DIE JUDITH VON SHIMODA
Aktuelle Spielpläne
Forum
Opernführer
Chronik
Home

Theater Akzent
7. November 2023
(Premiere war am 2.11.23)

Musikalische Leitung: Walter Kobéra

Inszenierung: Carmen C. Kruse
Bühne, Kostüm, Video:
Susanne Brendel
Ursprüngliche Konzeptentwicklung: Philipp M. Krenn
Lichtdesign: Norbert Chmel

Orchester: amadeus ansemble-wien
Wiener Kammerchor

Okichi - Anna Davidson
Saito - Alexander Kaimbacher
Ofuku & Clive - Megan Kahts
Tsurumatsu & Kito - Martin Lechleitner
Henry Heusken & Akimura & 2. Stadtverordneter
-
Harald Hieronymus Hein
Osai & Ray - Gan-ya Ben-gur Akselrod
Townsend Harris & 1. Stadtverordneter - Timothy Connor
Fürst Isa & Alter Mann & Sänger - Karl Huml





Heldinnen haben es besonders schwer“
(Dominik Troger)

Ein schwaches Theaterstück wird nicht zwingend besser, wenn man eine Oper daraus macht. Die Neue Oper Wien liefert mit „Die Judith von Shimoda“ im Theater Akzent gerade den Beweis dafür.

Schriftsteller schreiben viel, wenn der Tag lang ist, und vieles kommt über das Entwurfsstadium nicht hinaus. Je berühmter die Namen, umso größer die Gier der Nachwelt, den Geistesgrößen posthum noch ein neues, letztes „Meisterwerk“ abzutrotzen. Manchmal funktioniert das sogar. In diesem Fall hätte Bertolt Brecht aber noch alle Zeit der Welt gehabt, um „Die Judith von Shimoda“ fertigzustellen. Er hat es nicht getan. Er wird schon gewusst haben warum.

Er hat das Projekt im finnischen Exil begonnen, als er bei der Schriftstellerin Hella Wuolijoki einige Monate zu Gast war, und ist dabei als Vorlage einem Theaterstück des japanischen Schriftstellers Yamamoto Yüzö gefolgt. In Brechts Nachlass haben sich später fünf Szenen der „Judith von Shimoda“ gefunden, der Rest ist erst Jahrzehnte später in Finnland in finnischer Übersetzung aufgestöbert worden. Der Text wurde rückübersetzt und eine Spielfassung erstellt, die 2006 beim Suhrkamp Verlag erschienen ist. Wieviel Brecht in diesem Stück wirklich steckt, ist ohne Studium der Quellen nicht zu beurteilen. Erschwerend für die Beurteilung des Musiktheaterstücks „Die Judith von Shimoda“ kommt hinzu, dass die Anpassungen berücksichtigt werden müssten, die der Librettist Juan Lucas vorgenommen hat. Das ist an dieser Stelle nicht zu leisten, deshalb zurück zu den Fakten, dieser rund 110 Minuten langen Aufführung.

Brechts etwas platte, agitative Sprache ist bekannt, sie hat in den letzten Jahrzehnten viel Staub angesetzt. Zu viele Nachahmer haben sie ausgebeutet und banalisiert. Das Hinterfragen, der ihn ihr verpackten politischen Botschaften und des Menschen Brecht selbst, haben an seinem Image gekratzt: Brecht ist in die Jahre gekommen. Wen man sich nun eines Textes und Stoffes annimmt, von dem Brecht offensichtlich selbst nicht überzeugt war, multiplizieren sich die gemachten Einwände. Das Resultat ist eine Ansammlung von „Stehsätzen“, die das Brechtsche „Diktum“ bis in die Fadesse treiben.

Ich hege ohnehin den Verdacht, dass Brecht angesichts des Zweiten Weltkriegs und letztlich wegen der Atombombenabwürfe der Amerikaner den Glauben an die Geschichte einer japanischen Geisha verloren hat, die tabubrechender Weise einen amerikanischen Regierungsbeamten mit „Milch“ versorgt, damit dieser nicht von Schlachschiffen aus die Stadt Shimoda beschießen lässt. Das kleine unbedankte Heldentum der Geisha Okichi, die sich mit ihrer Tat einer massiven sozialen Ächtung aussetzte, verblasst dann doch zu stark. Man spürte es während der Aufführung, wenn die „Heldentat“ Okichis in dem rettenden Aufschrei des magenkranken Generalkonsuls kulminiert: „Die Milch gab mir das Leben zurück!

