DER EVANGELIMANN
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Wiener Volksoper
Premiere
9.4.2006

Musikalische Leitung: Alfred Eschwé

Inszenierung: Josef Ernst Köpplinger
Bühnenbild: Johannes Leiacker
Kostüme: Marie-Luise Walek
Licht: Wolfgang Könnyü

Friedrich Engel - Walter Fink
Martha - Alexandra Reinprecht
Johannes Freudhofer - Wolfgang Koch
Mathias Freudhofer - Jürgen Müller
Xaver Zitterbart - Wolfgang Gratschmaier
Anton Schnappauf - Josef Luftensteiner
Hans - Eugene Amesmann
Friedrich Aibler - Josef Forstner

Aiblers Frau - Ulrike Pichler-Steffen
Frau Huber - Lidia Peski
Nachtwächter - Markus Raab


„Gelungene Wiederbelebung “
(Dominik Troger)

Ein kräftiges Lebenszeichen gab Kienzls „Evangelimann“ in einer neuen Volksopernproduktion. Der Abend schloss mit einhelligem zustimmendem Beifall.

Der „Evangelimann“ war einst ein großer Opernerfolg, erst nach dem zweiten Weltkrieg ist es immer ruhiger um dieses Werk geworden. 1895 uraufgeführt steht es ganz in der unmittelbaren Wagnernachfolge – und die sehr starke Gegenwart des Bayreuther Meisters in der Partitur ist unüberhörbar. Wahrscheinlich ist gerade dieses Element wichtiger Baustein von Kienzls Erfolg gewesen – den Zeitgenossen der Uraufführung musste der „Evangelimann“ im wahrsten Sinne als „auf der Höhe der Zeit“ erscheinen. Die Verschmelzung von Wagners hehrem Pathos mit einem „aus dem Leben gegriffenen“ Opernstoff hat zugleich die Eigenständigkeit des Werkes betont. Unverkennbare Querbezüge zum italienischen Verismo geben dem kleinstädtischen Geschehen in einem niederösterreichischen Klostersitz, St. Othmar, und später in Wien, punktuell forsche, sogar mitreißende Züge. Die beiden heute noch bekannten „Arien“, Magdalenas „O schöne Jugendtage“ und vor allem das unverwüstliche „Selig sind, die Verfolgung leiden“, beleben mit südländischer Frische und melancholischer Zartheit. In diesen Momenten gewinnen die handelnden Personen eine Schlichtheit des Ausdrucks, die ihrem Gefühlsleben weit aus angemessener erscheint, als das Wagner’sche Heroenringen. Aber das ist möglicherweise die Herausforderung, der sich ein heutiges Publikum stellen muss: denn wirkt es nicht schwer befremdlich, wenn ein Schullehrer (der intrigante Johannes Freudhofer) am Sterbelager in Amfortasqualen ausbricht und von „Blut“ und „Erlösung“ singt? Die verwendeten Stilmittel scheinen nicht mehr zum Stoff zu passen – und das an Wagner geschulte Hörerleben verleitet zu einem ablenkenden Puzzlespiel: „Holländer“, „Tannhäuser“, „Parsifal“, „Walküren-Celli“ und eine „Tristansche Liebesnacht en miniature“? Doch die Publikumsreaktionen waren sehr eindeutig und positiv gestimmt, der „Evangeliemann“ scheint eine stärkere Überlebenskraft zu besitzen, als man vermuten könnte.

Bei der musikalischen Ausführung gab es wenig zu bekritteln. Alfred Eschwé sorgte für einen leichtblütigeren, österreichischen Tonfall, der auch den Streicherklang forcierte und den schroffen Effekt immer wieder zugunsten warmströmenden Sentiments abmilderte. Als Zuhörer vermerkte man positiv die spielerischen Möglichkeiten des Volksopernorchesters (unbeschadet der Grenzen, an die es hin und wieder stieß). Die SängerInnen müssen nicht nur im Wagnerstil bestehen, sondern auch den gewaltigen Zeitsprung deutlich machen, der zwischen erstem und zweitem Aufzug die Handlung um ganze 30 Jahre weiterbringt. Der Martha, Nichte des Rechtspflegers und Vormunds Friedrich Engel, lieh Alexandra Reinprecht ihre sensible, reizvolle Stimme. Sie steht nur im ersten Aufzug auf der Bühne und hat ein wenig damit zu kämpfen, dass sie ihre jungmädchenhafte, einzige Liebe (eben den späteren Evangelimann Mathias Freudhofer) mit siegelindehaftem Eifer verteidigen muss. Das gelingt Reinprecht zwar gut, nimmt aber viel von dem Charme ihrer feinnervigeren gesanglich-emotionalen Ausdrucksskala.

