THE BUTT
Aktuelle Spielpläne
Forum
Opernführer
Chronik
Home

Werk X
4. September 2016
( Uraufführung am 1. September 2016)

Komposition und musikalische Leitung:
Susannah Self
Regie und Bühne: Thomas Desi
Kostüme: Anaelle Dézsy
Maske: Katharina Dobrovnikova
Licht: Stefan Enderle
Video: Thomas Desi

Chris Brannick (Schlagzeug)
Alex Wells (Klavier)
Michael Christie (Violoncello)
Joe Davies (Violoncello)

Eine Produktion von Musiktheatertage Wien in Kooperation mit Selfmade Music (UK)

Tom Brodzinski - Nicholas Buxton, Tenor
Martha, Swai-Phillips, An Entreati Woman -
Miriam Sharrad (Sopran)
Entreati Sorceress -Héloïse Mas (Sopran)
Von Sasser, A Twin, An Entreati Woman -
Dawn Burns (Sopran)
Judge Hogg, Tommy Jr., An Entreati Woman -
Catherine Joule (Sopran)
Native Judge, Antalya, Dixie, An Entreati Woman -
Hazel Neighbour (Sopran)


Fünf Frauen und ein Tenor
(Dominik Troger)

Die Musiktheatertage Wien gehen derzeit im Werk X in der Oswaldgasse über die Bühne. Das Festival erstreckt sich über knapp zwei Wochen und steht unter dem Motto „Weltflucht“. Besucht wurde die vierte und letzte Vorstellung der Uraufführungsproduktion „The Butt“ von Susannah Self.

Das Werk X liegt unweit der U6-Station Tschertegasse. Wer öffentlich anreist, muss zuerst einmal am Altmannsdorfer Friedhof vorüber. Und das Betongrau des Werk X-Etablissements zaubert auch nicht gerade ein fröhliches Bild in die Landschaft. Die Musiktheatertage finden heuer zum zweiten Mal statt. Das Programm ist kreativ-ambitioniert, und deshalb ist es auch für potentielle Besucher nicht immer leicht, sich aus dem Angebot das passende herauszupicken. Heuer wird zum Beispiel noch eine „Smartoper“ angeboten, bei der man mit App und nur gegen Voranmeldung teilnehmen kann. Es gastiert eine „Opera Semi-Seria“ aus Ungarn („Great Sound in the Rush“) und in „Opera of Entropy“ wird Weltkrisen-Szenarien nachgespürt. Das Programm kann im Web abgerufen werden. Das „Festival“ läuft noch bis Sonntag 11. September. Die nachstehend rezensierte Oper „The Butt“ ist nach vier Aufführungen schon wieder „abgespielt“. Die Uraufführung ist am 1. September über die Bühne gegangen.

Die Oper hat nichts mit dem Roman von Günter Grass zu tun. Sie basiert auf dem Roman „The Butt“ von Will Self. Übersetzt heißt „Butt“: Zigarettenstummel, Kippe oder Hintern. In seinen einleitenden Worten hat Regisseur und Festival-Mitveranstalter Thomas Desi auch gleich ein wesentliches Regie-Problem erläutert. Hauptfigur Tom Brodzinski raucht am Beginn der Oper (und des Romans) seine letzte Zigarette, weil er sich das Rauchen abgewöhnen möchte. Aber wenn einem das Gesundheitsministerium auf der Bühne das Rauchen unter der Androhung von bis zu 7.000 Euro Strafzahlung verbietet, was macht dann ein Regisseur? Er lässt die unentbehrliche Zigarette unangezündet.

„But a cigarette, Jesus, in this day and age that’s an offensive weapon, even if you don’t, like, hurl it at someone.“ Dieses Zitat stammt aus dem ersten Kapitel des Romans – nicht aus der Oper. „The Butt“ ist eine Satire über den immer zwanghafteren Umgang mit Geboten und Verboten in unserer Gesellschaft, über den Gegensatz von westlicher Kultur und den „Traumkulturen“ ferner Länder, in die wir gerne reisen, und die sich in ihrem Denken und ihren sozialen Verknüpfungen stark von unseren unterscheiden. In Toms „Urlaubsparadies“ ist zum Beispiel Rauchen streng reglementiert und es werden keine „Zufälle“ akzeptiert. Als er die Kippe seiner letzten Zigarette vom Hotelbalkon schnippt, fällt sie einem Mann auf den Kopf und hinterlässt eine Brandwunde. Später wird der Mann sogar schwer erkranken. Für Tom bedeutet dieser „Zufall“, dass ihm ein Gerichtsverfahren droht, womöglich eine Mordanklage. Schließlich wird Tom zur Strafe auf eine Reise ins Nirgendwo dieses von inneren Unruhen durchfurchten Staates geschickt. Daraus entwickelt sich eine surreal-üppige Geschichte, die den Leser mit exotischen Details überschwemmt. Self selbst hat in Interviews eine Fährte zu Joseph Conrads „Heart of Darkness“ gelegt, seinen Roman auch als „politische Allegorie“ bezeichnet. Die kafkaeske Situation ist jedenfalls schwer zu übersehen: dem „unschuldigen“ Tom wird sozusagen „Der Prozess“ gemacht.

Die mit dem Autor verwandte Komponistin Susannah Self hat das reichhaltige Personal des Romans vereinfacht und den übrig gebliebenen Rest auf sechs Personen aufgeteilt: fünf Frauen stehen einem Tenor gegenüber. Während der Tenor unschwer als Tom identifiziert werden kann, agieren die Frauenstimmen als Gruppe oder als Individuen, leiten die Handlung nach einer „esoterisch“ klingenden, vom Band eingespielten „Sound-Ouvertüre“ ein wie ein Chor des antiken Theaters. Während am Beginn die Situation noch einigermaßen klar ist – Tom raucht diese fatale Zigarette – beginnt sich die Handlung schnell zu verwirren. Es gibt eine lange Gerichtsszene mit schamanistischen (?) Riten angereichert. Tom geht auf die bereits angesprochene Reise. Im Finale wird Tom am rechten Auge operiert. Er singt von „Befreiung“. Aber vielleicht ist damit nur gemeint, dass er sich jetzt das Rauchen abgewöhnt hat?

