LE MALENTENDU

Aktuelle Spielpläne
Forum
Opernführer
Chronik
Home

Semperdepot
24. Februar 2017


Musikalische Leitung: Walter Kobéra

Regie: Christoph Zauner
Ausstattung: Diego Andrés Rojas Ortiz
Video: Chris Ziegler
Klangregie: Christina Bauer
Elektronik: Alexis Baskind
Lichtdesign: Norbert Chmel

amadeus ensemble-wien

Österreichische Erstaufführung:
21. Februar 2017

Mutter - Edna Prochnik
Martha - Anna Davidson
Jan - Kristján Jóhannesson
Maria - Gan-ya Ben-gur Akselrod
Der alte Mann - Dieter Kschwendt-Michel


„Multimedialer Existentialismus“
(Dominik Troger)

Die Neue Oper Wien hat eine neue Oper aus Südamerika nach Wien gebracht: „Le Malentendu“ – nach dem gleichnamigen Theaterstück von Albert Camus – ging im Semperdepot in Szene.

Die Kammeroper ist 2016 in Buenos Aires uraufgeführt worden, macht jetzt einen Zwischenstopp in Wien und reist dann nach Madrid weiter. Die Aufführung fand im Rahmen einer Kooperation der Neuen Oper Wien mit dem Teatro Colon (Argentinien), den Teatros del Canal & Teatro Real (Madrid) und dem CIRM (Centre National de Création Musicale) statt.

Camus „existentialistischer Thriller“ „Le Malentendu“ („Das Missverständnis“) stammt aus den 1940er-Jahren. Die Uraufführung ging 1944 in Paris über die Bühne und war kein Erfolg. Hierzulande ist das Stück seit dem Jahr 2014 stark präsent. Eine Inszenierung von Nikolaus Habjan am Schauspielhaus Graz machte Furore. Sie hat das von Camus mit Pathos aufgeladene „Schicksalsdrama“ geschickt durch den Einsatz von Handpuppen verfremdet und damit einen Publikumsrenner gelandet. Die Produktion wurde letzte Saison ans Wiener Volkstheater übernommen und steht immer noch auf dem Spielplan.

Eine bessere Öffentlichkeitsarbeit für die Oper „Le Malentendu“ hat sich die Neue Oper Wien kaum wünschen können, zumal Komponist Fabián Panisello und Librettist Juan Lucas das Stück zwar gekürzt, aber die Handlung im Wesentlichen unverändert übernommen haben. Mutter und Tochter betreiben eine Pension, ermorden Gäste um an ihr Geld zu kommen und entsorgen die Leichen im Fluss. Als eines Tages der Sohn bzw. Bruder zurückkehrt, den sie nicht erkennen und der sich ihnen auch nicht zu erkennen geben will, wird diesem dieselbe rüde Behandlung zuteil. Erst nach dem Mord enthüllt der Reisepass seine Identität. Mutter und Tochter begehen Selbstmord, die Frau des Mannes bleibt verzweifelt zurück.

Die Oper dauert ca. eindreiviertel Stunden. In der ersten Szene wird die Bühne von Jan (dem Sohn), der sich von seiner Frau Maria verabschiedet, sowie von Martha und ihre Mutter, die ein Zimmer in der Pension für einen neuen Mieter adaptieren, parallel bespielt. Dann wird Szene für Szene linear abgespult. Der Oper ist ein Präludium vorangestellt und mehrere längere Zwischenspiele trennen die großen Handlungsblöcke.

Die Erklärungen des Komponisten im Programmheft lassen darauf schließen, dass er einen enormen – auch technischen – Aufwand bei der Umsetzung seiner musikalischen Vorstellungen betrieben hat. Die Sängerinnen und Sänger agieren mit Microports, es gibt Zuspielungen vom Tape. Das Live-Orchester besteht aus 14 Musikern, denen eine elektronische Hülle verpasst wird. Das akustische Erlebnis wird derart „multimedial“ aufgeblasen und generiert einen mittels Lautsprecher verstärkten Klangraum, in dem Soundcollagen aus Geräuschen, Flüstern, Schlagwerkkaskaden, Saxophoneinwürfen, Keybordsequenzen oder gar einem dunklen streichergrundierten Glissanditeich wie Wasser die Zuhörer umsprudeln und nach Luft schnappen lassen. Das Publikum soll in das Fatum der Bühnenfiguren hineingezwungen werden – sozusagen musikalisch „gewaterboarded“ – und diesbezüglich hat der Komponist keinen Aufwand gescheut.

