THOMAS CHATTERTON

Aktuelle Spielpläne & Tipps
Forum
Opernführer
Chronik
Home
Zurück

Wiener Volksoper
20.5.2000
Österr. Erstaufführung
Premiere

Dirigent: Oswald Sallaberger

Thomas Chatterton - Urban Malmberg
Aburiel - Peter Pruchniewitz
Sarah Chatterton - Annette Jahns
William Smith - Reinhard Allesandri
Peter Smith - Stephen Chaundy
John Lambert- Rudolf Katzböck
Richard Smith - Bruce Brown
William Barrett - Reinhard Mayr
Georges Symes Catcott - Josef Forstner
Henry Burgum - Franz Waechter
u.a.

In diesem Fall trifft das Vokabel "zeitgenössische Oper" einmal wirklich zu. "Thomas Chatterton" ging vor zwei Jahren an der Sächsischen Staatsoper in Dresden zum ersten Mal über die Bühne. Der Komponist, Matthias Pintscher, ist noch keine dreißig Jahre alt. Das Libretto stammt von Claus H. Henneberg nach einem Stück von Hans Henny Jahn, uraufgeführt 1956.
(Dominik Troger)

(1) Die Hauptfigur des Stücks, Thomas Chatterton, starb verarmt 1770 in London unter mysteriösen Umständen (Selbstmord?), nachdem man ihm seine Karriere als Urheber pseudo-mittelalterlicher Epen nicht abgenommen hatte - gerade 17 Jahre alt. Er hatte sich seine Welt aus Relikten des 15. Jahrhundert aufgebaut, die eine Zeitlang für authentisch gehalten worden waren. Sobald sich aber Chatterton nach Fälschungsvorwürfen zur Urheberschaft bekannt hatte, interessierten weder diese noch jener mehr. Chatterton avancierte in der Folgezeit zum Märtyrer des unerkannten Genies und bot auch für Hans Henny Jahn eine gute Folie, um sozialkritisch die Gesellschaft der Fünfziger Jahre aufs Korn zu nehmen, gewürzt mit einem starken Schuss Homoerotik. Auch in dem gestrafften Libretto bleibt der historische Thomas Chatterton nur ein Vorwand.

(2) Pintscher erklärte in einem Interview, bereits mit 19 über den Jahntext gestolpert zu sein, der ihn vor allem von der sprachlichen Seite fasziniert hätte. "Das Thema ist die wachsende Hybris eines Individuums in seinem sozialen Umfeld", so Pintscher in der Bühne (Ausgabe Mai 2000). Die sozialkritischen kämpferischen Züge, die Jahn dem Text unterlegt hatte, hätten heute so keine Relevanz mehr. Folgt man Pintscher, dann geht es bei Chatterton um das Missraten einer großen Begabung, die an Problemen zerbricht, die sie sich selbst geschaffen hat. (Aber doch wohl auch in einem sozialen Kontext?)

(3) Nun ist es ja kein leichtes Ding, eine Oper zu komponieren, die rund eindreiviertel Stunden lang ist. Ein großes Orchester, eine sehr interessante, breitgefächerte und detailverliebte Instrumentation, das ist schon ein enormer künstlerischer Aufwand, den Pintscher da betrieben hat. Warum also wirklich gerade "Thomas Chatterton"? Ist es die kreative Sexualität des pupertären Chatterton gewesen, die sich unter den Verlockungen des Engel Aburiel aus unerfüllten Leidenschaften in der Mediavistik übt und sich phantasievoll der Strenge eines Mönches aus dem Jahre 1479 unterwirft? Da geht es um Blut, Pest und Tod. Da paart sich Sexualität mit Liebe und Nekrophilie, da dämmert einem schön langsam, dass es hier auch um einen Zug pervertierter Leidenschaften geht, die sich im Umweg über die Phantasie in homophilen Techtelmechteln ausleben. (Was die Inszenierung zwar dezent, aber unglaublich banal mit steter Regelmäßigkeit dem Zuseher vorführte.) In der Phantasie ist der Eros immer stärker, als in seiner Befriedigung. Und so fällt dieser Chatterton letztlich sich selbst zum Opfer, seinen obsessiven Neigungen. Man bedenke, einer seiner Liebhaber bringt sich um. Er möchte ihn noch einmal sehen, doch der Zinksarg ist schon verlötet! Wenn sich also nach einer halben Stunde eine gewisse Langeweile breit macht, dann wohl auch deshalb, weil man fühlt, wie einem als Zuhörer und -seher die Identifikationsmöglichkeiten abhanden kommen...

