein Teil des Publikums hatte es eilig zur Garderobe zu kommen.

Fazit: Wenn man sich mit Pys Regie anfreunden kann, eine szenisch und musikalisch ausgezeichnet gearbeitete Produktion. Newcomern in Sachen französischer Oper wird „Sitzfleisch“ abverlangt.