Unzeitgemäße Betrachtung
(Dominik Troger)
Nach
fast einem Vierteljahrhundert ist Hans Pfitzners „Palestrina“ wieder
auf die Staatsopernbühne zurückgekehrt. Christian Thielemann am Pult
war der „Promoter“ dieser Wiederaufnahme einer Produktion aus dem Jahr
1999, die sich in vielen Details zu einer bemerkenswerten Aufführung
rundete.
Oft wurde Hans Pfitzners „Musikalische Legende“ in Wien in den letzten
Jahrzehnten nicht gerade gespielt. Die Neuproduktion von 1999 in der
Regie von Herbert Wernicke stand bis 2001 laut Online Staatsopernarchiv
nur zwölf Mal auf dem Spielplan. Außerdem wurde das ohnehin schon
fragwürdige Renommee des Komponisten Anfang der 2000er-Jahre durch neue
musikhistorische Forschungsergebnisse quasi einzementiert. Und wenn
Pfitzner schon zu Lebzeiten als schwieriger Charakter gegolten hat, so
sind heute verständlicher Weise seine Versuche sich dem
Nationalsozialismus anzudienen sowie sein chauvinistischer
Antisemitismus der Pflege seines Werkes umso hinderlicher – noch dazu,
wenn von Teilen der Öffentlichkeit Kunst und Künstler zunehmend unter
moralischen Gesichtspunkten bewertet werden.
Nun kann man solchen Bedenken guten Gewissens entgegenhalten, dass
inhaltlich der „Palestrina“ damit nichts zu tun hat, uraufgeführt im
vorletzten Jahr des I. Weltkriegs. Doch hier kommt ein weiteres „Manko“
ins Spiel: Wen interessiert in Zeiten gesunkener Aufmerksamkeitsspannen
und eines dekonstruktivistischen, sinnverneinenden Kunstverständnisses
noch die im Werk ausführlich und historisch breit verhandelte
Künstlerproblematik? Künstlerdepressionen werden heutzutage über
soziale Medien in minutenschnelle ausgelebt, wer tut sich da noch eine
vierstündige Oper an?
Aber es gibt durchaus ein Publikum, das diesem Werk mit Konzentration
zu Folgen versteht. Und Pfitzners Opus traf an diesem Abend in der
Wiener Staatsoper auf ein sehr verständnisvolles Publikum – und wenn
man den Blick übers Auditorium schweifen ließ, dann sah man gleich, es
fehlte an dem üblichen großen Touristenaufkommen. Es war sehr viel
Stammpublikum im Haus, das der Vorstellung mit starkem Interesse und
auffallend wenig Gehuste und anderen Störgeräuschen beiwohnte. Viele
Besucher hatten noch Erinnerungen an frühere Aufführungen des Werkes
gegenwärtig. In den Pausenfoyers fielen dann auch Sängernamen aus
längst vergangenen Epochen und ein wenig wurde einem das „Unzeitgemäße“
dieses Abends wohl bewusst. (Den Altersdurchschnitt des Publikums
wollte man aber lieber nicht ermitteln, weil man sich dann selbst hätte
dazu rechnen müssen.)
Regisseur Herbert Wernicke hat in seiner nüchternen, recht statischen Inszenierung die Handlung in einer unbestimmten
Gegenwart verortet und in einen bühnenweiten Konzertsaal gepackt,
den im Hintergrund die Pfeifen einer riesigen Orgel abschließen. Die
Szene mit den Erscheinungen der Meister wird sehr prosaisch gelöst und
kontrastiert zum visionär-mystischen Prozess künstlerischer
Inspiration, die Palestrina wie ein kurzer Schaffensrausch überfällt.
Dem Werk wird damit szenisch wenig geholfen. Die Einheitsbühne dient
auch dem Konzilsakt als Spielfläche. Hier gibt es keine am Kostüm
ablesbare „Geschichtsmalerei“, was den pointierten historischen
Charakter dieses zweiten Aufzugs verwässert. Mit dem Auftritt des
Papstes in einer Proszeniumloge hat es sich die Regie auch im dritten
Aufzug sehr leicht gemacht.
Positiv hat überrascht, dass es wirklich gelungen ist, für die meisten
Partien (und der Besetzungszettel ist sehr lange!) eine adäquate
Besetzung zu finden, und dass es vielen Ausführenden gelungen ist, sich
sehr textbezogen und Ausdrucksstark in die Aufführung einzubringen.
Davon hat der Konzilsakt stark profitiert, der mit seinen vielen Rollen
ein ganzes Panoptikum katholischer Machtherrlichkeit und menschlicher
Schwächen zeichnet, durchdrungen vom manchmal liebevollen, manchmal
sarkastischen Blick des Komponisten.