Jürgen Müller (Evangelimann) hat einen hellen, kräftigen Tenor. Dass er auf mich in Summe doch etwas einförmig wirkte, mag mit seinem Stimmtypus zu tun haben, der nicht sehr intensiv ins Leidvolle hinüberspielt. Im zweiten Aufzug hat Mathias eine längere Gefängnisstrafe hinter sich, seine Existenz ist zerstört. Dieses unverschuldet verpfuschte Leben, das müsste man heraushören können. Müller sang die Partie auch im zweiten Teil sehr „deutsch“ und „reckenhaft“, für mich zu unangefochten von seinem Schicksal, zu wenig auf den Gefühlsausdruck fokussiert in den doch teils langen Berichten, die er Magdalena gibt. Wolfgang Koch sang den bösen Bruder, Schullehrer Johannes Freudhofer. Für ihn gilt ähnliches. Wobei er von den Hauptfiguren wahrscheinlich die undankbarste Aufgabe hat. Zuerst ist er ein eindimensionaler Bösewicht, dann muss er in der langen Sterbeszene „alle Farben“ bekennen, fast außer sich vor Gram und Schuldbekenntnis. Die vierte im Bunde, Magdalena, Marthas Freundin, Janina Baechle, bestritt die schon angesprochene Arie mit viel Erfolg. Walter Fink erfüllte die Funktion des bösen Vormunds mit gewichtigem Zorn – wobei auf mich insgesamt dieses Intrigenspiel im ersten Teil schon etwas schwerfällig wirkte. Allerhand Personal tat sich – je nach Szene – mehr oder weniger achtbar hervor.

Dreiecksverhältnisse sind dankbare Bühnenstoffe. In diesem Fall ist es ein Brüderpaar, das um Marthas Gunst buhlt. Martha hat sich für Mathias entschieden, aber dessen Bruder, Johannes ist schwer eifersüchtig. Er intrigiert beim Vormund, dieser untersagt jede weitere Zusammenkunft zwischen den beiden. Als Johannes mit seinem Werben bei Martha abblitzt, beschließt dieser teuflisch, deren Glück zu zerstören. Er zündet eine Scheune an, der Verdacht fällt auf seinen Bruder, und der wird für 20 Jahre unschuldig eingesperrt. Die etwas grobschlächtige Psychologie der Figuren hebt sich ganz gut von einem aus Lokalkolorit gewebten Hintergrund ab, der die dörfliche oder kleinstädtische Gemeinschaft beim Kegelabend zeigt. Dabei macht man sich vor allem über den Schneider Zitterbart lustig (von Wolfgang Gratschmaier intensiv gespielt), den „Kegeltod“ (weil er „alle Neune“ umgeschoben hat). Musikalisch sticht hier eine kurzes ostinato-gedrängtes Liebesgeflüster zwischen Martha und Mathias heraus, das die Kegelszene unterbricht und einen ganz neuen, fast modern zu nennenden Tonfall anschlägt. Mit Beginn des zweiten Aktes sind 30 Jahre vergangen. Mathias ist aus der Haft entlassen und zieht als Wanderprediger durch die Lande. Er trifft in einem „Zinshauswien“ auf Magdalena und erfährt vom Selbstmord Marthas. Dann führt sie ihn zu Johannes, der in einem Spital im Sterbebett liegt. Die Brüder erkennen sich, Mathias verzeiht, Johannes stirbt „entsühnt.“ Die vom Libretto vorgegebene Handlungszeit sind die Jahre 1820 und 1850. Für die Besprechung dieser Inszenierung ist wichtig anzumerken, dass Kienzl dieses „Selig sind, die Verfolgung leiden“ nur am individuellen Schicksal der Hauptfiguren festmacht. Es gibt keine daraus abgeleiteten politischen Botschaften. Die Verhöhnung des Schneiders im Kegelbild hat Genrecharakter – und spielt mit den typischen Schneider-Klischees, die man auch aus den Grimm’schen Märchen kennt.

