BARUCHS SCHWEIGEN
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Semperdepot
15. September 2016

Österr. Erstaufführung am 7.9.16

Musikalische Leitung: Christian Schulze
Inszenierung: Beverly und Rebecca Blankenship
Ausstattung: Susanne Thomasberger
Lichtraum: Victoria Coeln

Libretto: Yael Ronen

Ensemble EntArteOpera

Tochter - Hermine Haselböck
Vater - Duccio Dal Monte
Mutter - Ingrid Habermann
Erste Frau / Geist / Tochter B - Einat Aronstein

Bruder / Geist - Alexander Kaimbacher
Großmutter / Geist / Frau B - Raquel Paulo
Bauer / Russ. Offizier - Karl Huml
Kind / Sohn /Bruders Sohn - Jonatan Sushon



Der Himmel ist leer
(Dominik Troger)

Beim EntArteOpera-Festival stehen 2016 Komponistinnen im Mittelpunkt. Die Kammeroper „Baruchs Schweigen“ von Ella Milch-Sheriff wurde im Semperdepot aufgeführt (Österreichische Erstaufführung am 7. September.)

Die Komponistin Ella Milch-Sheriff (Jahrgang 1954) stellt in dieser Oper ein Stück Familiengeschichte auf die Bühne: das Schicksal ihrer Eltern im Zweiten Weltkrieg. Als Nachgeborene hätte sie gerne mehr darüber gewusst, aber ihre Eltern hüllten sich in Schweigen. Dem Vater war die Flucht nach Israel gelungen, seine erste Frau und sein dreijähriger Sohn waren in Galizien ermordet worden. Er heiratete und begann ein neues Leben. Aber auch Baruchs zweite Gemahlin litt schwer an einem Kriegstrauma, sie war vergewaltigt worden. In seinen letzten Lebensjahren hat der Vater seine Erinnerungen aufgeschrieben. Nach seinem Tod tauchte außerdem sein Tagebuch aus den Jahren 1943 und 1944 in einem polnischen Archiv auf. Diese Aufzeichnungen bilden eine wichtige Quelle für das Libretto. Die Oper wurde 2010 in Braunschweig uraufgeführt.

Die Oper gliedert sich in zehn Bilder, die mit der Kindheit der Tochter einsetzen. Als die Tochter von den Aufzeichnungen ihres Vaters erfährt, wird sie auf der Bühne zur Zeitzeugin des berichteten Geschehens. Vater, Mutter, Baruchs erste Frau, sein kleiner Sohn, die Mutter und andere treten auf und spielen ihr die Geschichte vor. Schließlich versteht die Tochter, dass sich ihre Eltern ihr ganzes restliches Leben lang nicht von diesen schrecklichen Erlebnissen nicht mehr befreien konnten. Und sie versteht, warum ihr Vater ihr als Kind vorwerfen konnte, dass sie überhaupt nicht wisse, was „Schmerz“ sei. Erst das Schweigen hatte sein Überleben ermöglicht.

Stilistisch ist die weitgehend tonale Musik bei Kurt Weil und Igor Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ angesiedelt, es finden sich zum Beispiel aber auch Elemente der jiddischen Klezmer-Musik. Diese Elemente bilden die Basis, um sowohl die „reale Welt“ der Tochter zu kennzeichnen, als auch – etwa wenn sich Marschrhythmen hinzugesellen – einen historischen Verweis auf die Epoche zu legen, in der Baruchs Erinnerungen spielen.

Dem stehen Szenen gegenüber, in denen die Musik diese stilistische Grundausrichtung über Bord wirft. Etwa schon im zweiten Bild, wenn sich zum Bass des Vaters eine Knabenstimme wie ein Echo hinzugesellt. In dem hochgezogenen Semperdepot schwebte diese Stimme vom dritten Stockwerk herab wie der seraphische Trost von Baruchs ermordetem Sohn – oder beim von Celestaklängen umflorten Wiegenlied im vierten Bild – oder wenn im 6. Bild gespenstisches Flagelottwispern von drohenden Glissandi in den tieferen Streichern „unterlaufen“ wird: Baruch und sein Bruder entkommen in dieser Szene dem Massaker, in dem Baruchs Familie ermordet wird. Sie wohnen dem Geschehen aus der Ferne bei. Eine langsam abfallende Tonfolge wiederholt sich, wird später von Frauenstimmen wieder aufgenommen – eine Szene, die in der Wirkung ganz eigentümlich ist und mit einfachen Mitteln das Grauen einfängt.

Den dramatischen „Höhepunkt“ setzt die Komponistin im 9. Bild. Es spielt in einem Erdloch, das dem Vater, dem Bruder und dem kleinen Sohn des Bruders sowie anderen Verfolgten als Versteck dient. Dem Buben gelingt es nicht, sich ruhig zu verhalten. Alle sorgen sich, dass er das Versteck dadurch verraten könnte. Als das Kind wieder unruhig wird, erwürgt der Vater in einem Anfall von Panik den Sohn, und Baruch, angstgelähmt, verhindert es nicht. Das ist seine persönliche Schuld, an der er sein Leben lang leiden und eisern darüber schweigen wird. Dieses 9. Bild steigerte sich von einem fast spielerischen Beginn zu einer sehr expressiven und emotional angreifenden Szene.

Die Sitze im Semperdepot waren so angeordnet, dass das Publikum, mit dem Eingang zum sogenannten Prospekthof im Rücken, auf die Tore blickte, die zu angrenzenden großen Halle führen. Da Orchester war links postiert, die Spielfläche mittig angelegt, bestand aus einer über der Treppenrundung angebrachten laufstegartigen Bühne auf der ein in Schräglage gebrachtes Klavier platziert war. Die Spielfläche war rot angemalt. Dahinter waren auf einem langen Spruchband, das an der obersten Galerie befestigt war, Ausschnitte aus Baruchs handschriftlichem Tagebuch angebracht. Die Galerien wurden mehrmals in das Spiel einbezogen. Beverly und Rebecca Blankenship führten Regie.

Die Sängerinnen und Sänger ließen sich durch die schwüle Hitze im unklimatisierten Semperdepot nicht beirren und sorgten für eine zu Herzen gehende Aufführung. Hermine Haselböck als forschende Tochter, Duccio Dal Monte als Baruch mit einprägsamem Bass, Alexander Kaimbacher mit gewohnt kräftigem, sicherem Tenor, Jonatan Sushon als Kind mit einem gut tragenden und sicheren Knabensopran, sowie Ingrid Habermann als gebrochene Mutter. Einat Aronstein steuerte als Baruchs erste Frau das innig vorgetragene Wiegenlied bei.

Fazit: Rund eindreiviertel Stunden lang hat man als Zuschauer mitzuleiden und wird dabei von einem Grauen gestreift, das unter die Haut geht. „Baruchs Schweigen“ ist ein Werk, das einen zur Anteilnahme auf eine Weise herausfordert, die im modernen Musiktheater schon sehr rar geworden ist. Das Publikum spendete viel dankbaren Applaus.