LA MÈRE COUPABLE
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Theater an der Wien
8. Mai 2015
Premiere

Musikalische Leitung: Leo Hussain

Inszenierung: Herbert Föttinger
Bühne: Walter Vogelweider
Kostüme: Birgit Hutter
Licht: Emmerich Steigberger

ORF Radio-Symphonieorchester Wien

Le Comte Almaviva - Markus Butter
Rosine, Comtesse Almaviva - Mireille Delunsch
León - Andrew Owens
Florestine - Frederikke Kampmann
Figaro - Aris Argiris
Suzanne - Angelika Kirchschlager
Begearss - Stephan Loges
Maître Fal - Christoph Seidl

Stumme Rollen:

Die andere Gräfin - Irina Mocnik
Die andere Florestin - Theresia Gabriel
Der andere Graf - Pavel Strasil
Der andere Léon - Johannes Kemetter


„Wenig Begeisterung für Milhaud-Rarität
(Dominik Troger)

Begeisterungsstürme löste die Premiere von Darius Milhauds „La mère coupable“ im Theater an der Wien keine aus. Weder das Werk noch die Aufführung vermochten mitzureißen.

Die Oper basiert auf dem letzten Teil der drei „Figaro“-Stücke von Beaumarchais „L’autre tartuffe, ou la mère coupable“ (1792 uraufgeführt). Während die ersten beide Teile nicht zuletzt wegen der Vertonungen von Rossini und Mozart zum Allgemeingut gehören, geriet der dritte Teil schon im frühen 19. Jahrhundert in Vergessenheit. Milhauds Oper wurde zwar erst 1966 uraufgeführt – geriet aber auch bald in Vergessenheit. Das Theater an der Wien hat sich des Werkes besonnen, um seine „Beauchmarchais-Trilogie“ fortzusetzen: Nach Paisillos „Barbier“ und Mozarts „Figaro“ wurde sie jetzt mit Milhauds Vertonung abgeschlossen.

Die Handlung spielt 20 Jahre nach dem zweiten Teil. Die Familie ist verbürgerlicht. Der Graf hat eine uneheliche Tochter (Florestine), die als „Waise“ in die Familie aufgenommen wurde, die Gräfin einen unehelichen Sohn (Léon) vom inzwischen verstorbenen Cherubino, den sie als Sohn des Grafen ausgegeben hat. Der ältere, eheliche Sohn der beiden ist verstorben. Der Intrigant Begearss möchte aus dieser Familienkonstellation Gewinn ziehen, nützt die Schuldgefühle der Gräfin aus und den Zweifel den der Graf an seiner Vaterschaft bezüglich Léon hegt. Er möchte sich das Vermögen des Grafen erschleichen und die Hand von Florestine gewinnen, die aber in Léon verliebt ist. Figaro und Suzanne fungieren wieder als Dienerpaar. Sie decken die Intrige auf. Begearss wird verjagt und Léon und Florestine können heiraten. So weit der verknappt wiedergegebene Inhalt.

„La mère coupable“ ist keine „Komödie“, sondern führt eine krisenhafte, emotional angespannte Familiensituation vor, in der Figaro als aufklärerisch-gewitztes Relikt einer früheren Epoche noch einmal für so etwas wie „Ordnung“ sorgt. Milhauds Gemahlin hat das Libretto verfasst, „La mère coupable“ auf drei Akte komprimiert, und als wortreiche, aber dramaturgisch etwas „dünne“ Literaturoper konzipiert. Milhauds Vertonung bleibt zwar dem Konversationston nahe, reibt sich aber auch daran. Die Handlung wird durch einen agilen, oft ariosen Stil vorangetrieben, nur in wenigen Passagen werden die Seelenregungen der Figuren breiter ausgemalt: zum Beispiel am Beginn des zweiten Aktes, wenn elegisch die traurigen Gefühle der Gräfin geschildert werden (ähnlich wie bei Mozart am Beginn des zweiten „Figaro“-Aktes) und die Musik plötzlich an Tiefe und Raum gewinnt – und im sich zu einem überzeugenden Höhepunkt hochschraubenden Finale des zweiten Aktes, in dem Milhaud Figaro fast schon eine schwungvolle „Arie“ gewährt (in dem kurz Figaros „Faktotum“ aus Rossinis „Barbier“ aufblitzt). Figaros Menschenverstand und Humor sind musikalisch insgesamt gut charakterisiert, und von dieser Figur geht eine belebende Wirkung aus. Schwungvoll ist dann auch das Finale, ein Ensemble, mit einem orchestralen und deutlich ironisierenden Schlusspunkt.

