HAMLET
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Theater an der Wien
14. September 2016

Uraufführung

Komponist: Anno Schreier
Librettist: Thomas Jonigk

Musikalische Leitung: Michael Boder
Inszenierung: Christof Loy
Ausstattung: Johannes Leiacker
Licht: Reinhard Traub

ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Arnold Schoenberg Chor (Ltg. Erwin Ortner)

Der tote Hamlet, ehemaliger König - Jochen Kowalski
Gertrud, Königin - Marlis Petersen
Claudius, König - Bo Skovhus
Ophelia - Theresa Kronthaler
Ein Pastor - Kurt Streit


„Für Hamlet gibt es keinen Ausweg“
(Dominik Troger)

Das Theater an der Wien begann die neue Saison mit einer Uraufführung. Ganz dem Jahresregenten William Shakespeare verpflichtet, dessen 400. Todestag heuer begangen wird, wurde eine neue „Hamlet“-Oper in Szene gesetzt.

Librettist Thomas Jonigk hat sich die Freiheit genommen, bei seiner Fassung des „Hamlet“-Stoffes verschiedene Quellen zu berücksichtigen und nicht nur auf Shakespeare zu setzen. Er erwähnt als Inspirationsquellen für seine sehr freizügige „Neudeutung“ des „Hamlet“ neben Shakespeare auch die „Dänische Geschichte“ des Saxo Grammaticus und die „Histoires tragiques“ von Francois de Belleforests. Der Librettist hat das Geschehen auf fünf Figuren reduziert, um sie in einer Art von „Familienaufstellung“ auf einander los zu lassen.

Hamlet wird von Jonigk in den Schraubstock seiner toten und lebenden Verwandtschaft eingespannt: Mutter Gertrude begehrt ihn sexuell, sein Vater Hamlet geistert durch die Szene, der königliche Stiefvater Claudius ist ein Hassobjekt und die kurze Liebesbeziehung zur Prostituierten Ophelia hat keine Zukunft. Zudem gären Verdächtigungen und Mordpläne unter der Oberfläche staatstragender Repräsentation. Gertrude, Claudius, Hamlet, Ophelia, sie alle reißt es von einer affektbetonten Handlung zur nächsten fort. Sie alle befinden sich in einem Ausnahmezustand, rotieren in dem von der Inszenierung bereitgestellten Zimmer in ihren seelischen Abgründen, ohne eine Chance auf Erlösung. Hamlet wird im Finale von Claudius ermordet, der auch Ophelia auf dem Gewissen hat. Und Gertrude, von Claudius geschwängert, wird einen Sohn gebären, der ebenfalls den Namen „Hamlet“ tragen wird. So setzen sich Inzest und Sünde fort, prolongieren den von Genusssucht übertünchten Nihilismus einer herrschenden Klasse.

„Aufgemischt“ wird diese Gesellschaft durch einen Pastor, der die Absurdität solchen Daseins auf die Spitze treibt. Er wird von Jonigk in zwei peinlichen Auftritten „vorgeführt“. Der Pastor versteigt sich sogar zur Behauptung, das berühmte Zitat „Sein oder Nichtsein“ sei von ihm selbst gedichtet worden. Diese Behauptung setzt dem Lügengespinst, das den Hof des Claudius überwuchert, die eigentliche „Krone“ auf.

Offenbar hat Jonigk geahnt, dass er mit dieser krisenhaften Beziehungskiste, die sich mehr als „Seifenoper“ dahin quält, schwer reüssieren kann. Fehlt den handelnden Personen nicht das „epische“ Moment und eine damit verbundene Fähigkeit zur Reflexion ihres gefühl- und triebgesteuerten Daseins? Also hat er einen „antiken“ Chor „engagiert“, der als prophetisch begabtes moralisches Gewissen seine Weisheiten und Werte ausplaudert (und sich dabei Schlegels „Hamlet“-Übersetzung bedient). Zusätzlich lässt er den Geist von Hamlets ermordetem Vater als sehr lebendigen Untoten über die Bühne wandeln. Dieser „tote Hamlet“ ist eine Sprechrolle. Sie gibt launige Kommentare ab, räsoniert über die verzärtelte Jugend und unterhält das Publikum mit seinen Witzchen wie ein Conferencier.