Die Titelpartie wurde von Michael Spyres
verkörpert. Der US-Amerikaner hat sein Studium in Wien auch sprachlich
genützt und kam ausgezeichnet mit Pfitzners Blankversen und mit den
darauf komponierten Noten zurecht: ein nachdenklicher, ein in der
seelischen Not auch stimmkräftiger, ein im Abschiednehmen des dritten
Aufzugs den Lebenszweifeln sinnierend enthobener, gottergebener
Palestrina. Einen leidende Zug im Timbre, Kennzeichen so manches
Rolleninterpreten, diese Patina an Lebens- und Bühnenerfahrung (gepaart
mit einer leichten Überbeanspruchung langgedienten lyrischen
Tenormaterials) hat man bei Spyres nicht gefunden, denn diesen
Palestrina hat die Schaffenskrise in tenoraler Blüte heimgesucht.
Spyres zur Seite wurde Kathrin Zukowski
als Ighino schon in der ersten Pause im Foyer ausdrücklich gelobt: ein
lyrischer Sopran, klangschön und stilistisch passend, zuerst im
Gespräch mit der ebenfalls sehr guten Patricia Nolz
(Silla), dann auch im dritten Akt voller Empathie und
textbezogener Ausdrucksstärke, ein mit Begeisterung aufgenommes
Hausdebüt.
Wolfgang Koch brachte als
Borromeo mit etwas trockenem Bariton die ganze emotionale Spannweite
dieses musikliebenden und zugleich machtbewussten Kirchenfürsten nur
phasenweise über die Rampe, vor allem dem Monolog im ersten Aufzug
fehlte es etwas an stimmlicher „Souveränität“. Im zweiten Aufzug
profilierten sich Michael Laurenz
als Novaggerio, der mit Heinz Zednik in dieser Partie einem quasi
unübertrefflichen Vorbild nachzueifern hatte. Aber Laurenz machte seine
Sache sehr gut, war auch pointenbezogen und seine Tenor verfügte auch
über die gefragte despotische Schärfe. Matthäus Schmidlechner
gab einen köstlichen, stimmlich souveränen Bischof von Budoja – auch so
eine Figur, die man rasch liebgewinnt als humorvoll-naiven
Unruhestifter. Mit provokanter Stimmkraft inszenierte sich Adrian Eröd als Graf Luna, ein ebenso beeindruckender Beitrag zum Konzilsakt.
Wolfgang Bankl setzte als Madruscht Akzente, ebenso Clemens Unterreiner als Ercole Severolus. Der Auftritt des Patriarchen Abdisu, von Hiroshi Amako gespielt und gesungen, hatte jenen karikaturhaften Zug, den Pfitzner für die Rolle ersonnen hat. Für den Morone von Michael Nagy
hätte ich mir wegen seiner wichtigen Funktion am Konzil stimmlich
sonorere Leuchtkraft gewünscht. Zu diesem Reigen bewährter
Kirchenmänner gesellte sich im dritten Aufzug noch der Papst, den Günther Groissböck
beisteuerte: mehr kurz durch Palestrinas Messe zu Demut geläutertes
Machtbewusstsein zeigend, als von balsamischer Würde durchdrungen. Ohne
jetzt auf alle Kapellsänger und alte Meister einzugehen, sei noch Monika Bohinec erwähnt, die mehr „saftig“ als „ätherisch“ den kurzen, aber wichtigen Auftritt der Lukrezia absolvierte.
Christian Thielemann
waltete als Dirigent im Orchestergraben. Er querte ihn aufgrund einer
vorangegangenen Achillessehnenoperation auf zwei große Achselkrücken
gestützt. Thielemann schätzt das Werk und das spürt man in jeder Note.
Schon das Vorspiel zum ersten Aufzug entwickelte sich mit ruhigem Fluss
und „parsifalesken“ Klangfarben, ausgehend von einer
kammermusikalischen Preziose mit goldgetöntem Flötenklang. Ein
prächtiges Stück Musik, dass sich hier entfalten durfte. Aber ob
manchmal die Emotion zu stark zurückgenommen wurde? Vielleicht.
Palestrinas Zweifel im ersten Aufzug, wenn ihn die
Daseins-Sinnlosigkeit erfasst, die Schaffenszweifel im Hin- und
Hergewoge seiner Gefühle, war da mancher Übergang nicht doch eine Spur
zu schnell genommen? Thielemann ließ das Orchester auch die Schroffheiten der Partitur auskosten,
etwa im Konzilsakt, diesem von Richard Wagner
meistersingerhaft-inspirierten „Historiengemälde“. Sehr stimmig und
melancholisch geriet das Finale des dritten Aufzugs von Thielemann
gehaltvoll zum Ausklingen gebracht. Der starke Schlussapplaus dauerte
rund eine Viertelstunde lang. Drei Aufführungen werden noch gespielt,
drei Aufführungen für Opern-Feinschmecker und alle die es werden
wollen.