EL JUEZ
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Theater an der Wien
5. Juli 2016

Musikalische Leitung: David Giménez

Inszenierung: Emilio Sagi
Szenische Einstudierung: Javier Ulacia
Bühne: Daniel Bianco
Kostüme: Pepa Ojanguren
Licht: Eduardo Bravo

ORF Radio-Symphonieorchester
Arnold Schönberg Chor

Premiere 2. Juli 2016

Federico Ribas, Richter - José Carreras
Alberto Garcia, Liedermacher - José Luis Sola
Paula, Journalistin - Sabina Puértolas
Dr. Felix Morales, Vizepräsident der
Sauberen Hände - Carlo Colombara
Äbtissin - Ana Ibarra
Maria / Erste Nonne - Maria José Suárez
Zweite Nonne - Itziar de Unda
Paco, Kameramann - Manel Esteve
Eine alte Frau - Milagros Martín
Vier Männer der Sauberen Hände -
Julian Henao Gonzalez, Thomas David Birch,
Ben Connor, Stefan Cerny
Erste Frau - Birgit Völker
Zwiete Frau - Generose Sehr
ALte Frau - Katja Scheibenpflug
Alter Mann - Marcell Attila Krokovay
Ein Kind - Lana Matic


„Die Macht des Systems
(Dominik Troger)

Noch einmal war José Carreras auf der Opernbühne zu erleben: „El Juez“ machte es möglich. Mit zwei Aufführungen im Theater an der Wien nahm der außergewöhnliche Sänger seinen diesmal wohl endgültigen Bühnenabschied.

Eigentlich hatte José Carreras schon 2009 der Bühne Ade gesagt, aber dann kam Christian Kolonovits. Basierend auf einem Libretto von Angelika Messner hat er den Sänger noch einmal in die Opernhäuser zurückgelockt: Mit einer Rolle, die Carreras auf den Leib geschneidert worden war. 2014 fand die Uraufführung von „El Juez“ in Bilbao statt. Nach Aufführungen bei den Tiroler-Festspielen in Erl und in St. Petersburg hat die Oper um das Schicksal der „verlorenen Kindern“ in der Zeit der Franco-Diktatur in Spanien jetzt in Wien halt gemacht.

Damals wurden Kinder, teils im Säuglings- und Kleinkindalter, regimekritischen Eltern weggenommen und in Klöstern und bei Pflegefamilien „umerzogen“. Den Kindern wurde dabei oft eine neue Identität gegeben, ein Keil des Vergessens zwischen sie und ihre Mütter und Väter getrieben. So wächst auch „El Juez“ Federico Ribas auf, erzogen in einem Kloster, mit neuem Namen und einer neuen Familiengeschichte. Seine Eltern seien von Aufständischen ermordet worden, hat man ihm erzählt. Dass er einmal Federico Garcia gewesen ist, erfährt er erst im vierten Akt der Oper. Er verdankt diese Erkenntnis der Anregung des Liedermachers Alberto Garcia, der seinen Bruder sucht, und unermüdlich die Öffentlichkeit für das Thema der verschwundenen Kinder interessiert.

Der Geheimdienst und sein Vizepräsident Felix Morales sehen diese Entwicklung mit zunehmender Besorgnis. Sie sind an keiner Aufklärung interessiert. Ribas wird mit „sanftem“ Druck genötigt, per Dekret die von Garcia geforderte Einsicht in kirchliche Archive zu untersagen. Aber Ribas ahnt, dass die Sache ihn auch persönlich betrifft. Er stellt Nachforschungen an. Die Äbtissin des Klosters, in dem er als Waise aufgewachsen ist, sagt ihm schließlich die Wahrheit. Morales hat inzwischen eine Intrige angezettelt, um Ribas wieder zur unzweifelhaften Systemtreue zu zwingen und um den unangenehmen Alberto Garcia auszuschalten. Garcia wird das Kind des Richters untergeschoben. Im Tumult, der sich bald rund um das Haus des angeblichen Kindesentführers abspielt, wird dieser durch einen Schuss tödlich verletzt. Sterbend erfährt Alberto Garcia vom Richter, dass dieser selbst, Federico Ribas, der gesuchte Bruder ist.

