DIE BESESSENEN
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Theater an der Wien
19.2.2010
Uraufführung

Musikalische Leitung: Johannes Kalitzke
Libretto: Christoph Klimke

Inszenierung: Kasper Holten
Bühne: Steffen Aarfing
Kostüme: Marie í Dali
Licht: Jesper Kongshaug

Klangforum Wien


Auftragswerk & Neuproduktion des Theater an der Wien

Frau Ocholowska, Mutter von Maja - Noa Frenkel
Cholawicki - Leigh Melrose
Maja - Hendrickje van Kerckhove
Leszczuk - Benjamin Hulett
Fürst Holszanski - Jochen Kowalski
Skolinski - Manfred Hemm
Maliniak - Rupert Bergmann


„Im Supermarkt der Besessenen
(Dominik Troger)

Uraufführung im Theater an der Wien: Johannes Kalitzke „Die Besessenen“. Der Titel verspricht mehr, als schlussendlich gehalten wird. „Besessen“ machte dieser kurze Opernabend nicht.

Einen Roman zu dramatisieren ist nicht immer eine gute Idee. Was der Roman in sich ist, muss am Theater durch das Hinzufügen einer Szene, durch Schauspieler, Sänger et cetera „ergänzt“ werden. Das, was der Roman als Einheit präsentiert, zersplittert in den Händen vieler – und der Medienbruch ist ohnehin ein doppelter. Die Prosa wird in ein Drama umgegossen, das Drama wird szenisch realisiert und dermaßen von der geduldigen Zweidimensionalität des Papiers in die dritte Dimension des Schauspiels erhoben.

Durch die Bindung an die Vorlage entsteht schon beim Libretto ein Kompromiss, bei dem die dramaturgischen Notwendigkeiten des Theaters oft zu wenig mitbedacht werden – und wer mit heutigen Opernregisseuren zusammenarbeitet, muss ohnehin damit rechnen, dass selbige aus dem Libretto dann alles Mögliche herauszulesen meinen, was das Endprodukt vom Ausgangsstoff noch weiter entfernt.

Deshalb ist es verständlich, wenn man sich beim Stoff auf eine literarische Kapazität beruft. Das sichert die öffentliche Aufmerksamkeit und verschafft einem ein Qualitätssiegel, an dem vermeintliche Kritik besser abprallt. In diesem Fall hat man einen Zeitungsroman des polnischen Autors Witold Gombrowicz gewählt. (Gombrowicz ist derzeit bei Opernkomponisten sehr beliebt – man denke nur an seine Burgunderprinzessin „Yvonne“ – das Qualitätssiegel hat also schon seine Wertigkeit.) Gombrowicz ist aber kein zeitgenössischer Autor, der Roman stammt aus den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Man müsste also gewärtig sein, dass Sprache und Stoff einen gewissen Zeitbezug aufweisen, der sich im Laufe der Jahrzehnte schon etwas „abgegriffen“ hat.

Die Handlung des Romans vom alten Schlossbesitzer, seiner wertvollen Gemäldesammlung, von seinen Schuldgefühlen und den Erbschleichereien einer egoistischen, profitstrebenden Jugend, die in einer Zeit des Umbruchs spielt, findet genügend Anknüpfungspunkte in der Gegenwart. Was weniger ins Heute passt, ist die plakative, metaphernreiche Sprache, dieses gewisse Pathos, das gerade Opernlibrettisten so gerne pflegen, obwohl es einem schon bei den Opern aus jener Epoche mit ihrer zeitverhafteten Grellheit etwas „seltsam“ aufstößt.

Was weniger ins Heute passt, ist zudem diese Mischung aus plakativer Gesellschaftskritik und ebenso plakativ überzeichneten Individuen, deren Charaktere – zumindest in der Oper – viel zu sehr einer schematisierenden Psychologie folgen, die nur exzesshafte Zustände zu kennen scheint: wie Liebe, Mord, Verzweiflung. Der Titel des Romans – und der Oper – hat also seine Berechtigung, wird in der szenischen Verknappung im Libretto aber zu einer Aneinanderreihung von „außergewöhnlichen Zuständen“, die wie Blitzlichter vorüberhuschen. Da wird ein Expressionismus beschworen, der sich für meinen Geschmack längst überlebt hat. Die Morde geschehen fast nebenbei, auch ein Eichhörnchen muss en passant dran glauben. Das hatte etwas Rauschhaftes an sich, ohne aber im Zuseher diesen Rausch zu evozieren - eher im Gegenteil. Ein Reiz, der zu lange und intensiv ausgeübt wird, verliert oft seine Wirkung.