Aber die Verbindung dieser drei Ebenen blieb „konstruiert“. Die kurze Szenenfolge (24 laut Programmheft) verunmöglichte eine psychologisch nachvollziehbare Entwicklung der Figuren, und perpetuierte den Endzustand aller nur erdenkbaren Ausweglosigkeit. Schon im ersten Teil gab Hamlet seine „Philosophie“ zum Besten, der die ganze Oper zu folgen schien: „Alles ist Oberfläche. Es gibt keine Tiefe. Nur einen Abgrund. Den Tod.“ Die platitüdenhaften weltanschaulichen Aperçues der Hofgesellschaft gipfelten in diversen metaphysischen Anwandlungen. Pathetisch und hochtrabend – Claudius: „Das Universum spielt mit uns und will auf jeden Fall Sieger sein.“ – nahmen sie die Protagonisten aufs Korn, und richteten sich allerdings – das ist meine Befürchtung – letztlich gegen den Librettisten selbst.

Komponist Anno Schreier knauserte nicht mit parodistisch gemeinten Zitaten bis zu einem rosenkavalierwalzer-ähnlichen Auftanzen – oder wenn sich fafnerdräuend die Tuba dem Claudius hinzugesellte. Die Musik hatte vor allem illustrierende Funktion und viele Passagen wirkten wie ein langes, begleitetes Rezitativ, auch wenn ariosere Formen eingeflossen sind. Anno Schreiers Musik verlangt keine auf „neue Musik“ spezialisierte Aufführungspraxis. Sie nennt viele Vorgänger, vor allem Richard Strauss eklektisch beim Namen, wobei Schreier sich bei John Adams abgeschaut haben dürfte, wie solche Zitate geschickt verfremdet werden können. War das Ganze also doch nur eine parodierte Tragödie?

Aus meiner Sicht hätte Schreier für seine Musik mehr Raum einplanen sollen, um die Geschwätzigkeit der Figuren einzubremsen, um ihren Zwang zur outrierenden Gefühlsäußerung zu unterminieren. Er hätte vor allem Hamlet aufwerten müssen, ihm eine Persönlichkeit verleihen und eine musikalische Heimat geben, wo ihm schon der Librettist eine versagt hat. Es gab eine Szene – die einzige in der rund zweieinhalb Stunden langen Oper (inklusive einer Pause gerechnet) – in der die Musik über ihre illustrative Funktion hinauswuchs und selbst zum visionären sinnstiftenden Element des Abends mutierte: Im ersten Teil, wenn Hamlet und Ophelia sich begegnen, wenn sich aus der geschäftsmäßigen Liebe Ophelias (Gertrude hat sie engagiert, um Hamlet „abzulenken“) ein ganz zartes, verletzliches Liebesband entwickelt und beide sich kurz in einer Tristan'schen Todessehnsucht geborgen wähnen. Ophelia werden solistisch Holzbläser hinzugesellt, sie besitzt so etwas wie den Ansatz einer sinnlich-melancholischen Melodie, und später webt das Streicherraunen die Liebesnacht. Hamlet: „Da muss ein Ausweg sein.“ Ophelia: „Bis der Tod uns scheidet.“ Und die Harfe setzt in das flächige Streicherintermezzo ein paar kristalline Tupfer hinein.

Die Singstimmen sind „moderat“ behandelt, Gertrude hat ein paar Anflüge von koloraturerinnerndem Belcanto. Aber die extremen Gefühlslagen sind auf Dauer für die Sängerinnen und Sänger gewiss fordernd und anstrengend auszuführen. Der Chor darf das „Sein oder Nichtsein“ madrigalähnlich und bedeutungsvoll von der eigentlichen Handlung absetzen, ehe der Pastor auftritt und das ernste Ansinnen des Chores mit seinem anmaßenden Verhalten untergräbt. In der Zusammenschau hat Schreiers Komposition etwas collageartiges, dass sich weniger um Stil als um „Affekte“ und „Atmosphäre“ kümmert und die „disruptive“ Szenenfolge noch verstärkt, als auf die Schaffung eines einheitlichen Ganzen abzuzielen.

