AMERICAN LULU

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Theater an der Wien
7. Dezember 2014
Premiere

Musikalische Leitung: Johannes Kalitzke

Regie und Austattung: Kirill Serebrennikov
Licht: Diego Leetz
Video: Gonduras Jitomirsky

Orchester der Komischen Oper Berlin

Lulu - Marisol Montalvo
Eleanor - Della Miles
Clarence - Jacques-Greg Belobo
Dr. Bloom - Claudio Otelli
Jimmy / Young Man - Rolf Romei
Painter - Dmitry Golovnin
Athlete - Horst Lamnek
Professor / Banker - Hans-Peter Scheidegger
Commissioner - Frank Baer
Athlete - Horst Lamnek
Lulu-Double - Jane-Lynn Steinbrunn


„Fingerübung einer Komponistin“

(Dominik Troger)

Olga Neuwirths „American Lulu“ wurde 2012 in Berlin an der Komischen Oper uraufgeführt. 2013 folgten Aufführungen bei den Bregenzer Festspielen, aber in einer anderen Inszenierung. Die Uraufführungsproduktion ist im Rahmen eines Gastspiels für drei Vorstellungen derzeit im Theater an der Wien zu Gast.

Olga Neuwirth hat die Alban Berg‘sche „Lulu“ einer Neukonzeption und Neuinterpretation unterzogen: Lulus Leben wird vor dem Hintergrund der Rassendiskriminierung und aufstrebenden Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten der 1950er-Jahre erzählt. Die Musik wurde neu instrumentiert, der von Berg unvollendet hinterlassene dritte Akt in Hinblick auf die Geschwitz-Lulu-Beziehung neu getextet (wobei die Geschwitz bei Neuwirth Eleanor heißt). Jack the Ripper gibt es bei Neuwirth keinen, aber Lulu wird Opfer eines ungelösten Mordfalls – wobei die Inszenierung von Kirill Serebrennikov diesen Schluss szenisch nicht ausspielt und nur in einer Projektion mit einem Bild der toten Lulu ihr gewaltsames Ende andeutet.

Zwischen den Szenen werden im Gesamtzusammenhang isoliert wirkende Texte aus Reden von Martin Luther King und von der Schriftstellerin June Jordan eingestreut. Außerdem zielte diese Neudeutung darauf ab, das Schicksal Lulus aus der Perspektive einer Frau zu erzählen. Ihre Lulu sei eher eine kalte Frau, eine Narzisstin, so Neuwirth in einem Beitrag im Programmheft zur Aufführung, die sich darauf verstehe, ihre Wünsche durchzusetzen und doch innerlich leer sei. Lulu stehe wie eine Aktie einmal höher einmal tiefer im Wert. Sie und Eleanor wären in der Kindheit missbraucht worden.

Um ihre Vorstellungen umzusetzen, hat Neuwirth die ersten beide Akte neu instrumentiert und der Musik einen mit starken Jazzanklängen durchsetzten, stilistisch etwas uneinheitlichen Touch verliehen – mit viel Saxophon und Klarinetten, Trompeten, Posaunen, Tuba. Die Streicherbesetzung hat sie dagegen klein gehalten und repräsentiert eher die „zeitgenössische Klassik“. Eine reizvolle Klangfarbe wird durch die Zuspielung von Klängen einer alten Kinoorgel eingebracht (eine Morton Wonder Organ, wie das Programmheft weiß). Während Neuwirth auf diese Weise ein für ihre Vorstellungen passendes Klangbild erzielte, blieb sie in den ersten beiden Akten recht nahe bei der Berg-Wedekind’schen-Vorlage – wobei aber erhebliche Kürzungen vorgenommen wurden (nicht nur der Prolog wurde gestrichen).

Ein gutes Beispiel für die nicht unproblematische Dramaturgie dieser „Neudeutung“ ist der Auftritt und rasche Tod des Medizinalrates. Ein Auftritt, der bei Wedekind/Berg erst nach dem Aufbau eines Spannungsbogens erfolgt, der dem Publikum einmal klar macht, was zwischen dem Maler und Lulu eigentlich abläuft. Insgesamt bleibt durch die Kürzungen die psychologische Entwicklung der Figuren stark unterbelichtet. Im von Berg nur sehr rudimentär ausgeführten dritten Akt gibt Neuwirth der Handlung eine neue Richtung: Lulu lebt in den 1970er-Jahren als vermögende Nobelprostituierte in New York. (Die Handlung der beiden vorangegangenen Teile ist als Rückblende konzipiert). Es gibt eine Szene mit Eleanor, die zwar als selbstbewusste Blues-Sängerin auftritt, im Verlauf der Oper aber als Figur kaum aufgebaut wurde. Dieser ganze dritte Neuwirth-Akt hängt dadurch etwas in der Luft, obwohl „American Lulu“ insgesamt keine zwei Stunden dauert.

