DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN
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BA-Halle Gasometer
30.5.2003


Koproduktion: Neue Oper Wien & Wiener Festwochen

Musikalische Leitung: Walter Kobéra

Regie: Alfred Kirchner
Ausstattung: Karl Kneidl
Lichtregie: Norbert Chmel

Orchester: Amadeus Ensemble Wien, Tonkünstler-Orchester Niederösterreich
Chor der Neuen Oper Wien

Sopran - Elizabeth Keusch, Sarah Leonard
Sprecher/Leonardo da Vinci - Walter Raffeiner

Schauspieler:
Gurdun Ensslin - Therese Affolter
Das Mädchen - Phillippa Galli
Großmutter - Emine Sevgi Özdamar

Sowie weitere stumme Rollen


"Vom Zündeln und Brennen"
(Dominik Troger)

Man kann auch als armer Mensch schön sterben und in den Himmel kommen. Das ist zumindest tröstlich. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass man Andersens Märchen „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ aus genau diesem Grunde nicht mag. Komponist Helmut Lachenmann könnte zumindest dieser Meinung zu sein. 1997 an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt war das nicht unumstrittene Werk jetzt endlich auch in Wien zu hören.

[1] Die erste Schwierigkeit war aber, den Weg zum Aufführungsort zu finden. Die BA-Halle im Gasometer liegt gut versteckt. Wer sich in das Einkaufszentrum hineinlocken lässt, hat zuerst einmal ein paar Rolltreppen zu überwinden – besser man nimmt den Weg außen am ersten Gasometer vorbei. Die Halle ist aber, so nebenbei bemerkt, auch abgrundtief hässlich, und angesichts dieser Betonarena fragt sich der Eintretende sofort, wie hier eine ansprechende Akustik möglich sein soll.

[2] Ist man eingetreten, findet man sich in einem großen unwirtlichen Raum wieder, in dem mittig in konzentrischen Kreisen die Sitzplätze für das Publikum angelegt sind – ausgehend von einer Kreuzung zweier rechtwinkelig zueinander gelegter Laufstege, die von oben betrachtet das ganze festmachen wie eine Zielscheibe. Die Zuschauer blicken sitzend nach innen, auf diese Kreuzung, während sich hinter ihnen insgesamt vier Orchestergruppen im Raum verteilen, als Beispiel gelebter Quadrophonie. Die Zweifel in punkto Akustik steigen, man weiß nicht, wo man sich hinsetzen soll, welches Orchester man im Rücken haben möchte, welches gegenüber, welches seitlich. Um die Übersicht zu behalten, ist es besser, sich in einem der äußeren Kreise niederzulassen, nicht zu nahe beim Laufsteg. Das erscheint mir als der richtige Kompromiss. Sobald man sitzt, starrt man auf schwarze Planken, die über einen Meter hochgezogen sind und über die die Köpfe hinwegschauen wie über Palisaden. Die Kreise befüllen sich langsam und werden ziemlich voll. Das Licht wird schwächer. Es beginnt.

[3] Doch halt! Vorher hat man sich die Wartezeit natürlich mit einem Blick ins Programmheft verkürzt. Man liest: „Nach Texten von Hans Christian Andersen, Gudrun Ensslin und Leonardo da Vinci“ und beginnt gleich einmal zu grübeln. Zum Glück wird von Regisseur Alfred Kirchner in diesem Programmheft beredt erklärt, was es mit dieser Kombination auf sich hat: Demnach könnte Gudrun Ensslin dem armen Mädchen durchaus zu Hilfe gekommen sein, schließlich wären beide „an und in unserer Gesellschaft zugrunde gegangen. (...) Es ist ganz eindeutig, dass Gudrun Ensslin und das Mädchen mit den Schwefelhölzern Geschwister im Geiste sind, Opfer sind.“ Das Mädchen hat allerdings, was seine Armut in den Augen des Regisseurs wohl noch vermehrt, „kein politisches Bewusstsein“. Für Kirchner ist der „Leonardo-Text ein genial eingeschobener Text, der die Grundzüge der ganzen Komposition in sich trägt, nämlich den Vergleich von Naturgewalt und menschlicher Gewalt.“ (Leonardo referiert über seine persönlichen Erfahrungen mit dem Vulkanismus.)

