SOPHIE'S CHOICE
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Wiener Volksoper
Österreichische Erstaufführung
26.10.2005

Musikalische Leitung: Leopold Hager

Inszenierung: Markus Bothe
Bühnenbild: Robert Schweer
Kostüme: Dorothea Katzer
Licht: Ulrich Niepel, Wolfgang Könnyü


Erzähler - Lenus Carlson
Sophie - Angelika Kirchschlager
Nathan Landau - Morten Frank Larsen
Stingo - Matthias Klink
Zbigniew Bieganski - Wicus Slabbert
Rudolf Höß - Kurt Schreibmayer
Doktor - Markus Brück
Wanda - Melba Ramos

Larry Landau - Mathias Hausmann
Bibliothekar - Bernd Valentin
Barkeeper - Einar Th. Gudmundsson
Jan - Vincent Vogel
Eva - Fiona van der Brugge


„Missglückte Traumatherapie“
(Dominik Troger)

An der Volksoper bescherte die österreichische Erstaufführung von „Sophie‘s Choice“ den Ausführenden einen großen Erfolg – und dem Publikum einen berührenden und zugleich beunruhigenden Opernabend.

[1] Das Schicksal von Sophie ist nichts zum Mitsingen. Sie ist weder eine Pariser Nobelkurtisane aus dem frühen 19. Jahrhundert, eine äthiopische Sklavin oder gar ein germanisches Power-Girl. Sophie könnte heute noch leben, gleich nebenan. Eine alte Frau, der man ihre Lebensgeschichte nicht ansieht, die man hin und wieder vielleicht grüßt, zwischen Tür und Angel, der man Samstagvormittag den Erdäpfel Fünf-Kilo-Sack in den zweiten Stock schleppt, weil sie sich nicht mehr getraut mit dem Aufzug zu fahren.

[2] Sophie könnte heute noch leben, wäre sie nicht in die Mühlen des NS-Staates geraten, hätte sie sich nicht im Konzentrationslager Auschwitz für eines ihrer beiden Kinder entscheiden müssen: Wer hat die besseren Überlebenschancen, der Sohn oder die Tochter? Nein, diese schreckliche, in den Medien mit lustvollem Schauder breitgetretene Szene, tragischer Höhepunkt des Werkes, ist nicht die Quintessenz der Oper „Sophie‘s Choice“. Das ist nur der Haken fürs Marketing, das ist der Aufreger, der in zwei Sätzen die Zeitungsspalten abseits der Kulturkolumnen füllt. Die Quintessenz ist eine andere: Sophie könnte wirklich unsere Nachbarin sein, ganz unspektakulär. Eben die alte Frau vom zweiten Stock. Denn sie hatte nur eine gute Mutter sein wollen, ein ganz normales, einigermaßen bequemes Leben führen. Aber ihr wurden Entscheidungen abverlangt, deren Kompromisslosigkeit ganz andere Charaktere zerbrochen hätte.

[3] Von Sophie werden laufend Entscheidungen abverlangt – die genannte Szene in Auschwitz ist nur der Höhepunkt fataler Verstrickungen, die Sophies Selbstbewusstsein mit immer stärkeren Schuldgefühlen belasten. Schon ihr Vater, Universitätsprofessor – sie stammt aus keiner (!) jüdischen Familie – hat sich menschenverachtend um den polnischen Antisemitismus verdient gemacht. Das belastet Sophie schwer. Der deutschen Besatzung fallen Vater und Ehemann zum Opfer, aber dem Anerbieten, für den polnischen Widerstand zu arbeiten, verweigert sie sich. Sie möchte ihre Kinder nicht gefährden, sie möchte die Überlebenschancen ihrer Familie optimieren. Aber Nahrungsmittelschmuggel bringt sie trotzdem nach Auschwitz. Bei der Ankunft im Lager wird sie vor die Wahl gestellt: ein Kind zu behalten oder beide der Vernichtung preisgeben zu müssen. Sie entscheidet sich für den Sohn, weil er gut Deutsch spricht und einen hellen Teint hat. Die Tochter gibt sie preis. Später wird sie von ihrem Sohn getrennt, sie wird nie erfahren, ob er überlebt hat. Sophie arbeitet als Übersetzerin für den Lagerkommandanten – auch hier wird sie mitschuldig. Aber geht es nicht immer wieder darum, die Überlebenschancen zu optimieren oder sich einfach fallen zu lassen und zu sterben?