Das Libretto von Angelika Messner ist klar gegliedert, vier Akte mit einem linearen Handlungsablauf, einer solide gebauten Szenenfolge und gut herausgearbeiteten Figuren. Ob die Intrige des Herrn Morales ganz „wasserdicht“ ist, müsste man am Libretto überprüfen, das mir nicht zur Verfügung steht. Auffallend waren ein paar blumige Metaphern, die das „Vintage-Outfit“ dieser Operneuschöpfung noch verstärkt haben.

Denn Libretto und Musik (Christian Kolonovits) lassen längst entschwunden geglaubte Opernzeiten wieder auferstehen: Puccini als Leitfaden mit Musicalanklängen angereichert und unüberhörbare Einsprengsel spanischer Folklore schaffen eine Verismo-Oper des 21. Jahrhunderts. Und es mag ein Zug dieses Jahrhunderts sein, dass alles noch eine Spur gedrängter erscheint. Es gibt kaum buffoneske Momente – vielleicht noch die Haushälterin des Richters, die ihn an seine Augentropfen erinnert oder die ironische Zeichnung der vier Handlager des Geheimdienst-Vizes. Die Handlung beginnt gleich mit einem Aufbäumen des Orchesters und minimalistisch anmutenden repetitiv hetzenden Streichern, die das Publikum in die Handlung zwingen sollen. Dieses Gefühl des Vorwärtsdrängens bleibt eine Grundkonstante, viel Zeit für ausladende Emotionen gönnt Kolonovits den Sängerinnen und Sängern und dem Publikum selbst bei den sehr puccini-überhauchten Liebesbezeugungen zwischen Alberto und Paula nicht.

Der Komponist bleibt dabei tonal, und das entspricht auch der Zielrichtung seines Komponierens, das kompromisslos einem publikumszentrierten Entertainment huldigt. Mir scheint aber, dass Kolonovits ein wenig auch die „Unarten“ des Verismo mitkomponiert hat, der mit seiner emotionalen Expressivität die Stimmen zu oft zum Forcieren drängt. Vielleicht ist dieser Eindruck dadurch verstärkt worden, dass das ORF Radiosymphonieorchester unter David Giménez für das Theater an der Wien in der Lautstärke zu unsensibel an die Sache heranging – und weil die Sängerinnen und Sänger zum Teil keine Verismostimmen auf die Bühne gestellt haben. Doch davon später.

Kolonovits erweist sich in „El Juez“ jedenfalls als geschickter Spieler auf einer schon etwas in die Jahre gekommenen Opern-Klaviatur: ein Stimmungserzeuger, der mittels Glockenspiel leitmotivisch Erinnerungsmomente an die Kindheit weckt oder mit Holzbläserkolorit sensible Konturen zaubert. Die schon erwähnten spanischen Anklänge bis hin zur Bolerorhythmik erzeugen eine emotionale Aura, verorten die Oper in einem dem Publikum durchaus bekannten Opernspanien, das sich aber in neuen Melodien variiert.

Was zählt, ist letztlich der Gesamteindruck: eine Oper als gelungene Fingerübung, die gleichsam als trefflich gezeugtes Enkelkind einer vergangenen originären Epoche, durchaus die Wertschätzung des Publikums verdient. Daran ist nichts Ehrrühriges – und weil es Kolonovits in seiner Musikalität ehrlich meint, ist „El Juez“ mit ansprechender Besetzung durchaus ein Lebenszeichen modernen repertoirefähigen (!) Musiktheaters. Es wäre ohnehin zu wünschen, dass moderne Themen von heutigen Komponisten vertont werden – und nicht, dass man sie über 200 Jahre alte Werke stülpt, die einem ganz anderen gesellschaftlichen Kontext entsprungen sind.

José Carreras war das Zentrum von „El Juez“. Er hat der Oper nicht nur die Aufmerksamkeit garantiert, die es heutzutage einfach braucht, sondern ihm wurde mit dem Richter auch eine Rolle kreiert, die es ihm ermöglicht hat, ein künstlerisches Resümee zu ziehen: perfekt an seine stimmlichen Möglichkeiten angepasst, auf seine altersgemäß männlich-statuarische Bühnenerscheinung berechnet und sein soziales Engagement ansprechend.

