ORLANDO

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Wiener Staatsoper
8. Dezember 2019
Uraufführung

Musikalische Leitung: Matthias Pintscher

Regie: Polly Graham
Bühnenbild: Roy Spahn
Video: Will Duke
Kostüme: Comme des Garçons
Haarkreationen: Julien D'ys
Masken: Comme des Garçons, Stephen Jones
Licht: Ulrich Schneider
Bewegungsregie: Jenny Ogilvie
Live Electronics und Sounddesign: Markus Noisternig, Gilbert Nouno, Clément Cornuau, Olga Neuwirth

Orlando - Kate Lindsey
Narrator - Anna Clementi
Guardian Angel - Eric Jurenas
Queen/Purity/Friend of Orlando's child - Constance Hauman
Shelmerdine/Greene - Leigh Melrose
Pope - Christian Miedl
Orlando's child - Justin Vivian Bond
Sasha/Chastity - Agneta Eichenholz
Modesty - Margaret Plummer
Dryden - Marcus Pelz
Addison - Carlos Osuna
Duke - Wolfgang Bankl
Doctor 1 - Wolfram Igor Derntl
Doctor 2 - Hans Peter Kammerer
Doctor 3 - Ayk Martirossian
Orlando's girlfriend / Leadsängerin - Katie La Folle
Leadsängerin - Ewelina Jurga
Putto - Emil Lang

u.a.m.


„Langatmiger Premierenabend“

(Dominik Troger)

Die Wiener Staatsoper hat ihr Auftragswerk – „Orlando“ von Olga Neuwirth – zur Uraufführung gebracht. Der Abend dauerte inklusive einer Pause dreieinviertel Stunden. Die „fiktive musikalische Biographie in 19 Bildern“ ist vom gleichnamigen Roman der Autorin Virginia Woolf inspiriert worden.

Virginia Woolfs „Orlando“ erzählt als biographischer „Bewusstseinsstrom“ und mit ironischer Feder zugespitzt die Geschichte eines Mannes, der zur Frau wird, und quasi unsterblich ist. Die Geschichte beginnt im Jahr 1598 und endet im Jahr 1928 – dem Erscheinungsjahr des Romans. Woolf nimmt eine ganz spezielle Erzählhaltung ein, sie schreibt keinen Roman, sondern eine Biographie – wodurch sich immer wieder eine spürbare Distanz zwischen Erzählerin, Lesenden und Erzähltem schiebt und zugleich der Versuch historischer Wahrheitsfindung vorgetäuscht wird. Es scheint schwierig, dergleichen fürs Theater nutzbar zu machen.

Olga Neuwirth und Catherine Filloux haben für ihre Oper ein „Stationendrama“ in 19 Bildern angefertigt, das eine Erzählerin (Narrator) begleitet. Die von Woolf eingenommene Perspektive der Biographie wurde dadurch gewahrt. Dieser Narrator ist am Beginn stark präsent, verliert dann aber seine dominierende Funktion. In den ersten Szenen folgt die Oper noch dem Buch – wobei notgedrungen von Woolfs virtuosem Text nur „Splitter“ übrig bleiben. Die 10. Szene (vor der Pause situiert) befasst sich leicht oratorienhaft mit dem Thema Kindesmissbrauch im viktorianischen Zeitalter, basierend auf Texten von Edward Lear. Nach der Pause wird Orlandos Geschichte weitererzählt, wobei sie Woolfs Vorlage bald verlässt und bis in die Gegenwart geführt rasch ausdünnt.

Stellt die 10. Szene schon einen deutlichen Bruch mit den Szenen 1-9 dar, wird das Werk ab Szene 11 zu einem „multimedialen Happening“ umfunktioniert. Zwar wird die Geschichte von Orlando weitererzählt, aber jetzt dominieren stark weltanschaulich-politische Statements. Neuwirth hat alle Themen hinein gepackt, mit denen man heutzutage „Likes“ generieren kann: Feminismus, Gender, Kapitalismuskritik, bedrohliche Faschisten und Führerfiguren, der Ruf nach Solidarität und Humanität, Planetenschutz und Anklänge an die Friday for Future-Bewegung mit dem Wunsch der Jugend nach ganz viel „Hoffnung“. Orlando dient jetzt vor allem als Vehikel für einen „Weltrettungsversuch“, phasenweise mit Pop-Band zu einem langatmigen „Agitprop-Musical“ ausgewalzt, an dem immerhin der Mut zur Simplifizierung überrascht, mit dem er unternommen wird.