[4] Das ist die unangenehme „Wahrhaftigkeit“ dieses Werkes, die einen längerfristig mehr beunruhigt, als die „antik-tragödische“ Szene mit den beiden Kindern und Sophie „am Scheideweg“: Niemand kann sich hinter Sophie verstecken, sie ist keine Bühnenheroine aus alter Zeit, sondern sie spricht unsere Sprache durchschnittlichen Menschentums. Damit muss man als Zuschauer leben – und das erklärt wohl auch die unprätentiöse Musik, die allürenlose Darbietung der Sänger, die sehr klare, nur in wenigen Details leicht ironisierende Regie. „Sophie‘s Choice“ kennt keine ideologischen Fußangeln und moralischen Kategorien. Sophie steht für sich, Sophie steht für uns. Sie berichtet von einem verworrenen „Alltag“ in einer verworrenen Zeit – und von dem traumabedingten Schuldbewusstsein der Überlebenden: überlebt zu haben.

[5] Die Oper entblättert die fatale Vergangenheit im Rückblick – und erzählt die Geschichte nicht aus der Perspektive von Sophie. Stingo ist der Vermittler von Sophies Lebensbericht. Er ist aus den Südstaaten im Sommer 1947 nach New York gekommen, um Schriftsteller zu werden. Er mietet sich zufällig in der Pension ein, in der Sophie und Nathan wohnen. Das Kriegsende hatte Sophie nach New York gespült, Sophie hatte Nathan kennengelernt, einen liebenswürdigen Mann, mit einem schwerwiegenden Fehler: er zuckt hin und wieder aus, beschimpft dann „Gott und die Welt“ und wird gewalttätig. Sophie erzählt Stingo nach und nach die Stationen ihres Lebens, ein therapeutischer Prozess beginnt. Währenddessen stellt sich heraus, dass Nathan unter paranoider Schizophrenie leidet. (Was zuerst wie ein Trick des Librettisten aussieht, um das Handlungsgeflecht zu entwirren, macht bei genauer Betrachtung Sinn. Es ist Nathans Feinfühligkeit, die mit diesem Krankheitsbild einhergeht und die Sophie anzieht. Sie fühlt sich in ihrer eigenen Verletzlichkeit geborgen. Nathans Wutausbrüche erlebt sie wie einen fürchterlichen, vermenschlichten Ausdruck ihres eigenen Schuldbewusstseins. Sie liebt ihn.) Auch Stingo verliebt sich in Sophie, beide flüchten vor Nathan, dessen Krankheit sich stark verschlechtert. Stingo macht Sophie einen Heiratsantrag, sie weist ihn ab. Sie erzählt, was sie noch niemandem erzählt hat – das Schicksal ihrer Kinder. Dann verlässt sie Stingo, kehrt zu Nathan zurück und begeht mit ihm Selbstmord.

[6] Diese Österreichische Erstaufführung entstand in Kooperation von mehreren Opernhäusern: Deutsche Oper Berlin, Wiener Volksoper und der Washington National Opera. Uraufführung war 2002 in London. Das Werk ist im Vergleich zur Uraufführung etwas gestrafft worden. Die Aufführung in der Volksoper dauerte inkl. Pause ungefähr solange, wie die reine Spielzeit der Uraufführungsfassung: nämlich rund dreieinhalb Stunden. Diese Kürzungen gehen ein wenig auf die Konsistenz der Dreiecksbeziehung Sophie-Nathan-Stingo, die in den ersten beiden Akten sehr ausführlich aufgerollt wird, sich nach der Pause (Akte III und IV) auf das Notwendigste beschränkt. Sophies Erinnerungen drängen sich immer stärker in den Vordergrund. Man könnte dem Libretto vorwerfen, dass die Einbettung in das New Yorker Milieu des Jahres 1947 die Geschichte zusätzlich verkompliziert. Denn Nathan beschimpft nicht nur die Ausländerin Sophie, sondern auch „Südstaatler“ Stingo, er greift in seiner Krankheit latente, gesellschaftlich gepflegte Feindbilder auf. Nathan ist noch dazu Jude. Auch Sophies Verhältnis zu ihrem Vater und zum Lagerkommandanten wird mehr schematisch abgehandelt. Es ist ein bisschen kolportageartig, was da so passiert – ganz im Stile angloamerikanischen Theaters. Das ist hierzulande ungewohnt, hat aber den Vorteil, die Kernaussage klar über die Rampe zu bekommen. (Das derzeitige deutschsprachige Bühnenwesen könnte davon nur profitieren...) Das Libretto folgt einem Roman von William Styron.