Carreras ist nie ein begnadeter Singschauspieler gewesen, sein lyrischer, romantischer Tenor mit dem melancholischen „Blick“ hat schon alleine genügt, um das Publikum zu bezaubern. Carreras war ein Poet, der mit seinem Gesang tauperlenbesetzte Rosensträuße verteilt und sie ins Licht schwelgerischer Septembersonne getaucht hat – und ganz besonders wirkungsvoll hat seine Stimme den Puccini-Winter von „La Bohème“ durchwärmt und Mimis kälteerzitterndes Händchen vor dem Erfrierungstod bewahrt. Aber dann kam Herbert von Karajan, der den Sänger als Radames und Don Carlo dem Altar der Kunst aufopferte – und dann kam die schwere Erkrankung, die Mitte der 1980er-Jahre unter den Opernfans eine Schockstarre ausgelöst hat. José Carreras 2016 noch auf der Opernbühne erleben zu dürfen, das kommt ein bisschen auch einem Wunder gleich.

Kolonovits hat die Partie des Richters in für den Sänger angenehmer Mittellage positioniert. Die forsche Gangart des Orchesters, aber auch die emotionalen Schlüsselstellen der Partie forderten der Stimme einigen Krafteinsatz ab. Sie hat sich im Timbre das charakteristische Leuchten bewahrt, zwar nicht mehr so üppig wie früher, naturgemäß, aber doch deutlich genug, um einen das Charisma dieses Tenors nach wie vor spüren zu lassen.

Der zweite Tenor im Bunde war José Luis Sola, er sang den Liedermacher beziehungsweise den Bruder. Er ließ eine schlanke Tenorstimme hören, in der Höhe verengt und forciert klingend. Sabina Puértolas wurde als Journalistin aufgeboten. Die Sängerin war im Theater an der Wien bis dato in Barockopern zu hören gewesen. Sie musste ihren lyrischen Sopran teilweise stark beanspruchen, bis zu nicht mehr sehr anhörlichen Spitzentönen. Beide Mitwirkenden überzeugten mit präsentem Auftreten, mit viel Leidenschaft, aber nach meinem Eindruck haben beiden Stimmen unter den veristisch geführten Gesanglinien mehr gelitten als davon profitiert. Aria Ibarra als Äbtissin sang mit saftigem Mezzo, mit guter Tiefe, aber das starke Vibrato empfand ich als ziemlich störend. So hinterließ Carlo Colombara gesanglich den kompaktesten Eindruck. Sein etwas nüchterner Bass strahlte genug Gefährlichkeit aus. Morales, von Kolonovits möglicherweise als Mischung aus Großinquisitor und Scarpia konzipiert, ist ein trefflicher Bühnenbösewicht, auch wenn die Figur letztlich etwas oberflächlich bleibt und in ihrer Bühnenwirkung an die beiden genannten Vorbilder nicht heranreicht. Ein überraschendes Detail waren die Koloratur-Ausflüge einer aufgeregten Nonne in der ersten Szene – stilistisch unerwartet, aber vielleicht der Versuch, das schüchtern-singvogelartige Wesen einer Klosterfrau beschreiben. Die Äbtissin ist allerdings von einem ganz anderen Kaliber. Der Arnold Schönberg Chor agierte diesmal als demonstrierende, gesanglich nachhaltig auf Aufklärung der Sachlage um die verschleppten Kinder drängende Menge.

Die Inszenierung von Emilio Sagi erwies sich als handlungsorientierte, praktikable, unspektakuläre „Reiseinszenierung“. Es gab nur einen „Specialeffekt“, als plötzlich kleine Puppen vom Bühnenhimmel regneten – die verlorenen Kinder. Viele Szenen spielten vor einem bühnenhohen Gitter, das man als Klostereingang ebenso deuten konnte, wie als Symbol für die im System gefangenen Menschen. Dann gab es noch die „gute Stube“ des Richters zu „bewundern“ mit einem alten Fernseher, weiters ein karges Klosterempfangszimmer. Die Requisiten waren einfach und beweglich gehalten. Das Klosterarchiv mit den begehrten Akten über die Kindeswegnahmen wurde schrankweise hereingerollt. Zwei flache Kästen auf Rädern, einer von links und einer von rechts, und beim Aufeinanderprallen sah man im Scheinwerferlicht die feine Staubwolke, die in die Kulissen entstob.

José Carreras wurde schon in der Premiere „offiziell“ verabschiedet. Nach der zweiten Aufführung gab es rund zehn Minuten langen, starken Schlussapplaus.