THÉRÈSE RAQUIN

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Kammeroper
18. Dezember 2021
Premiere

Musikalische Leitung: Jonathan Palmer Lakeland
Inszenierung: Christian Thausing
Ausstattung: Christoph Gehre
Lichtdesign: Franz Tscheck

Wiener KammerOrchester

Thérèse Raquin - Julia Mintzer
Camille Raquin - Andrew Morstein
Madame Raquin - Juliette Mars
Laurent - Timothy Connor
Suzanne - Miriam Kutrowatz
Olivier - Ivan Zinoviev
Monsieur Grivet - Hyunduk Kim


Zwischen Satire und Horrorshow

(Dominik Troger)

Die Oper „Thérèse Raquin“ des US-amerikanischen Komponisten Tobias Picker taucht in die Abgründe der menschlichen Seele. Sie folgt der Handlung von Émile Zolas gleichnamigem Erfolgsroman und wird derzeit an der Kammeroper gespielt. (Nachstehende Anmerkungen beziehen sich auf die zweite Vorstellung.)

Die Geschichte von Thérèse Raquin, deren Liebhaber den lästigen Gatten umbringt, und die mit einem Doppelselbstmord aus Schuldgefühlen endet, hat schon eine umfangreiche Rezeptionsgeschichte hinter sich: Film, Theater, Musical, Oper. Der 1867 erschienene Roman ist in seiner kühlen naturalistischen Grellheit ein Meisterstück, abstoßend, provozierend, aber überraschend tiefgängig, was die psychologische Analyse betrifft.

Zola ist es ohnehin wert, gelesen zu werden. Wer das 19. Jahrhundert kennen lernen möchte, nehme seine zwanzigbändige Familiengeschichte der „Rougon-Macquart“ zur Hand – und zwar die ganze und nicht nur die bekannten Bestseller wie „Nana“ oder „Germinal“. In „Thérèse Raquin“ bekommt man einen Vorgeschmack davon und lernt die filmische Beobachtungsgabe des Autors kennen, seine kolportageartigen Spannungssteigerungen und seine schriftstellerische Grausamkeit den eigenen literarischen Schöpfungen gegenüber. Aber das soll kein Vortrag für ein literaturhistorisches Seminar werden.

Auf der Bühne transformieren sich die in „Thérèse Raquin“ aufgeschlagenen Innenwelten zwangsläufig zu Dialogen und es fehlt der Kitt von Zolas minutiösen Beschreibungen und Seelenschilderungen. Es besteht prinzipiell die Gefahr einer aus der notwendigen Verknappung der Handlung resultierenden Verflachung. Die Oper von Tobias Picker ist davon nicht frei. Sie verknappt die Handlung auf Kosten der psychologischen Entwicklung der Figuren und sorgt für melodramatische Zuspitzungen, oft genug mit jenem emotionalen Pathos unterlegt, das US-amerikanische Filme und Fernsehserien so „anrührend“ macht.

In knapp zwei Stunden Spieldauer lässt sich die Entwicklung der Figuren eben schwer adäquat präsentieren: die trostlose Existenz von Thérèse an der Seite ihres Ehemanns Camille, die langsam aufschwellende, triebgierige Liebe zu dessen Freund Laurent, der als Bootsunfall getarnte Mord in der Seine – und später die Raffinesse der Schuldzuweisungen zwischen dem inzwischen verheirateten mörderischen Paar und sein Doppelselbstmord. Außerdem gesellt sich noch die Figur der Madame Raquin hinzu, Camilles Mutter, die später durch einen Schlaganfall gelähmt, in stummduldender Anwesenheit erfahren muss, dass ihr Sohn ermordet wurde und nicht einfach nur ins Wasser gefallen ist.

Picker hat dazu eine Musik komponiert, die italienischen Verismo mit Benjamin Britten und streicherunterlegten „Romantizismen“ abmischt, aber auch vor dissonanten Ausbrüchen und nervösen rhythmischen Spannungssteigerungen nicht zurückschreckt. Den mehr rezitativisch geführten Singstimmen werden in den musikalischen Fluss eingebettete Arien gegönnt, selbstreflexive Ruhepunkte, um das Publikum anteilnehmen zu lassen, während in den emotionalen Ausbrüchen auch die stimmlichen Grenzen ausgelotet werden. Aber in Summe bleibt ein Eindruck moderater, schwebender Zeitlosigkeit zurück, den viele neue amerikanische Opern aufweisen, manche Überzeichnung diktiert das gewählte Sujet. Die Uraufführung fand 2001 in Dallas statt. An der Kammeroper kommt eine Kammermusikfassung aus dem Jahr 2006 zur Aufführung.