(4) In gewisser Weise ist dieser "Thomas Chatterton" eine Art von homoerotischem "Frühlingserwachen", ein dämonischer "Werther" der Gleichgeschlechtlichkeit, dem es nie gelingt, sich aus seiner kreativen Triebhaftigkeit zu transzendieren. Dann würde ihm vielleicht die Doppeldeutigkeit seiner gefälschten Wirklichkeit aufgehen, in der er lebt, und die er auf Pergamenten als mönchische Dichtungen des 15 Jahrhunderts ausgibt. Denn sobald er diese Fälschung als Ausdruck seiner Individualität preist, fällt er in ein Nichts. Hier liegt der eigentliche Ansatzpunkt für diesen Thomas Chatterton, wenn man ihn des schwulstes und der Samenergüsse aller Liebesbeteuerungen entkleidete. Wie "originär" kann ein Komponist, ja ein Kunstschaffender, heutzutage überhaupt noch sein? Sind das nicht alles Fälschungen, zusammengeklittert aus jahrhundertealten Traditionen, überkommene Formen und Ausdrücke, die man nur noch in der Reihenfolge verändern kann, in der man sie einem Publikum serviert? Wer vermöchte auch der musikalischen Sprache von Pintscher zu folgen, ohne eine Vielzahl an Assoziationen mitschwingen zu hören? Was oder wer ist Pintscher? Ist Chatterton nicht auch der Mönch Thomas Rowley, der den Weg in ein pesthauchdurchzogenes Bristol des 15 Jahrhunderts weist? Der Weg, den Chatterton zur vermeintlichen Rettung beschreitet, angeleitet vom nekromantisch herbeigerufenen Engel Aburiel, ist zugleich der Weg in seinen Untergang. Die Fälschungen werden immer mehr geliebt werden als die Originale.

(5) Das Regiteam (Inszenierung Tilman Knabe, Bühnebild Alfred Peter, Kostüme Kathi Maurer) ließ den Chatterton in einem blendendweißen Einheitsraum seinen Lüsten nachgehen, der wohl eine Art von Operationssaal oder ähnlich seziererische Räumlichkeiten assoziieren sollte, um hier die Offenlegung eines Psychogramms recht deutlich zur Anschauung zu bringen. Neben der Darstellung sexueller Nöte, (wobei aber die Protagonisten immer züchtig bekleidet bleiben) versuchte man vornehmlich durch bedeutungsvolle Abstraktionen der interpretatorischen Aufgabe gerecht zu werden. Da werden lange Zeichenketten auf den Boden gemalt, damit sie Chatterton am Schluss wieder wegwischen kann (schließlich lautet sein Schlusssatz "Jetzt werden die letzten Zeichen ausgestrichen..."), am Beginn gibt es zwei Chatterton, die parallel agieren u.a. Emotionen oder gar mystisches Klimbim bei der Beschwörung Aburiels gönnt man sich keine. Da wird halt das Licht ein wenig dunkler gemacht, ein Projektor streut einen Lichtengel an die Wand. Chatterton liegt - sinnbildlich gemeint - wie ein Käfer unter dem Mikroskop am hellerleuchteten Objektträger. Wir haben mit ihm kein Mitgefühl, wird signalisiert, wir beobachten, wir zeigen, das was er tut und huldigem einem unbarmherzigen Voyeurismus, der hin und wieder als blendender Projektorstrahl ins Publikum abgleitet. Das mag ein vertretbarer Ansatz sein, und man hätte es als Zuseher auch gerne zugestanden, wenn sich dieser Chatterton wirklich wie ein Käfer oder ein Würmlein im Todskampf eindreiviertel Stunden lang gekrümmt und verkampft hätte. Doch die Personenregie gefiel sich in einer noblen Gestik mit ein paar zweideutigen Untergriffen und verblieb in statuarisch-schreitender Belanglosigkeit. So blieben die Sänger mit der Expressivität des Textes allein gelassen und ihr Singen verpuffte unter dem oftmals viel zu lauten Orchester.

(6) Ja, das Orchester. Nun, vermochte Dirigent Oswald Sallaberger hier durchaus einen homogenen Klangkörper zu gestalten, der die Aufgabe an sich zufriedenstellend bewältigte. Das Problem liegt bei Pintschers Partitur allerdings im Detail. Er liebt seine Instrumente über alles, er arbeitet unglaublich ornamental. Den Feinheiten gilt seine Liebe. Gleichsam jede Instrumentengruppe darf sich einmal kurz in den Vordergrund spielen, fast konzertmäßig, so wie die Celli am Beginn. Dass sich daraus ein kompaktes, über weite Strecken faszinierendes Klangabenteuer ergibt, unterstreicht Pintschers Meisterschaft. Dieser Liebe zur Feinmechanik vermochten aber weder Orchester noch musikalische Leitung gerecht zu werden. Das kann viele Gründe haben, zu kurze Probezeiten für die recht aufwendig gestaltete Partitur, zu wenig Differenzierungsvermögen des Orchesters an sich, was auch immer. Trotz aller Orchesterausbrüche ist dieser Thomas Chatterton - und das scheint mir nach dem ersten Höreindruck essentiell - eine Oper der leisen Töne, voller psychologisierender Vielschichtigkeit. Eine musikalische Gestaltungsbene, die bei dieser Produktion überhaupt nicht realisiert wurde. Nicht nur die Ohren der Zuhörer litten unter der gebotenen Lautstärke und unter dem vorenthaltenen Klanggenuss, den man an vielen Stellen nur erahnen konnte, auch die Sänger wurden - von der Regie schon unterstützungslos auf die Bühne geschickt - in ihren stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten (allen voran Urban Malmberg als Thomas Chatterton) jetzt auch noch aller stimmlichen Nuancen beraubt.

(7) Bleibt in Summe ein interessantes Werk, das durch die wenig geglückte Realisierung mehr Schaden genommen als an Reputation gewonnen hat.