Aber dieser „Orlando“ bewegt sich insgesamt vor allem an der Oberfläche, die Figur entwickelt sich kaum, es gibt wenig vertiefende Dialoge. Die Frage nach weiblichen „Rollenmodellen“, nach „Gender-Definitionen“, die sehr aktuell wären, verkommen zu Schlagworten. Der Text Virgina Woolfs mit seinem leichten, von der Realität in die Dichtkunst abschweifenden Eskapismus – der für Orlando selbst seine Geschlechteridentität verwischt – stand vielleicht einer tiefgreifenderen Aufarbeitung dieser Thematik im Wege. Und Neuwirth hat sich letztlich eine Plakativität verordnet, die sie (vor allem ab der 11. Szene) dem Publikum an den Knopf knallt wie ein paar mit Parolen vollgekritzelte Demo-Tafeln. Diese Vorgangsweise wird aber weder dem „Orlando“ der Virginia Woolf gerecht, noch fördert er sonderlich das Verständnis für Neuwirths Idee, aus diesem Text überhaupt „Musiktheater“ machen zu müssen.

Wäre in einem aktuellen Bezugsrahmen die „Geschlechtsumwandlung“ Orlandos nicht die (!) zentrale Stelle eines Theaterstücks, der Kulminationspunkt einer Entwicklung? Aber solche formaltechnischen Überlegungen waren und sind dem „anarchischen“ Theaterbegriff einer Olga Neuwirth möglicher Weise fremd. Leider hat auch die Inszenierung dieses wichtige Handlungselement ganz ohne Bühnenmagie bewerkstelligt: Orlando wird als Mann auf einem Bett liegend aus den Kulissen geschoben – und als Frau wieder herein.

Die Regie scheint ohnehin froh darüber gewesen zu sein, die vielen Szenenwechsel und die „Logistik“ des übervollen Figurenkatalogs einigermaßen hinbekommen zu haben. Für szenische Phantasie blieb kein Platz mehr. Die offene Bühne mit den Projektionsflächen, die zugleich als Kulissenelemente dienen, wirkte etwas behelfsmäßig und akustisch schwierig. Die Chöre wurden aufgestellt wie zu einem Konzert. Die üppigen Kostüme schufen zwar eine eigene, bizarre, aber oft nicht mehr nachvollziehbare „Traumwelt“, durch die für das Publikum die Fokussierung auf einen Handlungsfaden zusätzlich erschwert wurde.

Angereichert wurde die Vorstellung mit Videoeinspielungen und dem Einspielen von (leider schlecht verständlichen) historischen Tondokumenten. Diese „multimediale“ Komponente ist zwar ein wesentliches Element von Olga Neuwirths Musiktheater-Konzeption (Angaben dazu finden sich auch in den Szenenanweisungen), sie verliert in dem großen Raum der Staatsoper für das Publikum je nach Sitzplatz aber stark an Wirkung. Aus diesen praktischen Gründen ist das Haus am Ring für diese Art von Musiktheater ohnehin der falsche Aufführungsort.

Musikalisch spannte sich der Bogen von sinnlichen Streicherflächen bis zur „Pop-Band“. Die „Travestie der Klänge“ (so Neuwirth in einem längeren Text im Programmheft zur Aufführung) pflegte einen stilistischen Mischmasch, auch mit Zitaten garniert (u.a. Purcells „Cold-Song“, „Oh Tannenbaum“ und „verstimmte“ Jazzmessenmusik), der aus choralartigen Choreinschüben ebenso bestand, wie aus meist kurzen ariosen Elementen, gesprochenem Text, stark rhythmischen Passagen, bis an die Schmerzgrenze getriebenen Klangballungen, Geräuschzuspielungen (wie das idyllische Vogelgezwitscher am Beginn), einem wenig einprägsamen Schlagzeugsolo und E-Gitarrenklängen, barockisierender „Camouflage“ von Tasteninstrumenten u.a.m.

Aber diese Vielfalt förderte Beliebigkeit, wo Individualität gefragt gewesen wäre. Musikalisch fand Orlando ebenso wenig eine Heimstatt wie auf der Bühne. An der Musik wäre es gelegen, die Grundstimmung der Woolf’schen Vorlage einzufangen, ihre Poesie und ihre Ironie (im Teil vor der Pause gab es Ansätze dazu) – aber je länger der Abend währte, um so unwichtiger wurde der Bezug zur literarischen Vorlage. Einige Bläsertakte wurden von der Galerie und später vom Balkon beigesteuert, vorne im Stehparterre hatte man ein Mischpult untergebracht. Auch die untere linke Proszeniumsloge wurde als Aufstellungsort für Sänger benützt.

Am Pult des Staatsopernorchesters stand Matthias Pintscher, der mit seiner Erfahrung dem Abend ein ruhiger und konzentrierter Sachwalter war. Auf der Bühne zeigten die Protagonisten viel Engagement, hatten es aufgrund der Rahmenbedingungen aber schwer, eigenes Profil zu entwickeln – das gilt auch für Kate Lindsey als Sängerin und Darstellerin der Titelpartie.

Beim Schlussvorhang mischten sich für die Komponistin Bravo- und Buhrufe, wobei die Bravorufe, von den Missfallensbezeugungen angespornt, deutlich die Oberhand behielten. Ein großer Teil des Publikums verhielt sich eher passiv und nach rund sechs Minuten war der Uraufführungsapplaus schon wieder vorbei.

PS: Das Libretto ist dankenswerter Weise im Programmheft abgedruckt.