Die österreichische Erstaufführung im Haus am Fleischmarkt wird allerdings zum Opfer typischer Regieeskapaden. An der Kammeroper wird die Handlung in einer schäbigen amerikanischen Wohnküche der 1970er-Jahre im Sinne einer Horrorstory erzählt. Die Charaktere werden grell überzeichnet, das donnerstägliche Dominospiel wächst sich beispielsweise zu einer lächerlichen Orgie aus, mit dem Liebhaber in altrosa Unterhose und verspritztem Dosenschaum als Spermaersatz. Im Zuge der Orgie wird Camille in einer Einbaubadewanne ermordet. Am Schluss der Inszenierung steht außerdem kein Doppelselbstmord des Ehepaars, sondern Thérese ersticht Laurent. Dass einige Details mit dem gesungenen Text nicht mehr zusammenpassen, sei nur der Vollständigkeit halber angemerkt, es wird weder die Regie noch die Dramaturgie bekümmern.

Dem Programmheft kann man entnehmen, dass das Regieteam unter der Leitung von Christian Thausing mit dem Komponisten in Kontakt stand, der wahrscheinlich wegen der pandemischen Situation nicht nach Wien anreisen konnte. Also wird die Produktion schon seinen Segen haben. Aber eigentlich haben sich Tobias Picker und sein Librettist Gene Scheer stark an Zolas Vorlage gehalten und dort lauern die Abgründe unter einer geglätteten Oberfläche kleinbürgerlicher Moralvorstellungen, die alles daran setzen, um Normalität vorzutäuschen. Insofern halte ich diese Neuproduktion für unzureichend, auch wenn sich alle Beteiligten mit sehr viel Einsatz dieser szenischen Selbstentäußerung unterworfen haben.

Die Kammeroper hat die Premiere zweimal verschieben müssen: zuerst wegen des Lockdows, dann ist die Sängerin der Titelpartie erkrankt. Für die Premiere am Donnerstag wurde Julia Mintzer aus London eingeflogen, der nur ein paar Tage Zeit blieben, um sich mit der Produktion vertraut zu machen und um die Partie wieder aufzufrischen, die sie zuletzt vor 12 Jahren verkörpert hat. Sie sang auch die zweite Vorstellung. Mintzer bot ein expressives, wandlungsfähiges Porträt dieser Figur, ließ sich im körperlichen Einsatz von den Sexszenen ebensowenig abschrecken wie von Bühnenblut. Ihr leicht dunkler Mezzo vermochte zudem einige Anteilnahme zu erwecken.

Den nachhaltigsten Gesamteindruck hat womöglich Juliette Mars als Madame Raquin hinterlassen, mit ihrer bedrohlichen Gegenwart als gelähmte alte Frau nach dem Schlaganfall. Timothy Connor war ein viriler, extrovertierter Laurent – eine dominante Bühnenerscheinung, der den von Andrew Morstein mit lyrischer Tenor gesungenen Camille in besagter Badewanne killt. Miriam Kutrowatz erweckte als depressive Suzanne Mitgefühl. Ivan Zinoviev (Olivier) und Hyunduk Kim (Monsieur Grivet) rundeten das stark dem Alkohol zusprechende Bühnenpersonal ab. Der an eine Satire grenzende Bühnenaktionismus überdeckte im Grunde genommen zwar die ganze Aufführung, aber die arienhaften Passagen wurden von allen Beteiligten genützt, um sich soweit auch gesanglich zu profilieren.

Leider hat sich das Orchester unter Jonathan Palmer Lakeland von der rüden Gangart auf der Bühne anstecken lassen. Vielleicht hat das auch mit der Kammermusikfassung zu tun. Die Kammeroper war besser besucht als erwartet, die vorderen Reihen und die günstigen Plätze gut gefüllt. Zwischen den Reihen 10 bis 16 gähnte ein großes, schütter besetztes Loch. Das intensive Engagement aller Beteiligten wurde mit langanhaltendem Beifall bedankt.