IRRELOHE
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Wiener Volksoper
Premiere
16. Oktober 2004

Musikalische Leitung: Dietfried Bernet

Inszenierung: Olivier Tambosi
Bühnenbild & Kostüm: Frank Philipp Schlößmann

Graf Heinrich - John Uhlenhopp
Der Förster - Markus Raab
Eva - Heidi Brunner
Die ale Lola - Anne Gjevang
Peter - Wolfgang Koch
Christobald - Kurt Schreibmayer
Der Pfarrer - Lars Woldt

Der Müller - Sorin Coliban
Fünkchen - Karl-Michael Ebner
Strahlbusch - Einar Gudmundsson
Ratzekahl - Josef Wagner
Anselmus - Rudolf Wasserlof

Ein Lakai - Christan Drescher


Achtungserfolg
(Dominik Troger)

Beim Aufspüren ungehobener Opernschätze hat die Wiener Volksoper in der Vergangenheit schon öfters einen guten Fund getan. Diesmal kam eine selten gespielte Oper von Franz Schreker, „Irrelohe“, zur Aufführung.

[1] „Irrelohe“, das ist die Geschichte der sexuellen Exzesse der Grafen von Schloss Irrelohe, die Schreker in das schwüle Dampfbad aufgewühlter Orchesterklänge taucht. Die Handlung erzählt eine Dreiecksgeschichte zwischen Peter, Heinrich und Eva und kulminiert im Brand des Schlosses. Peter ist der Sohn von Heinrichs Vater, der Lola, Peters Mutter, auf einer Hochzeitsgesellschaft vergewaltigt hat. Christobald, damals Lolas Geliebter und Zeuge der Vergewaltigung, hat drei Musikanten gedungen, die am Jahrestag des Geschehens in der Ortschaft Brände legen – das geht 30 Jahre so und am Schluss ist das Schloss an der Reihe. Das „Irre“ – eben diese sexuellen Verfehlungen des Grafengeschlechtes – sühnt sich in der „Lohe“ seines Unterganges. Der letzte Grafenspross, Heinrich, bringt zwar noch Nebenbuhler Peter um, aber kann letztlich mit der Geliebten und Angetrauten Eva duettierend und von bedrohlichem Flammenschein umwabert von dannen ziehen.

[2] Was bei dieser Handlung auffällt, ist das Primat eines vom Sexualtrieb beherrschten Fatums, dem die Personen des Stückes unterliegen. Die Sexualität des Menschen erweist sich in seiner Individualisierung als dämonische, zerstörerische Kraft. Ist nicht das Liebesglück von Eva und Heinrich buchstäblich „über Leichen gegangen“? Mag sein, dass sich Schreker nach dem ersten Weltkrieg, dem Ende der alten Ordnung, dem Aufdämmern neuer sozialer Gefüge und nach reichlicher Lektüre von Otto Weiningers „Geschlecht und Charakter“, diese schreckliche, lohende Triebkraft so recht in ihrer elementaren Gewalt vor das innere Auge stellte. Und dann lässt er seinen ganzen, breitwandigen Orchesterapparat auf dieses Thema los, nachdem er sich dazu noch einen sehr expressionistisch gefärbten und verkürzenden Text geschrieben hat.

[3] Lässt man obgenanntes an seinem inneren Auge vorüberziehen, wird man rasch erkennen, dass eine Aufführung dieses Werkes eine besondere Herausforderung darstellt: Es braucht ein exquisites Orchester, denn Schrekers Anforderungen sind hoch, und man kann ihnen nur gerecht werden, wenn man sich auf seine ausufernde Instrumentierung einlässt, auf sein fast modern zu nennendes Spiel mit Klangfarben, auf seine streicherüppigen melodischen Phrasen, die Bläser – wie Querschüsse des Schicksals – immer wieder drohend umlagern. Es braucht dazu exquisite Sänger, mit Kraft, mit einer formidablen Bühnenpräsenz. Gerade das Thema dieses Werkes ist doch eines, dass von den „Trieben“ in ihrer vollen Entäußerung handelt. Es braucht eine Inszenierung, die den Spagat zwischen Triebkern und seinen emotionalen Umrahmungen schafft, die im Zusammenklang mit Schrekers sinnlicher Musik jene Betörung entwickelt, mit der sich Sexualität auch heute noch in das sentimentale Kleid „ewiger Liebe und Treue“ kleidet, um in Wirklichkeit dem Darwinismus zu frönen. Nicht umsonst bemüht das Libretto wohl ganz bewusst Versatzstücke der Romantik: das Schloss und das Grafengeschlecht, über die eine Art von „Familienfluch“ regiert. Schreker scheut einen blanken Realismus, obwohl die Handlung selbst ganz ohne „Gespenster“ auskommt. Und die Musik, die er dazu schreibt, ist ein Gemälde, das viel von einem „Kostümschinken“ an sich hat und das „nackte Triebleben“ mit romantisch-verzehrendem Surrogat auffüllt. Daraus ergibt sich eine Diskrepanz, von der ich mir nicht sicher bin, ob sie dem Werk zum Nutzen gereicht.