Der größte Mangel dieser „Neufassung“ scheint nach meinem Eindruck aber darin zu liegen, dass die von Neuwirth angepeilte „feministische Politisierung“ in der Vorlage kaum greifbar ist. Auch die Hereinnahme der Luther-King- und Jordan-Texte oder die Einbeziehung von farbigen Protagonisten macht kaum verständlich, warum sich Wedekind und Berg bei ihrer „Lulu“ Gedanken über die Rassendiskriminierung in den USA gemacht haben sollen. Neuwirth spannt zwar einen anderen Hintergrund auf, aber es ist ein Trugschluss zu glauben, dass sich dadurch schon in der letztlich vom Wedekind-/Berg’schen Libretto ausgehenden Handlungsmotivation und der Psychologie der übernommenen, wenn auch umbenannten Figuren etwas verändern würde. Beispielsweise steht die schon erwähnte Umdeutung Lulus zur Narzisstin – nimmt man die Berg/Wedekind’sche Fassung als Vorlage – auf schwachen Beinen. Geht es bei Lulu nicht viel mehr um eine Abfolge traumatischer Ereignisse, die sich in Lulus schicksalshaftem Leben gleichsam beständig erneuern und als beispielhaft für Lulus psychischen Zustand gesehen werden können? Lässt sich also diese Berg/Wedekind’sche Lulu so einfach mit ein paar Kürzungen und Retuschen sowie einem neuen dritten Teil „umtrimmen“?

Auch die Übersetzung ins Englische ändert nichts daran. Für jemanden, der die Berg’sche Fassung kennt, wird dadurch nur noch stärker deutlich, wie eng der Komponist Musik und Wort verwoben hat – und wie „flach“ dagegen die Übersetzung und die „Neudeutung“ ausfallen. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, dieser Neuinterpretation ein komplett neues (!) Libretto zugrunde zu legen, das die besonderen Gegebenheiten der von der Komponistin gewünschten historischen Zeitumstände und Charaktere berücksichtig. Lulu hätte sich dann „emanzipiert“ und wäre wirklich „American“ geworden – und würde nicht wie ein Abziehbild wirken, dass jemand aus dem ursprünglichen Album abgelöst und in ein ganz anderes „hineingeklebt“ hat.

Die Inszenierung von Kirill Serebrennikov hat auch keinen Hinweis darauf gegeben, warum die Berg’sche „Lulu“ als Steinbruch für diese „American Lulu“ herhalten musste. Die kühle, sparsame Ausstattung wurde dann und wann durch ein paar fast oder halbnackte, muskelbepackte, männliche Körper und eine teils recht freizügig gekleidete Lulu „angewärmt“. Viele Männer standen immer wieder mal voyeuristisch herum. Das Ambiente und die Kostüme spiegelten einigermaßen den Stil der 1950er-Jahre beziehungsweise der 1970er-Jahre wider. Die Gewaltausbrüche in den Lulu’schen-Beziehungskonstellationen hielten sich in Grenzen.

Die Besetzung wirkte insgesamt kompetent, spielte gut, sang aber mit Hilfe von Mikroports (womit sich weitere Anmerkungen zu den Sängerleistungen eigentlich erübrigen). Deshalb brauchte sich das Orchester der Komischen Oper unter Johannes Kalitzke in der Lautstärke nicht zurückzuhalten. Marisol Montalvo hat die „richtige“ Lulu auch schon gesungen, erotische körperliche und stimmliche Reize gingen bei ihr durchaus zusammen. Della Miles lieh der Eleanor einen stimmlich aparten und ansprechenden „Blues“. Das Theater an der Wien war gut gefüllt, die leer gebliebenen Plätze aber nicht zu übersehen. Der Enthusiasmus beim Schlussapplaus war nicht übermäßig, Widerspruch gab es keinen. Die Komponistin war anwesend und kam zum Verbeugen auf die Bühne.