[4] Helmut Lachenmann hat einen Brieftext in das Libretto montiert, der in der Stammheimer Haft von Gudrun Ensslin verfasst worden ist. Vom „ausdruck der rebellion der zertrümmerten subjekte gegen ihre zertrümmer“ ist hier die Rede. Man kann dem Text Kirchners immerhin entnehmen, dass Ensslin versucht hat, „mit dem Anzünden des Kaufhauses etc. die Gesellschaft auf ihre negativen Zeichen hin aufmerksam zu machen, sie aufzurütteln.“ Man kann ihm aber auch entnehmen, dass es „ein ganz natürliches menschliches Empfinden ist, gegen diese Kälte rebellieren zu wollen – ohne jetzt die Taten der Gudrun Ensslin für gut zu bewerten, darum geht es nicht.“ Kälte meint in diesem Zusammenhang, die Kälte, „die der Gesellschaft innewohnt“. Nun gut, die Moral, die ich predige, ist die Ideologie, die ich esse. Das ist man gewohnt. Was Lachenmann betrifft, so ist die Stellungnahme des Künstlers ohnehin uneindeutiger als die des Regisseurs. Lachenmann zu Ensslin: „Sie bezog ihr Ethos aus ihrer christlichen Erziehung. Die Umstände ihres Todes sind nicht einwandfrei aufgeklärt. An ihrer Verformung und schuldhaften Verstrickung und am Leid ihrer Opfer tragen wir als ständig das Unrecht hinter und neben uns verdrängende Nachkriegsgesellschaft mit Schuld. Es irritiert mich, wie man auf ihren Namen starrt, ohne den Kontext zu befragen.“ – Aber dieser Text findet sich nicht im Programmheft, sondern auf der Website der Salzburger Festspielfreunde unter http://www.festspielfreunde.at

[5] Und dass führt gleich weiter zu einem Punkt, der auch nicht übersehen werden sollte: Das Programmheft der Wiener Festwochen erwähnt von der Terroristinnen-Karriere Gudrun Ensslins, auf die Kirchner durch visuelle Zitate während der Aufführung deutlich Bezug nimmt, keine Silbe. Anscheinend hatte man für das Akronym R.A.F. (Rote Armee Fraktion) keinen Platz mehr übrig, während man über die Jugend und das religiöse Engagement Ensslins in der evangelischen Kirche immerhin noch zwei Seiten beisteuerte. Deshalb sei hier in gebotener Kürze ihr weiteres Schicksal ergänzt: Ensslin beteiligte sich 1967 an zwei Brandanschlägen auf Frankfurter Kaufhäuser, wurde gefasst, inhaftiert, flüchtete und tauchte 1969 unter. Sie wurde eines der Gründungsmitglieder der Roten Armee Fraktion. 1972 wurde sie verhaftet. 1977 erhängte sie sich ihrer Gefängnisszelle. Der Selbstmord erfolgte im Einklang mit den Selbstmorden der anderen einsitzenden führenden Mitgliedern der „Baader-Meinhof“-Gruppe und gab immer wieder zu diveresen Spekulationen Anlass. Die R.A.F. steht für eine ganze Reihe an Banküberfällen, Sprengstoffanschlägen, Entführungen und politisch motivierten Morden.

[6] Offenbar geht Lachenmann davon aus, dass dieser Kontext gewusst wird – was ich allerdings für eine mehr beschönigende Auffassung halte. Sind die (Un-)Taten einer R.A.F. entschuldbar und einer Mythologisierung wert, durch die „gesellschaftliche Kälte“, denen sie angeblich entsprungen sind?! Lachenmann war diese Problematik sicher bewusst, sonst hätte er nicht Leonardo da Vinci als eine Art Vermittler eingeführt, der zwischen dem radikalen diesseitsbezogenen Konzept einer Ensslin und dem jenseitsorientierten, romantischen Konzept eines Andersen vermitteln soll. Aber da Vinci bleibt nur eine seltsame gestammelt-gesprochene Arie, die voller Furcht und Verzweiflung ist, und eigentlich auch nichts zur Klärung dieses Sachverhalts beiträgt. Am Schluss siegt der Romantizismus des Todes, hüllt alles ein, fragt aber nicht mehr nach einer moralischen Wertigkeit der gehandelt-habenden Personen. Und statt das Thema zu entmythisieren, erscheinen beide Mädchen plötzlich in der Rolle verzweifelt-heldenhafter Opfer. Nicht, dass man über diesen Aspekt nicht nachdenken könnte, aber man hätte erwarten dürfen, dass hier die Stellungnahme zu einem der dunkelsten Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte deutlicher ausfällt. „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ ist kein Beitrag, um dieses aufzuarbeiten – auch nicht die Inszenierung von Alfred Kirchner. Man denkt da schon eher an eine Art von Requiem. Die historische Analyse stammelt nach wie vor dahin, wie Leonardo laut Partitur. Womit wir endlich bei der Aufführung wären...

[7] Die Akustik erweist sich als überraschend gelungen. Die vier Orchester sind gut auf einander abgestimmt, zwei Sopranistinnen, die immer wieder ihren Platz wechseln und dabei singen, fügen sich als „bewegliche Geräuschquelle“ darin ein. Der Klang gewinnt eine räumliche Dimension, die interessant ist, durchaus zum Zuhören animiert. Möglich ist das alles aber nur mittels elektronischer Hilfsmittel. 105 Musiker speisen den Orchesterpart mit Klängen. Der Aufwand ist beträchtlich. Hilfsdirigenten. Monitore, über die Walter Kobéras Zeichengebung flimmert. Dazu kommt noch der Chor der Neuen Oper Wien.