Dieser grundsätzlichen Kritik muss eine noch grundsätzlichere an der szenischen Realisierung folgen. Für meinen Begriff hat Kaspar Holten, künstlerischer Leiter der dänischen Oper, dieses ganze Projekt im wahrsten Sinne des Wortes „auf dem Gewissen“. Die Idee, Witold Gombrowicz in das Ambiente eines Supermarktes zu sperren (mit hübschem Product-Placement von M*Schnitten und K*Chips), raubte den „Besessenen“ die letzte Chance, sich zu interessanten Bühnenfiguren zu entwickeln. Am Schluss machten sie es sich konsequenter Weise in den Regalen bequem, so als wären sie ohnehin nichts Anderes als Verpackungen gewesen.

Holten inszenierte eine müde Paraphrase auf die gegenwärtige Konsumgesellschaft. Hätte er doch stattdessen versucht, die Charaktere ein wenig aufzupäppeln, um dem schmalen Libretto (dankenswerter Weise im Programmheft nachzulesen!!) das zu geben, wessen es am dringendsten bedurft hätte: eine psychologische Feinzeichnung, grotesken, tiefgründigen Humor und ein Spiel mit Stimmungen und atmosphärereichen Schauplätzen. Spielen nicht ein altes Schloss mit einer Galerie alter Meister eine wichtige Rolle, ein Wald, eine Hotelhalle mit Tennisplatz, ein Hotelzimmer mit Verführungsszene und Mord? Wo blieb die Doppelbödigkeit des Absurden, die gespenstische Welt eines alten Mannes, der glaubt, dass ein Handtuch (!) durch feuchtkühle Räume geistert? Seltsam genug, dass der Komponist im Programmheft Poe und Beckett anspricht – ohne dass man auf der Bühne einen Funken davon wahrgenommen hätte.

Doch – um diese Themaverfehlung noch auf die Spitze zu treiben – folgt man dem Komponisten, dann hat er mit dem Regisseur diese „Aktualisierung“ a priori abgesprochen und auch die Musik danach ausgerichtet! (Siehe Programmheft Seite 32). Unglaublich aber wahr: man wählt einen Stoff für eine Oper, den man schon bei der Auswahl für so unzeitgemäß hält, dass man ihn bei der Uraufführung (!!!) „aktualisieren“ muss. Solch verquere Logik ist für mich nicht nachvollziehbar, entspricht aber offenbar dem, was heute unter Opernregie verstanden wird. Ob der Altruismus des Komponisten, auf die Ideen Holtens eingegangen zu sein, dem Endergebnis gut getan hat, wage ich zu bezweifeln.

Musikalisch wurden alle „Register“ gezogen. Der musikalische Aufwand, der für diese achtzig Minuten geleistet wurde, war enorm. Das Orchester wurde von Johannes Kalitzke üppig ausgestattet. Man findet Klavier und Keyboard, Akkordeon und diverse Blasinstrumente, reichlich Schlagwerk und Streichereinsatz – teils mit raffinierten Spielweisen das gängige Repertoire der Moderne beschwörend. Mit dem Klangforum Wien stand dem dirigierenden Komponisten ein entsprechender „Werkzeugkasten“ zur Verfügung, der mit all diesem Instrumentarium und entsprechenden Sonderbehandlungen bestens umzugehen wusste.

Doch der Gesamteindruck war vor allem ein kompakter, rauher - und viel zu flüchtiger. Die Besessenheit wurde vom Orchester lautstark artikuliert, legte sich über die Sängerinnen und Sänger, von denen zumindest einige, deutlich sichtbar, kleine Gesichtsmikrofone trugen. Trotzdem kamen die Stimmen eher leise, wirkten im Vergleich zum Orchesterapparat an den Rand gedrängt. Offenbar hatte der Komponist vor allem an der Getriebenheit der Bühnenfiguren Maß genommen und diese in eine musikalische Obsessivität übertragen, die auf Dauer den Zuhörer mehr lähmt als überzeugt.