Dieser Schluss stimmt freilich nachdenklich: Wie ironisch hat Milhaud seine Vertonung gemeint, wie steht er selbst zu dem Stück? Handelt sich um ein „Dramma giocoso“, das ein wenig auf Mozarts „Cosi“ schielt? Seitens Beaumarchais liegt es nahe, an ein bürgerliches Aufklärungsdrama zu denken. Aus heutiger Sicht mögen sich Querbezüge zu Ibsen und Freud hinzugesellen wie sie Regisseur Herbert Föttinger in einem im Programmheft nachzulesenden Interview anführt. Allerdings, wer mit solchen Kalibern auf Beaumarchais „schießt“, macht möglicherweise mehr kaputt, als dass es eine Wiederentdeckung des Stücks und der Oper befördern würde.

Theaterdirektor Herbert Föttinger weiß, wie er die Sänger auf der Bühne bewegen muss – aber das alleine ist zu wenig, wenn vor den Augen des Publikums kein sinnvolles Ganzes entsteht. Denn Föttinger hatte szenisch für die angesprochene Ironie kaum einen Blick und inszenierte ein Schulddrama, in dem er die Hauptfiguren verdoppelte (eine auf Opernbühnen inzwischen schon überstrapazierte Regieidee) und die Statisten mit allerhand das Publikum von der eigentlichen Handlung ablenkenden Geschmacklosigkeiten beschäftigte: In vier Zimmern des ersten Stocks der eine Hotelhalle vorstellenden Bühne wurde nackt auf einer Gebetsbank gekniet, schmierte sich eine Frau ihre Brüste mit roter Farbe an (Blut??), diente ein Kruzifix als Lustwerkzeug etc. Föttinger beließ es aber nicht nur bei diesen „Ablenkungen“, zum Beispiel geisterte der verstorbene Cherubino durch die Handlung und mehrmals wurden Erinnerungen der Protagonisten nachgestellt. Zudem wurde auf Wunsch des Regisseurs das Begräbnis des verstorbenen Grafensohnes auf der Bühne gezeigt – und dazu Mozarts Maurerische Trauermusik gegeben. Mit diesen szenischen Anreicherungen war weder Beaumarchais noch Milhaud gedient.

Für die musikalische Leitung sorgte Leo Hussain am Pult des ORF Radio-Symphonieorchesters. Der Farbenreichtum von Milhauds Musik, den Hussain in einem Interview im Programmheft anspricht, hätte allerdings deutlicher herauskommen können, auch mehr kammermusikalische Klarsichtigkeit hätte vielleicht dabei geholfen, den strukturellen Gehalt von Milhauds Komposition deutlicher hervorzukehren. Das Orchester ist relativ groß und es besteht ein wenig die Gefahr, dass es zu „dick“ aufträgt. Und die Wiedergabe der Maurerischen Trauermusik ließ darauf schließen, dass auch bei der Umsetzung von Milhauds Orchesterpart noch einiges an feinfühligerem Potenzial vorhanden gewesen wäre.

Aris Agiris war ein überzeugender Figaro und (neben Christoph Seidl in der kleinen Rolle des Maitre Fal), das gesanglich und darstellerisch Überzeugendste, was der Abend zu bieten hatte. Stephan Loges als Intrigant Begearss war manchmal schon stark zum Forcieren gezwungen und gewann kaum intrigenlüsterne Bedrohlichkeit. Der Graf von Markus Butter hatte über seine gramvollen Ehejahre offenbar seinen Charme verloren und wirkte ziemlich trocken. Mireille Delunsch konnte der Gräfin nur einen derangiert klingenden Sopran leihen, während Frederikke Kampmanns wendiger Koloratursopran mir in der Höhe schon leicht eng und gefährdet klang. Andrew Owens junger lyrischer Tenor schien mit dem Léon etwas überstrapaziert, und Angelika Kirchschlager hatte bei gewohnt starker Bühnenpräsenz als Suzanne nur wenig zu singen, wobei ihr Mezzo leider nur mehr in der Mittellage ansprechend klang.

Das Fazit dieses etwas „müden“ Premierenabends: Eine Handvoll Buhrufe für das Regieteam, denen kaum widersprochen wurde, nicht allzu viele Bravorufe für das Ensemble.

PS: Herbert Föttinger ließ es auch an diesem Abend – wie schon in seinem „Fidelio“ (2013, Theater an der Wien) – in einem der angesprochenen Zimmer vom Schnürboden schneien. Offenbar hat sich die familiäre „Gefühlskälte“ aus dem Rocco’schen Gefängnishaushalt in das Almaviva‘sche „Hotel“ vererbt.

PPS: Im zweiten Akt war auf der Bühne das Schlafzimmer der Gräfin zu sehen, nachdem die Baustellenabdeckung zur Seite geschoben worden war, die im ersten Akt die Hotelhalle optisch verunstaltet hatte. Im dritten Akt bereicherten vier (!) moderne Aufzüge die Lobby des Hotels. Das gesamte Bühnenpersonal verschwand am Schluss in einem dieser Aufzüge. Aufzüge sind offenbar die neuen Koffer des sogenannten Regietheaters.

PPPS: Es gab einige leere Sitzplätze und der Stehplatz war schlecht besucht.