Als souveränste stimmliche „Wellenreiterin“ erweist sich die Partie der Martha: hohe Tessitura, von Panisello gesanglich an die existentialistische Grenzerfahrung herangeführt, um diese Grenze mit einer fast unverschämten Koketterie bis zum konsequenten Selbstmord abzuschreiten. Marthas Sopran bewahrt sich dabei die Verführungskraft des Bösen, obwohl sie doch tief in ihrer Seele von der Sehnsucht nach „besseren Verhältnissen“ ganz zermürbt ist. Martha wird zur Radnabe dieser Oper, zur Herausforderung, an der sich die übrigen in expressiven Wortduellen messen müssen. Jans Frau Maria wird vom Komponisten ohne Rücksicht auf Verluste noch ein Stück weiter getrieben, in eine stimmliche Kampfzone, wo es „hyperhysterisch“ schon an der Glaubwürdigkeit der Figur kratzt.

Jan, der Sohn und Bruder, wird von der narzisstischen Idee geleitet, dass ihn Mutter und Tochter nach Jahren der Abwesenheit doch erkennen müssten. Aber er hat wohl auch Skrupel, seine Identität aufzudecken, war er doch in der Fremde, hat sich ein gewisses Vermögen erarbeitet, während dessen seine Mutter und seine Schwester in ärmlichen Verhältnissen ihren Geschäften nachgegangen sind. Die Mutter darf am Totenbett des Sohnes für besinnliche gesangliche Momente sorgen – für den Zustand der Erschöpfung vor dem endgültigen Zusammenbruch.

Die fünfte Figur dieses Dramas, ein alter Mann, das Faktotum, hat nur das Wort „Nein“ von sich zu geben – eine Aufgabe, mit der sich der betreffende Sänger in Anbetracht der stimmlichen Herausforderungen, mit denen etwa Martha und Maria konfrontiert sind, eher beruhigt als unterfordert fühlen wird. Panisello erwähnt in einem Interview im Programmheft, dass er in diesem Alten eigentlich mehr gesehen hat, sozusagen den Puppenspieler im Hintergrund. Im „Nein“, mit dem dieser der verzweifelten Maria am Schluss der Oper seine Hilfe verweigert, schleudert er wie ein unbeugsamer Gott den Menschen ganz zurück in seine eigene, hilflose Existenz.

Szenisch wurde mit einer Guckkastenbühne gearbeitet – und das war doch überraschend, wenn als Spielort eine der Semperdepothallen gewählt wird. Da hat man also in diesen Raum eine schmale Tribüne hineingestellt, anstatt die besondere Architektonik der Säulenhalle zu nützen – und das Publikum durfte sich für 35 Euro und bei Saunatemperaturen in den eng bestuhlten Reihen wie die sprichwörtlichen Sardinen in der Dose fühlen.

Die Kompaktheit diese Aufbaus hatte wahrscheinlich den Zweck, ganz auf das „Missverständnis“ zu fokussieren – was durch den reichlichen Einsatz von projizierten Videos (Chris Ziegler) auch gelungen ist: Videos, die für dreidimensionale Wasserleichen ebenso gesorgt haben wie für weiße Gischtspritzer, die einen im Einklang mit der Musik sozusagen in das visuell-akustische Rauschen eines Wasserfalls versetzt haben. Die üppige Videooptik, die vor allem beim Präludium und den Zwischenspielen zum Einsatz kam, wurde durch eine einfache, die Handlungszeit der Oper widerspiegelnde Szene ergänzt.

Die Besetzung war sehr gut gewählt – im Zentrum Anna Davidson als Martha, die trotz der schwierigen Partie ihren Sopran nicht unterkriegen ließ, und deren Stimme sich in dem sprudelnden Gewühle mit lyrischem Charme zu behaupten wusste. Gan-ya Ben-gur Akselrod hatte sich als Maria in das stimmfordernde Schicksal des kompositorischen „Hyperhysterismus“ zu fügen während Edna Prochnik der Mutter eine passend Mezzostimme mit leicht melancholischem Einschlag lieh. Kristjan Johannesson warb mit sympathischem Bariton um Jans Anliegen. Dieter Kschwendt-Michel hatte als alter Mann den ganzen Abend lang Zeit, auf sein „Nein“ hinzusteuern. Walter Kobera sorgte als musikalischer Leiter für die Live-Musik des Amadeus Ensembles-Wien, das vom Publikum verborgen hinter der Bühne platziert war. Die hier rezensierte zweite Aufführung wurde vom Publikum lange und ausgiebig beklatscht.

Fazit: Die akribisch gearbeitete Produktion scheint beispielgebend für konsequent umgesetztes, multimediales, zeitgenössisches Musiktheater. Ob die Komposition von Fabián Panisello alleine den Abend hätte tragen können, diesbezüglich hege ich einige Zweifel – aber ist nicht schon Camus starkes Stück die „halbe Miete“ für eine gelungene Aufführung?

Weitere Aufführungen gibt es noch am 25. und am 27. Februar.