In den wenigen ruhigeren Passagen, etwa in der Waldszene, gewinnt die Musik in ihrer Reduktion stark an Dichte, formt sie sich zu einem etwas trocken-schillernden Gespinst, das reiz- und stimmungsvoll, gewissermaßen wie windgezupfte Spinnweben, die im Libretto notgedrungen gekürzten atmosphärischen Ausschmückungen des Romans ergänzt. Doch auf der Bühne findet das keine Entsprechung – sogar das Schloss entpuppt sich als heizungs- und lüftungsrohrdurchzogener Dachboden des Supermarktes – in der atmosphärischen Ausstrahlung so flach wie das dazugehörige Dach.

Ein Opfer dieser Obsessivität sind auch die Singstimmen. Es entsteht nicht der Eindruck, dass hier besonders an der musikalischen Artikulation des „Wortsinns“ gefeilt worden wäre. Die Getriebenheit lässt zu wenig Raum für den Text, er kann sich kaum entfalten, kann kaum Nuancen entwickeln, findet keine Zwischentöne. Die Orchesterbegleitung behält viel zu oft die Überhand, besteht auf einem Primat, das ihr in der Oper eigentlich nicht zukommen sollte. Manchmal scheinen die Sänger Worte zu verschlucken, so besessen müssen sie sein.

Die Botschaften eines Skolinski, Kunsthistoriker und möglicherweise auch Weltverbesserer, werden einem hingegen plattitüdenhaft um die Ohren geknallt, wobei er immerhin ein bisschen betrunken sein darf: „Ihr seid Spukgestalten / Gespenster, die ertrinken in der ewig eitlen / Selbstbetrachtung (...)“ Das wird frontal ins Publikum gesungen, wie ein anklagend aufstrahlender Scheinwerfer. Schade, dass insgesamt das weiter oben angesprochene spieltechnische Raffinement im Ausdruck so wenig Entsprechung fand – und in der Regie überhaupt keine.

Befremdlich ist zudem, wenn man einen Bariton vorsieht, diesen dann aber vor allem falsettieren lässt. Dieser Maliniak, laut Libretto ein reicher, kranker Geschäftsmann, der zu Leben weiß, wurde zudem von Holten zu einem billig gekleideten, schmierigen Typen degradiert, Turnschuhe und Trainingshose, der gleich einmal eine Packung Chips aufreißt, wenn er von Delikatessen singt. Was hätte dieser reiche Alten nicht für eine perfide und doch zugleich verletzliche Kreatur abgeben können – szenisch und (!) musikalisch: auf der Suche nach dem Glück sind sie doch alle, diese Bühnenmenschen. Aber ein Supermarkt ist kein Feinkostladen.

Die Besetzung, gleichsam das singende Supermarktpersonal, litt wohl unter diesen Prämissen. Hendrickje van Kerckhove sang eine zarte, tadellose Maja, die aufgrund der Kürze des Librettos leider nicht mit Würze, sondern mit raschen Stimmungsumschwüngen konfrontiert wurde, die glaubhaft bewältigt werden wollten. Stimmlich empfahlen sich auch Leigh Melrose (Cholawicki), Bejamin Hulett (Leszczuk), Manfred Hemm (Skolinski). Rupert Bergmann als Maliniak trat sozusagen außer Konkurrenz an, weil bewusst stimmverfremdend eingesetzt. Noa Frenkel, Majas Mutter, fiel gegenüber den anderen Mitwirkenden etwas ab. Jochen Kowalski hätte einen „fürchterbar“ schaurig-greisen Fürsten abgeben können, aber viel durfte er nicht singen und das Agieren hinter den Heizungs- und Lüftungsrohren war wenig charismafördernd. Das Klangforum Wien spielte so bravourös wie immer.

Dass man zu Beginn der Vorstellung minutenlang dem Supermarkttreiben auf der Bühne zusehen muss, ohne dass ein Ton gesungen oder gespielt wird, verleitete einige Besucher zum Klatschen – sie sollen deswegen von mir nicht getadelt werden.

Der Schlussapplaus war freundlich, es gab einige Bravorufe. Missfallensbezeugung fiel mir keine auf.