Brecht dürfte sich dieser Herausforderung bewusst gewesen sein. Die im Titel ausgesprochene Verknüpfung mit der biblischen Judith, die Holofernes seines Hauptes beraubt hat, soll die Tat der Geisha erhöhen, überhöhen, ihr eine Beispielhaftigkeit im Kleinen verleihen, die sich an den Größten messen kann. Natürlich lässt sich diese „Verknüpfung“ ideologisch begründen, ein „Kommunismus“ des Heldentums, im dem ein abgeschlagenes Feindeshaupt soviel zählt wie eine Kanne Milch. Aber es könnte auch sein, dass Brecht mit der Titelgebung die dramaturgische Nacktheit Okichis mit ein paar Metern an heroischem Stoff bedecken wollte.

Okichis Heldentat reicht jedenfalls nicht aus, um ihr weiteres Bühnenschicksal zu begründen, auch wenn deshalb große Teile des sozialen Umfelds ihr sehr kritisch gegenüberstehen: Sie gleitet in den Alkoholismus ab, ihre Beziehung geht in die Brüche. Ähnliche Geschichten haben bereits die Naturalisten des 19. Jahrhunderts in psychologisch viel fundierter begründete Romane gepackt, in denen statt einer japanischen Geisha zum Beispiel eine Pariser Prostituierte oder eine Dienstbotin ihren „Abstieg“ machten. Im Jahr 2023 ist man damit ziemlich „spät“ dran.

Auf der Bühne wirken solche Geschichten schnell abgeschmackt und außerdem muss man sie anders erzählen. Brecht hat das offenbar versucht und eine Rahmenhandlung eingezogen, um ein Theater auf dem Theater zu kreieren, in dem ausländische Gäste eines reichen Japaners Szenen aus Okichis Leben vorgespielt bekommen. Die Gäste melden sich zwischen den Szenen in Intermezzi zu Wort, in denen sie mehr oder weniger plattitüdenhaft diese Szenen kommentieren. Aber das löst nicht das Problem eines linearen Erzählens, in dem der soziale Abstieg Okichis zu schwach begründet wird – und noch dazu im Rahmen einer Inszenierung, die diesen Abstieg nicht nachvollzieht. Szenisch und musikalisch bleibt sich Okichi immer dieselbe, und wenn sie sich einmal zentral im Handlungsablauf positioniert und zu einem „Rap“ aufrafft, wenn sich widerständig die E-Gitarre regt, dann ist dieser Widerstand nur kurz – und szenisch und gesanglich viel zu zahm umgesetzt.

Trotz Brechtscher Dramentheorie, ohne ein gewisses Mitgefühl, ohne ein gewisses Verständnis für das Bühnenschicksal der Figuren, bleibt doch alles sehr abstrakt, eine Gedankenspielerei über „ausgebeutetes Heldentum“ oder das „böse Patriarchat“. Ob es geholfen hätte, mit Rückblenden zu arbeiten, ob es geholfen hätte, manche Szenen zu verlängern, andere zu streichen? Vielleicht. Die gebotene Form als zeitlose „Versuchsanordnung“ auf offener Bühne hat zumindest mein Interesse nicht zu wecken vermocht.

Carmen C. Kruse hat die Inszenierung, der heuer bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführten Oper, erst relativ kurzfristig von Philipp M. Krenn übernommen. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, warum die Konturen der einzelnen Figuren zu stark im Ungefähren bleiben (einige Mitwirkende mussten mehrere Bühnenfiguren verkörpern, die Unterscheidung zwischen den einzelnen Charakteren war für das Publikum nicht einfach). Und wenn man den Generalkonsul der Vereinigten Staaten im Schlafrock und in schwarzer Unterhose auftreten lässt, macht man es dem Publikum doppelt schwer, die Heldentat von Okichi zu würdigen: Dieser nach Milch greinende Waschlappen-Mann kann doch keine ernstliche Bedrohung darstellen, um eine Heldentat (!) anzuregen? Außerdem wurde die Handlung szenisch aller historischen oder lokalen Bezüge enthoben und in einem modernen kostüm- und geschlechtsunspezifischen „Allerlei“ auf einer leeren Bühne positioniert. Ich halte das für einen Fehler, weil die Handlung aus europäischer Sicht eigentlich nur vor dem Hintergrund der politischen Öffnung Japans Mitte des 19. Jahrhunderts zu verstehen ist. (Das historische Vorbild Okichis lebte laut Wikipedia von 1841 bis 1890.)