[8] Die Inszenierung spielt sich auf den beiden, sich überkreuzenden Laufstegen ab. Phillippa Galli als Mädchen und Therese Affolter (Ensslin) stehen im Mittelpunkt. Sie schauspielern und pantomimen. Dabei ist von Phillippa Galli der weitaus größere Einsatz gefordert. Gleich zu Beginn muss sie mal tüchtig frieren, schließlich ist es kalt und sie möchte ihre überdimensional großen Schwefelhölzchen loswerden. In den ersten Minuten verwandelt sich die Halle wirklich in eine Art von Eispalast, so intensiv ist das Spiel von Galli. Aber dann merkt man, dass es doch ein bisschen heiß ist, und der Eindruck, den die Inszenierung macht, verwässert zusehends – und die imaginären Eiszapfen schmelzen dahin. Die Fixierung auf die Laufstege schränkt den Handlungsspielraum ziemlich ein. Man kann die Enge gut ausnützen, um Bedrohungsszenarien zu entwickeln, Männer, die von vier Seiten auf das arme Mädchen zu marschieren, voller böser Absichten. Aber weil das Ganze nicht eine halbe Stunde, sondern mehr als dreimal solange dauert, bleibt am Schluss nicht mehr viel davon übrig. Dann liegen Mädchen und Ensslin minutenlang tot herum, die „Großmutter“ kniet bei ihnen. Doch da hat einen zum Glück längst die Musik gepackt. Kirchner weiß dieser quasi religiös anmutenden Schlussapotheose szenisch überhaupt nichts mehr abzugewinnen.

[9] Ja, die Musik. Sie ist zuerst sehr kontextbezogen, man glaubt den Wind zu hören, die klappernde Kälte. Sie entwickelt sich stark aus der Situation, und die Soprane werden bald auch durch Schnalzen und Wangenklopfen zur Tonerzeugung herhalten müssen. Das Ganze ist sehr artifiziell, plötzlich kurzgeschnittene Toneinspielungen, Musik- und Sprachfetzen aus dem Radio, setzen Akzente. Besonders aufregend findet man das alles nicht wirklich. Es ist gut gemacht, eine Art von Paraphrase zum Thema „Frieren“ und „Kälte“. Eine akustischer Wahrnehmungsversuch, wenn man so sagen möchte, der nicht wirklich einen dramatischen Fortgang reflektiert. Man könnte es im übertragenen Sinne auch als Bildbeschreibung bezeichnen (und es wäre schön gewesen, wenn Kirchner ein paar Bilder geschaffen hätte, die als Vorlage für diese Beschreibungen tauglich gewesen wären). Lachenmann nennt es ja auch (diesmal im Programmheft nachzulesen): „Eine musikalische Handlung“. (Ein kleiner Querverweis auf Wagners „Tristan“ ist da wohl implementiert.) Die Spannung wird einigermaßen aufrechterhalten, aber der Weg ist lange, das merkt man schon nach einer halben Stunde. Und man meint zu erkennen, dass der betriebene Aufwand in direktem Verhältnis zur Beliebigkeit einer zeitgenössischen Moderne steht, die sich nur mehr über die eingesetzten Mittel von einander zu unterscheiden weiß.

[10] Das Mädchen brennt also seine Hölzchen ab, Ensslin hängt sich auf (zumindest in der Version von Kirchner). Die Großmutter aus Andersens Märchen erscheint, um den beiden Toten Beistand zu leisten. Und jetzt gewinnt die Musik endlich jenen Boden unter den Füßen, den man schon längst gänzlich entschwunden glaubte. Schlagwerk duelliert sich über die große Halle hinweg. Alles schwingt sich auf zur Himmelfahrt – um sich in einer minutenlang gehuldigten Transzendenz wiederzufinden. Ein Sho, eine japanische Mundorgel, dem Klang einer Mundharmonika nicht unähnlich, haucht ihre Opfertöne hinaus in den Raum, Klopfgeräusche, wie auch immer sie erzeugt sein mögen, hallen wider und wider, leise, mit langen Pausen, transformieren alles vorher gesehene und gehörte in eine meditative Gegenwart. Diese letzten rund fünfzehn, zwanzig Minuten geben dem Werk seinen Charakter. Lachenmann spricht im Programmheft davon, dass am Schluss „die Musik den Orchesterklang endgültig hinter bzw. unter sich gelassen habe“. Die Einbeziehung eines asiatischen Instrumentes scheint hier nur konsequent. Die Musik wandelt sich zum Ton, und verwandelt diesen wieder, schwebend, losgelöst von allem Systemhaften, in ein zeitloses Sein.

[11] Nicht alle im Publikum hielten durch bis zu Schluss. Aber es waren nicht so aufregend viele, die die Halle flohen. Viel Applaus nachher für alle Beteiligten.