PROSERPINA
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Theater Akzent
29. Oktober 2021
Österreichische Erstaufführung

Musikalische Leitung: Walter Kobéra

Inszenierung: Anna Bernreitner
Bühne: Harnah Rosa Öllinger, Manfred Rainer
Kostüm: Devi Saha
Licht: Norbert Chmel


Orchester: anadeus ansemble-wien
Wiener Kammerchor

Proserpina - Rebecca Nelsen





Bildungsbürgerliche Schmerz- und Wonneschauer“
(Dominik Troger)

Die Kammeroper „Proserpina“ von Wolfgang Rihm wurde von der Neuen Oper Wien im Theater Akzent zur österreichischen Erstaufführung gebracht. Das Schicksal der Tochter der Ceres, die von Pluto in die Unterwelt entführt wird, ist ein zeitloser – wenn auch schon einigermaßen hinter unserem kulturellen Horizont verschwundener Stoff.

Aber dieser Stoff ist von Johann Wolfgang Goethe eines kurzen Monodramas für würdig befunden worden. Wolfgang Rihm hat aus Goethes Text eine Kammeroper gemacht, die 2009 in Schwetzingen uraufgeführt wurde. Rihm – Jahrgang 1952 – hat damit die Liebe älterer deutscher Komponisten für antike Stoffe prolongiert, und wenn sogar Goethe dabei seine Finger im Spiel hat, umso besser.

Proserpina befindet sich in einer schwierigen Situation, sie wurde in die Unterwelt entführt, um Pluto als Braut zu dienen. Sie macht eine existentielle Krise durch, sie fühlt sich von Mutter und Vater verlassen, sie kostet von Granatapfelkörnern, ohne zu wissen, dass sie dadurch aufgrund mythologischer Notwendigkeit ewig in der Unterwelt dahinschmachten muss. Aber vielleicht findet sie im Hass auf Pluto ihre Bestimmung? Goethes gehobene Sprache stellt die Figur auf ein ergötzliches klassizistisches Podest, die existentialistische Situation wird durch sprachliches Pathos stilistisch überhöht. Eine Handlungsanweisung für die Lebenspraxis ist diesem Text schwer abzugewinnen. Immerhin verschafft der von Rihm auf das Wort „Labend!“ komponierte Orgasmus, unterlegt von dezent eindeutigem Soprangestöhne, Proserpina und dem Publikum einige lustvolle Takte.

Die Szene mit dem Granatapfel ist der Angelpunkt der Oper – sie ermöglicht Musiktheater im besten Sinne, sie hat etwas von diesen Richard Strauss’schen Mythologemen an sich. Richard Strauss ist der eine Gewährsmann, wenn man auf Rihms Komposition lauscht. Es ist der fortgesponnene „Tonfall“ des „Ariadne-Orchesters“, in der Besetzung verkleinert und verändert, mehr erinnert als ähnlich, mit einer vom Parlando bis zur Koloratur reisenden Protagonistin. Proserpina ist gewissermaßen leidende Ariadne und Zerbinetta in einer Person. Dazu gesellt sich noch eine zauberflötenhafte „Gedankenspur“: Pamina und Königin der Nacht; die drei Knaben aufgesogen vom Chor der Parzen.

Der andere Gewährsmann ist Arnold Schönberg mit seiner „Erwartung“. Schönberg hat die weibliche Existenzkrise allerdings auf einen Text seiner Zeit komponiert. Nun wird man schwer sagen können, das Libretto der Marie Pappenheim könnte sich mit Goethe messen, aber der Unterschied ist doch spürbar: Er hat etwas mit „Authentizität“ zu tun. Es wird kaum zu verargumentieren sein, dass man in Plutos wüstenhaft-schrecklicher „Wohnküche“ heute noch so lamentiert wie vor zweihundertfünfzig Jahren. Rihms Blick auf weibliche Fremd- und Selbstermächtigung ist per se ein historischer, mit „bildungsbürgerlichen“ Schmerz- und Wonneschauern übertüncht. Jede „moderne“ Inszenierung, die in diesen „Elfenbeinturm“ ein paar Fenster brechen möchte, wird damit zu kämpfen haben.

Für die Umsetzung im Theater Akzent hat sich das Regieteam um Anna Bernreitner eine spannende Lösung einfallen lassen. Proserpina wurde wirklich in die Unterwelt verdammt – in die Unterwelt des Orchestergrabens! Dort wurde der Geraubten eine kleine Einzimmerwohnung samt Granatapfelbäumchen eingerichtet. Graue Küche, graue Möbel, graue Bücher – Proserpina eingesperrt in Plutos karger Welt und in fünf Metern Tiefe. Die Aktionen der Sängerin wurden über mehrere Kameras auf eine Projektionswand projiziert, die über die Bühnenbreite gespannt war. Diese Wand war leicht transparent, dahinter links auf der Bühne platziert konnte man den Frauenchor der Parzen erahnen, rechts schemenhaft einige Musiker.

Das Publikum saß also in der Oper, bekam als Bühnenaktion aber nur ein Live-Video zu sehen, während die Stimme ganz „real“ aus der Tiefe empordrang, ganz so wie im Mythos die Klage Proserpinas aus Plutos Reich zu ihren himmlischen Eltern aufsteigt. Diese „Konstruktion“ ermöglichte es zudem, Videomaterial einzublenden oder Szenen zu wiederholen. Proserpina nahm außerdem selbst über die Kameras Kontakt mit dem „voyeuritischen“ Publikum auf. Eine der Kameras wurde geführt und ermöglichte zum Beispiel Großaufnahmen. Durch diese technischen „Versuchsanordung“ wurde die starre Bühnenperspektive aufgelöst und das Schicksal Proserpinas in ganz „socialmediaverseuchtem“ Sinne „veröffentlicht“ und ein medienkritisches Bewusstsein angesprochen.

Rebecca Nelsen hat sich der schwierigen Aufgabe unterzogen, siebzig Minuten lang „Solo-Oper“ zu machen und sich als Proserpina durch eine breite Skala von Emotionen zu wühlen – dieser Aufgabe muss man sich erst einmal unterziehen wollen. Nelsens leichter lyrischer Sopran löste sie mit Bravour, manchmal mit ein wenig Kraft, aber ohne Ermüdungserscheinungen. Dass die „antikisierende“ Sprache mehr „Deklamation“ oder eine deutlichere „Wortsinn-Betonung“ verlangen könnte, wäre überlegenswert, ist aber letztlich eine Frage der Musik. Der Wiener Kammerchor sorgte für die traurig vokalisierenden oder mit Genugtuung Proserpina als Königin anerkennenden Parzen. Das amadeus ensemble-wien unter Walter Kobéra stand Proserpina mit fein schattiertem musikalischem Webstoff zu Seite.

Der Premierenabend war einigermaßen gut besucht. Das Publikum spendete am Schluss eifrig Applaus. Die provisorische Abendkassa der Neuen Oper Wien besitzt nach wie vor keine Bankomatkasse, also Bargeld bereithalten! Das Theater Akzent mit seinem „arbeiterkämmerlichen Barockflair“ liegt ein wenig „mittendrin“ zwischen Belvedere und Theresianum, vom D-Wagen oder von der U1 geht man doch einige Minuten. Als ich auf der Hinreise an der Staatsoper vorbeifuhr, machten die Leuchtstoffröhren, die man außen über der Loggia montiert hat, gerade Werbung für die „Adriana Lecouvreur“-Vorstellung: „Heute singt Elina“ – Rebecca singt noch am 3., 5. und 6 November, Beginn ist jeweils 20 Uhr.