Die Umsetzung war jedoch exzellent. Das Theater an der Wien hat eine erstklassige Besetzung aufgeboten, um als Geburtshelfer diesen „Hamlet“ aus der Taufe zu heben. Michael Boder hat das ORF Radio-Symphonieorchester auf ein präzises und klar artikuliertes Spiel eingeschworen und eine energiegeladene Umsetzung betrieben, ohne damit, bis auf ein paar Orchesterausbrüche, die sensible Akustik des Hauses auszuhebeln.

In der Titelfigur glänzte André Schuen, der sich mit seinem Bariton gegen die Vereinnahmung durch seine Mutter auflehnte. Schuens Stimme hat seit dem konzertanten „Don Giovanni“ vor zwei Jahren unter Nikolaus Harnoncourt an Charisma zugelegt: Ihr leicht dunkel gefärbtes, aufbegehrendes Erglühen gab dem ausweglos rebellischen Teenager eine passende Grundierung.

Bo Skovhus war als Claudius stimmlich schon „nüchterner“ unterwegs, von Gewissensbissen gezeichnet verfolgte er nicht nur eine stimmliche, sondern auch handlungsgemäße „Realpolitik“. Marlis Petersen konnte ihre Bühnenpräsenz als eigentlich männerhassende und doch offenbar sexsüchtige Gertrude voll ausspielen und ihr akkurater Sopran spielte alle „Stückln“ in dieser psychodramatisch aufgeladenen Familienshow. Theresa Kronthaler tauchte mit ihrem schlanken, eher hellen Mezzo in die trübe Existenz der Ophelia ein. Kurt Streit gelang als Pastor stimmlich und darstellerisch eine ganz besondere Charakterstudie. Und Jochen Kowalski gab einen zynisch räsonierenden toten Hamlet – eine Sprechrolle – wobei er aber einmal und nur für den Ruf „Ophelia!“ seinen Counter „anwarf“. Der Arnold Schönberg Chor sorgte für die prägnante Umsetzung der Chorpassagen und wie immer für eng in die Regie eingebundenes, perfektes Spiel.

Die Inszenierung von Christof Loy war routiniert und die Sänger waren gut geführt. Trotzdem hat sie für meinen Geschmack zu wenig Ordnung in das Chaos dieser Familie gebracht. Die beiden Damen wurden szenenweise recht freizügig gezeigt, was überflüssig war. Dem Pastor zu seinen Reflexionen über „Sein oder Nichtsein“ ein Tellerchen mit einem Tortenstück in die Hand zu drücken, betrieb boshaft die Bloßstellung dieser Figur. Die Tapeten mit dem blassblauen Rosenmuster (Ausstattung Johannes Leiacker) spiegelten eine bürgerliche Idylle vor, das war aber auch keine „Innovation“. Der Chor trug am Beginn historisierende Gewänder, wodurch der ansonsten recht schwache Bezug zu Shakespeare hergestellt werden sollte. Die Hauptfiguren waren modern gekleidet, Hamlet trug die unvermeidliche Jean samt T-Shirt, zuerst das Haar à la Zlatan Ibrahimovic zu einem Haarknoten am Hinterkopf zusammengebunden – nur die Tätowierungen sind mir abgegangen. Seiner Ermordung wohnte er aber herausgeputzt bei, beanzugt und mit schwarzem Mascherl wie ein ganz „großer Herr“ (auch wenn die Mutter ihn öfters als „mein kleiner Mann“ angesprochen hat). Loy scheint das Finale so gedeutet zu haben, dass Hamlet selbst den Tod sucht und sich Claudius mehr oder weniger „ins Messer drückt“.

Das Publikum spendete am Schluss allen Beteiligten viel Beifall, fast zehn Minuten lang. Ich persönlich hätte diesen „Hamlet“ – wäre das mitreißende Ensemble nicht gewesen – unter einem etwas „krampfhaft“ auf die Bühne gehobenen Auftragswerk subsumiert, das auf einem sehr mäßigen und dramaturgisch zu sprechtheaternahen Libretto beruht.