Auch das Abgleiten der Bühnen-Okichi in den Alkoholismus hätte einer viel detaillierten Personenführung bedurft, beim Darstellen solch extremer Charaktere entscheiden Nuancen über die Glaubwürdigkeit – und der Versuch, den Alkoholismus mit einem gehörigen Schuss an emanzipatorischem Potential aufzumotzen, hat an der Glaubwürdigkeit von Laster und „Berufung“ genagt. Im Programmheft wird die Regisseurin mit der These zitiert, Okichi emanzipiere sich als Aktivistin und Künstlerin. Das kann man jetzt glauben oder auch nicht. Aber im Finale beginnt Okichi ein großes Gesicht auf den Bühnenboden zu malen, das sich in der schräggestellten Wand des Bühnenhintergrundes spiegelt. Sie kuschelt sich, menschliche Wärme suchend, an die Nase dieses Gesichtes. So entstand zu guter Letzt und nach zähem Fortschreiten der Handlung doch noch ein Moment der Berührung, das Gefühl, dass hier ein Mensch seiner Einsamkeit entfliehen möchte, um einem anderen, um einem geliebten Menschen nahe zu sein.

Fabián Panisellos Musik kann auch nicht retten, was eigentlich nicht zu retten ist. 2017 hat die Neue Oper Wien seine Oper „Le Malentendu“ – nach dem gleichnamigen Theaterstück von Albert Camus – gespielt. Aber „Le Malentendu“ ist ein anderes Kaliber als dieser „verhatschte“ Brechtaufguss. Panisello bemüht natürlich wieder den ganzen Apparat zeitgenössischen Musiktheaters samt Elektronik; eine E-Gitarre und ein Akkordeon dürfen nicht fehlen. Die Singstimmen sind teilweise sehr extrem geführt, teilweise versuchen sie durch Sprechgesang den Text verständlich zu halten. Vor allem Okichis Sopran muss sich arios immer wieder in höchste Höhen schrauben, aber ohne dass dadurch eine psychologische Ausdifferenzierung gelänge. Die E-Gitarre ist Okichi zugeordnet, setzt sich wie erwähnt bei einem „Rap“ stark in Szene. Aber letztlich gelingt es auch der Musik nicht, die Handlungsteile zu verschmelzen. Es gibt wenige Passagen, die einen zur „Hellhörigkeit“ verlocken, wie etwa ein Streichersolo im Übergang zum Finale, wenn sich die Fragilität und Gebrochenheit von Okichis Leben musikalisch ausformuliert, oder der Orchesteraufschrei im Übergang zu einer Ballade, in der langatmig und schwermütig von der Heldentat Okichis erzählt wird und die wie eine musikalische „Antithese“ auf eine herkömmliche Brecht-Ballade anmutet.

Im Mittelpunkt stand die Okichi der Anna Davidson, ein heller lyrischer Sopran mit viel Elastizität, um sich von den gesanglichen Anforderungen nicht unterkriegen zu lassen. So richtig packen konnte sie einen aber nur selten, etwa wenn sie ihre soziale „Widerständigkeit“ mit dem Verbrennen einer ihr almosenhaft geschenkten Banknote auf eine absurde Spitze treibt. In der Darstellung hat sie – wie die ganze Produktion –die „Komfortzone“ dieser „Versuchsanordnung“ eigentlich nie verlassen. In den Szenen mit Saito (Alexander Kaimbacher) oder Tsurumatsu (Martin Lechleitner) stellten sich dann doch hin und wieder Momente einer theatralischen Verdichtung ein. Seelische Zuwendung erhielt Okichi von Megan Kahts als Ofuku. Karl Huml musste besagte Ballade in depressiv-tiefen Tönen beisteuern, das ist ihm gelungen. Am Pult stand wieder umsichtig Walter Kobéra.

Ich saß auf dem Balkon und fand es teilweise etwas zu laut für den kleinen Saal. In der „Rap“-Szene hat die E-Gitarre den Chor der aufmüpfigen Frauen akustisch an die Wand gespielt. Martin Lechleitner war am Beginn wegen einer Indisposition angesagt worden, er hat dankenswerter Weise seinen Part trotzdem übernommen. Womöglich hätte die Vorstellung sonst abgesagt werden müssen. Die dritte Aufführung (von vier) im Theater Akzent war – dank der Anwesenheit von Schulklassen – sehr gut besucht. Auch für die letzte Aufführung am 9. November dürfte nur mehr ein begrenztes Kartenkontingent verfügbar sein.

In einem Werbefolder lässt die Neue Oper Wien ihr Publikum wissen, dass es sich für den Herbst 2024 auf die nächsten Vorstellungen freuen darf. Wenn das bedeutet, dass das Unternehmen weitergeführt werden kann, obwohl vor zwei Jahren eine von der Stadt Wien eingesetzten Theaterjury unverständlicher Weise die Streichung wichtiger Fördergelder empfohlen hat, ist das eine außerordentlich gute Nachricht!

PS: Im anliegenden Bufett der Arbeiterkämmerer kann man sich bei leiser Hintergrundmusik vor der Vorstellung noch laben. Und wer keinen griechischen Wein trinkt, bekommt selbigen akustisch von Udo Jürgens serviert. Das waren noch Zeiten ...