[7] Die Musik ist klar am Text orientiert, die Gesangslinien sind sehr rezitativisch gebaut. Das Orchester dient der Begleitung der Gespräche, verstärkt die Emotionen oder Handlungen, es hat quasi keine selbständige Funktion. Komponist Nicholas Maw hält sich da sehr im Hintergrund, er dient dem Stück. Stilistisch fluktuiert Sophie’s Choice im Dreieck markiert von den Endpunkten Puccini, Berg, Britten – ohne sich eines deutlichen Eklektizismus zu bedienen. Grundlage bilden natürlich die Streicher, die immer wieder einen Zug ins Elegische forcieren, da denkt man dann an „Filmmusik“ – aber es handelt sich mehr um Anklänge als lang auskomponierte, süffige Themen. Maws konservativer Stil ist stark handwerklich geprägt – aber gerade das werte ich in diesem Fall als großes Plus. Es besteht kein Gefahr, die allgegenwärtige Normalität des Grauens – die das eigentlich Unfassbare ist – zu überhöhen. Es geht um den Alltag des Schreckens und den Alltag des Erinnerns. Es geht um keine opernhaften Gefühle, um keinen romantischen oder extravaganten Glorienschein, der den langwierigen, schmerzvollen Prozess von Sophies versuchter Vergangenheitsbewältigung überdeckt. Gesungen wurde auf Englisch, der deutsche Text lief über der Bühne mit.

[8] Im Zentrum der Aufführung stand Angelika Kirchschlager als Sophie. Sie ist fast die ganze Zeit auf der Bühne, gestaltet die Rolle mit großer Natürlichkeit. Viel hängt von dieser einen, besagten Szene ab: sie ist ein Balanceakt in Sachen Glaubwürdigkeit – trifft sie auf den Punkt, entsteht ein großer Bühnenmoment, trifft sie daneben, zerfällt alles zu Kitsch. Das „Mama“-Rufen der weggeführten Tochter, das war mir dann fast schon zu viel, aber wie man weiß, ist dieser Übergang fließend – und wo dem einen noch die Katharsis leidenschaftlich in der Seele brennt, treibt den anderen Gefühlsüberschwang schon hinüber ins romantisierende Selbstmitleid. Kirchschlager hatte bereits die Uraufführung gesungen, sie bewegte sich in Sophies Schicksal wie in einer zweiten Haut. Zusammen mit Nathan (Morten Frank Larsen) und Stingo (Matthias Klink) erzeugte das eine starke Bühnenpräsenz, die das Werk mit viel Spannung über den ganzen Abend trug. Das gilt auch für die Figuren aus Sophies Vergangenheit, etwa Wicus Slabbert als autoritärer Vater, Kurt Schreibmayer als Rudolf Höß, die Wanda der Melbo Ramos, den Doktor von Markus Brück sowie für den Erzähler von Lenus Carlson; das gilt ebenso für das Orchester unter Leopold Hager. Das Bühnenbild war karg, eine Art Mansarde mit Veranda aus gelben Kacheln, in der Bühnenmitte hingestellt, darauf gemalt: „Summer 1947“. Im Hintergrund, am Boden, die kleinen Schwarzweiß-Fotografien von Opfern – eine Art von Gedenkraum. Die Rückblenden waren durch graue Kostüme einheitlich gekennzeichnet und gut in den Handlungsfortgang eingebaut. Sophies Geschichte wurde von der Regie behutsam erzählt, ohne störende Zusätze.

[9] Das Publikum war von der Aufführung angetan und feierte Sänger, Regieteam und den Komponisten. Die Volksoper war fast ausverkauft. Eine Handvoll freie Plätze habe ich erspäht, nach der Pause waren es etwas mehr. (Wahrscheinlich hat das mit Erwartungshaltungen zu tun – in „Sophie‘s Choice“ findet weder klassische Oper statt noch fortschrittliche Moderne. Sophies Schicksal fordert unser Mitgefühl heraus, nicht unsere Selbstdarstellung.)