Die Inszenierung hat die Hauptfiguren konventionell belassen und auf das Stück vertraut – ohne exzessive oder verfremdende Personenregie. Die Handlung wurde in die Jahre „um“ 1900 und „um“ 1930 verlegt. Dass man diese „Inszenierungs-Zeitrechnung“ in der Inhaltsangabe des Programmheftes anführt (und am Besetzungszettel!) löste einige Irritationen aus. Inhaltsangaben sollten sich prinzipiell auf den ursprünglichen, in Libretto beziehungsweise Partitur definierten Handlungsrahmen und -zeitraum beziehen. Schließlich steht auf der Verpackung immer noch Kienzl drauf. Der interpretatorische Spielraum des Produktionsteams kann durch umfangreiche Beiträge im Programmheft deutlich genug herausgestrichen werden.

Anliegen der Regie war es offensichtlich, einen zeitgeschichtlichen Rahmen zu finden. Dazu hat das Regieteam um Josef Ernst Köpplinger nicht die Hauptpersonen genutzt, sondern die Genreszenen. Der schon erwähnte Schneider Zitterbart wird zum Juden und muss für eine brutale antisemitisch-motivierte „Ab-Reaktion“ der St. Othmarer Bevölkerung herhalten. Ihm wird ziemlich eingeschenkt und die an sich harmlose Dorfneckerei wird zum anklagenden Auftakt eines christlich-sozial verbrämten Antisemitismus umgebaut. Davon gabs bekanntlich „um 1900“ genug – aber es ist natürlich festzuhalten, wo die Interpretation anfängt und wo Kienzls Textvorlage aufhört. Weil die Volksempörung musikalisch kaum einen solchen Hassausbruch motiviert, hat man offenbar noch Zwischenrufe eingebaut, um die Szene dramatischer auszuschmücken. Sie gewann dadurch zwar stark an Konturen – entfernte sich aber entsprechend weit vom ursprünglichen Handlungsfaden. Im zweiten Aufzug wird regiegemäß der Austrofaschismus bemüht, Heimwehrmänner versuchen – während Magdalena und Mathias einander ihre Herzen ausschütten – einen Juden „abzuholen“. Wenn es Köpplinger bei seinem Regiekonzept genau darauf angekommen sein sollte, dann war das nicht sehr überzeugend umgesetzt. Solche Moral kann man nicht „nebenbei“ und „aus dem Hintergrund“ servieren. Dann wäre es wohl besser gewesen, gleich die Handlungszeit von 1908 bis 1938 zu spannen.

Das Bühnenbild basierte auf großen schwarzen Flächen mit weißlinigen Bibelsprüchen – das war dann der Rahmen für eine bunte bayerische „Bauernbarockschrankherrlicheit“ im ersten Aufzug (wie ist die nur nach Niederösterreich gekommen?) sowie für ein Seitengassen-Wien im zweiten Aufzug. Das Bühnenzinshaus war mit Gegensprechanlagen ausgestattet – ein hübscher, und ich denke mal, ungewollt passierter Anachronismus. Auch das Gebetbuch des Evangelimanns wirkte viel zu frisch und unabgegriffen (im Gegensatz zu seiner minutiös-designten Sandlerkleidung mit liebevoll aus- und abgeschnittenem grauem Stirnband). Das hat mich dann doch etwas gestört, zumal die Inszenierung den Eindruck erweckte, historisch stimmig sein zu wollen –- sowohl in der Ausstattung als auch in der moralischen Aussage.

Der Schlussbeifall war stark – die Premiere ein Erfolg. Ob sich das Werk über einen längeren Zeitraum im Repertoire halten kann, bleibt abzuwarten. Musikalisch ist die Produktion gut gelungen, die Inszenierung kann man sicher noch ein wenig adaptieren und einige Plattheiten im zweiten Aufzug mildern.

Version 1.1 - 11.4.06 (Dankenswerter Weise angeregt durch ein E-Mail, das mich auf missverständliche Angaben zu St. Othmar und zur historischen Authentizität von Bühnenbild und Ausstattung aufmerksam gemacht hat.)