[4] Doch nun zur Volksopernproduktion und meinen – man ahnt es schon – Einwänden: Es war seltsam, aber ich habe mich den ganzen Abend gefragt, wo Schreker dieses dämonisch Drohende in der Partitur versteckt haben könnte. Denn, wenn er das Orchester plakativ losschlagen lässt, dann dient das dem aktuellen dramatischen Effekt, aber nicht dem sukzessiven Aufbauen von Spannungen. Von den ersten Takten an müsste diese Lohe glühen und durchschimmern, sich nach und nach bis zum irren Brand durch die Noten fressen – den Triebschwulst der Streicher als ölige Nahrung für den Verbrennungsvorgang suchend. Nun könnte man die Schuld auf Schreker schieben, dass vor allem im ersten Akt von dieser sinnlichen Grundspannung nur in der Fünf-Minuten-Szene zwischen Eva und Peter viel, ansonsten aber sehr wenig zu spüren war – oder es lag am Dirigenten Dietfried Bernet, der dem Orchester und den Sängern mehr Feuer hätte machen müssen. Schreker neigt dazu, die Dinge nicht so recht auf den Punkt zu bringen, oder sie stark zu überzeichnen. Ein Dirigat, dass sich auf die Höhepunkte verlässt und nicht das Orchester als „Blasebalg“ benutzt, um die „Lohe“ beständig anzufachen, wird die vorhandenen Längen mehr bloßlegen als kaschieren. Das Endergebnis war dann im dritten Akt minutenlanges fff, das in dieser grellen Form kaum im Sinne des Komponisten gewesen sein kann.*** Und so groß ist die Volksoper nun auch wieder nicht. Da wurde subtiler Effekt mit dem Holzhammer verwechselt. Aber es war wohl von der ersten Minute des Vorspiels an – während man auf der Bühne der „alten Lola“ beim Essen gekochter und schön blankgelb geschälter Erdäpfel zuschauen durfte – der Abend schon verloren. Statt einem opulenten Mahl, zu dem ein vollgestopfter Orchestergraben und ein gruseliger Erotikthriller eingeladen hatten, wurde man wenig gesättigt wieder nach Hause geschickt.

(*** Wie man mir per E-Mail einige Wochen nach der Premiere mitgeteilt hat, wäre das durchaus im Sinne Schrekers und der Partitur gewesen. Mir wars jedenfalls, bezogen auf die Größe der Volksoper, zu laut.)

[5] Schließlich hatten auch die Sänger Probleme damit, die großen, raumgreifenden Bissen zu schlucken, die Schreker für sie auskomponiert hat. Vom Sängerteam hat im wesentlichen nur Wolfgang Koch als Peter einen souveränen Eindruck hinterlassen – gefolgt von Heidi Brunner, der die Eva schon einiges an Reserven abverlangt hat. Viel abverlangt hat die kraftraubende Tenorrolle John Uhlenhopp. Kurt Schreibmeyer stieß beim Christobald an Grenzen, die man ob der Kürze der Partie nicht so sehr in die Waagschale legte, auch Anne Gjevang musste der „alten Lola“ mit überspannter Stimme Tribut zollen. Das restliche Ensemble verteilte sich auf kleinere Rollen, mit durchaus schlüssigem, aber für den Gesamteindruck nicht so relevanten Ergebnis.