Die paar Handlungshäppchen, die einem von den Mitwirkenden mal da, mal dort serviert wurden, haben das Verständnis der Geschichte nicht gerade befördert. Dankenswerter Weise wurde zumindest der englische Text rechts von der Spielfläche an die Wand projiziert – ansonsten wäre die Verwirrung noch größer gewesen. Aber vielleicht wollte Self Self gar nicht veropern, sondern vielleicht ging es der Komponistin vielmehr um eine Art von ironischem Kommentar, in die Sprache modernen Musiktheaters übertragen und um eine emanzipatorische Sichtweise angereichert.

Die Inszenierung von Thomas Desi hat sich leider der Bebilderung dieses „Kommentars“ gewidmet und dabei vergessen, dass im deutschsprachigen Raum die Kenntnis eines 2008 erschienenen englischen Romans nicht vorausgesetzt werden kann. Das Publikum bestand an diesem sonntäglichen Spätnachmittag aus knapp 40 Personen. Fünf bis sechs von ihnen haben die Aufführung während der Vorstellung verlassen – das ergibt eine Dropout-Quote von über 10 Prozent. Die Spielfläche zu Füßen der kleinen Zuschauertribüne war mit einem Bett (links vorne) und einem roten Kleinwagen (mehr recht an der Wand) bestückt. Tom durfte theatralisch von seiner Zigarette Abschied nehmen und sich dann mit seiner Frau als Ehepaar Brodzinski ein bisschen im Bett räkeln. Die fünf Frauenfiguren zeigten sich den Abend über sehr beweglich (bis zum autoerotischen Placement einer Schönheit auf der Kühlerhaube). Sie trugen teils niedliche Röckchen, einmal tauchte sogar eine lederne Kniebundhose auf. Es stellte sich schnell eine Spannung ein zwischen diesen Frauen und Tom. Tom in ein plakativ bedrucktes „Hawaii-Hemd” gekleidet, wurde in die Rolle des gedemütigten Opfers gedrängt, weiblicher Selbstbewusstheit und Sinnlichkeit unterlegen. Es gab ein paar Videoeinspielungen, die beispielsweise eine Autofahrt simulierten, ansonsten aber nichts zum Verständnis beitrugen. Drei Besucher durften auf der Spielfläche Platz nehmen und mit Spiegeln die Beleuchtung unterstützen.

Musikalisch steht „The Butt“ in bester britischer Tradition. Die organisch-flüssigen Gesangslinien haben sich viel bei Britten abgeschaut – und Tom ist vielleicht ein musikalischer Nachfahre von Peter Grimes. (Die Komponistin Susannah Self ist ausgebildete Mezzosopranistin und hat Mrs. Sedley und Auntie im Repertoire.) Aber dieser leicht melancholisch-sentimental eingefärbte Brittenbezug ist nur eine Seite der Medaille: die andere setzt auf musikalische Satire. Auf trefflich platzierten Glissandi rutscht das Mitgefühl hinunter ins Nagelbett der Ironie. Self reizt aber auch die Möglichkeiten der Singstimmen aus, treibt die Soprane manchmal in die Höhe und stellt auch Tom vor manche gesangliche Herausforderung.

Das kleine Orchester mit Klavier, zwei Celli und umfangreichem Schlagwerk nützt Self für viele Effekte (bis zum Klatschen der Musiker zum Schlagwertakt). Für archaisch-folkloristische Trommelrhythmen steht dem Schlagwerkmeister sogar eine afrikanische Trommel zur Verfügung. Der Unterkiefer (Jawbone) eine Esels muss für „wüstenhafte Geräusche“ herhalten, und eine Trillerpfeife simuliert mehrmals das Pfeifen einer Teekanne mit kochendem Wasser. Es gibt weitere „musikalische Comicblasen“, aber die Komponistin hat die Komposition mit solchen Effekten nicht überfrachtet. Self bildet damit musikalisch die innere Struktur der Handlung ab, in der der Westler Tom von dem fremden Land mehr und mehr in die Knie gezwungen wird – und letztlich doch als tragische Figur, so interpretiere ich, als ein im Nirgendwo gestrandeter einäugiger „Brite“ zurückbleibt. Self hat sich jedenfalls nicht an Peter Maxwell Davies ein Beispiel genommen, der solche musikalisch-satirischen Wege weitaus radikaler beschritten hat.

Fazit: Selfs ironisch unterminierte musikalische Pragmatik ist für das Publikum eigentlich sehr bekömmlich – und vielleicht wäre es das Risiko wert gewesen, aus „The Butt“ eine wirklich große Oper zu machen und nicht nur einen „musikalischen Subtext“ von 90 minütiger Einakterlänge, bei dem man ohne Kenntnis des Romans schnell an Verständnisgrenzen stößt.

Dem Ensemble inklusive Musiker gebührt pauschaler Dank. Nicholas Buxton verlieh mit seinem in der Mittellage schon recht trockenen Tenor der Opferrolle des Protagonisten einen authentischen Reiz. Und die fünf Sängerinnen harmonierten mit ihren Stimmfarben und überzeugten mit energiegeladenen Ensembles und Solostücken. Am Pult stand die Komponistin persönlich und leitete die Aufführung mit Akribie.

Das Publikum dankte mit viel Beifall.