[6] Man könnte nun meinen, man habe sich an der Volksoper ein bisserl zu viel zugemutet – aber ich glaube, eine gute, konsistente Inszenierung hätte da vieles wettmachen können und den starken Ensemblegeist, der zu spüren war, für mehr als einen Achtungserfolg genützt. Aber die Inszenierung präsentierte eine seltsame Mischung aus Bühnenrealismus (mit phasenweise durchaus guter und schlüssiger Personenführung) und symbolisierenden Deutungsversuchen, die sich gehörig in die Quere kamen. Es begann, ja, es begann wirklich mit den Erdäpfeln. Gleich bei den ersten Vorspieltakten serviert Peter seiner Mutter, der „alten Lola“, einen Teller dieser Ackerfrüchte, denen Lola wenig Begeisterung entgegenbringt. Das schäbige Ambiente dieser Wohnung, die zugleich einen ersten Blick auf das Einheitsbühnenbild gewährt, wird man leider den ganzen Abend nicht mehr los. (Außen die Spielfläche umrahmende Kaffeehaustische verorten – so Regisseur Olivier Tambosi im Programmheft – das Geschehen in einem Wiener Kaffeehaus!!!) Die Handlung spielt, stellt man fest, wohl in der Entstehungszeit des Werkes. Dass Schreker die Story noch im 18. Jahrhundert angesiedelt hat, soll vermerkt, aber nicht als Argument gegen die Inszenierung verwendet werden. Das historische Kostüm ist in diesem Fall wohl vernachlässigbar.

[7] Das Problem ist viel mehr das krampfhafte Suchen und Aufdecken von Querbezügen, und die Regie huldigt schon in der ersten Szene des zweiten Aktes einem Symbolismus, der den klaren Handlungsstrang zu einem ersten, wirren Knoten bindet. Während sich Pfarrer, Förster und Müller zu einem Dorfpalaver treffen, tauchen unvermuteter Weise drei splitternackte Grazien auf, die Kornähren herbeitragen, begleitet von einem großen Kruzifix. Die Mädchen sinken vor dem Kreuze übereinander und bilden eine Art von kunsthistorischem Tableau. Ein Symbol des Eros, eines zu Grabe getragenen Jugendstils, eine Assoziation, die vielleicht an Klimt gemahnt? Ich weiß es nicht. Danach tauchen die drei Musikanten auf, die eben die Mühle abgefackelt haben, als Clowns verkleidet. Und was sich – im Sinne des im ersten Akt noch angestrebten Realismus, ganz leicht als sonntäglicher Wirtshausumtrunk mit Musikbegleitung schlüssig hätte erzählen lassen, mutiert zu einem seltsamen Vexierspiel, bei dem der Handlungsfaden völlig verloren geht. Minutenlang rätselt man als Zuschauer über das Geschehen.

[8] Aber Tambosi setzt noch eines drauf. Heinrich, der Graf, wird in einem großen Käfig vom Schnürboden herabgelassen, schmachtend zwischen Bücherstapeln. Tambosi transponiert hier die innere Befindlichkeit des Grafen nach außen und offenbar möchte er auch Weininger verlinken. (In besagtem Interview im Programmheft betont Tambosi die Weininger-Rezeption Schrekers. – Peter hat im dritten Akt einen Parsifal-Klavierauszug unter dem Kopfpolster, ob das auch dazugehört?). Für die bühnenwirksame Darstellung der fatalen Triebbeziehung von Peter und Eva ist damit aber nichts gewonnen – im Gegenteil. Das Umarmen von Gitterstäben oder ein gespreitzt-beiniges ergebungsvolles Hinwerfen von Eva allein erzeugt noch nicht jene bühnenwirksame Mischung, die einen als Zuseher wirklich an dieses Werk „glauben“ ließe. Befremdet betrachtet man den Bücherkäfig, der sich da in einem Kaffeehaus eingenistet hat – von Gästen umstanden und bestaunt.

[9] Im dritten Akt entpuppen sich die Musikantenclowns als SA-Schlägertrupp, der ein wenig gewalttätig wird und eifrig mit Bezinkanistern hantiert. Plötzlich scheint es, als ob die politischen Verhältnisse (!) für den Untergang von Schloss Irrelohe verantwortlich wären und für den Mord des Grafen an seinem Nebenbuhler Peter. Eine Pointe, die zwar den Bezug zur Entstehungszeit assoziiert, aber dem Stück und der Motivation der handelnden Figuren endgültig den Zahn zieht. „Irrelohe“ kann, bei dieser üppigen Pheromon-Ausschüttung in der Musik, schwer als politische Parabel durchgehen. Um den Dämon jener subkutanen Macht nagender Triebhaftigkeit betrogen, der in alle Hauptpersonen des Stückes seine Krallen schlägt und sie zum Handeln zwingt, bleibt in diesem dritten Akt von „Irrelohe“ wenig bis überhaupt nichts übrig.

[10] Die Premiere war nicht ausverkauft. Der Applaus war – ein, zwei kaum auffallende Buhrufe ausgenommen – zustimmend.