SCHNEEWITTCHEN

Aktuelle Spielpläne & Tipps
Forum
Opernführer
Chronik
Home
Holliger-Portal

Konzerthaus
25.11.2002
Konzertante Aufführung,
Österreichische Erstaufführung

Dirigent: Heinz Holliger

Orchester der Oper Zürich


Schneewittchen - Juliane Banse
Königin - Cornelia Kallisch
Prinz - Steve Davislim
Jäger - Oliver Widmer
König - Werner Gröschel

„Familienaufstellung“
(Dominik Troger)

Intellektuelles Opern-Gestrüpp umwuchert dieses zartexpressionistische, schwer begreifbare Gewächs eines Schweizer Schriftstellers, der archetypischem Schneewittchen-Raunen einen gewissen psychoanalytischen Touch abgewonnen hat.

In der Tat handelt es sich bei diesem um 1900 von Robert Walser verfertigten Schneewittchen-Dramolett um eine tiefenpsychologische Märchen-Adaption, die in schwebender, naiver Expressivität das Schicksal Schneewittchens „aufarbeitet“: als Analyse eines Familienkonfliktes (Schneewittchen, Königin, König, Prinz und durch Königinnenlust zum Mordversuch verleiterer Jäger) an dessen Ende ein mehr oder weniger geheiltes „Schneewittchen“ apodiktisch feststellt: „Das Märchen nur sagt so, / nicht Ihr und niemals ich.“

Komponist Heinz Holliger hat sich dieses Textes für sein Libretto angenommen. Dieser Text, in einem über weite Strecken so unschuldig erscheinenden meist vierhebigen Strophenrhythmus gehalten, hat immerhin ein paar Falltüren eingebaut, durch die die Walser‘sche „Naivität“ ein wenig ins pathologische abgleiten kann. Eine „gesunde“ Mutter-Tochter-Beziehung ist das ja nun gerade wirklich nicht, was hier Schneewittchen und Königin zwischen Hass und Liebe an Gefühlen austauschen und erst der Schluss macht klar, was vorhin ein Märchen oder ein Traum gewesen ist – oder doch nicht?

Der König selbst, eine Art von allgegenwärtigem Vater, kommt erst gegen Ende ins Spiel. Vor ihm klärt sich das Bild. Und ob die Königin mit dem Jäger wirklich fremdgegangen ist und Schneewittchen darob eine kleine Psychose auszuleben hatte, ob die Tochter eine traumatische Insuffizienz durch einen Erinnerungstrip abgearbeitet hat, das kann man sich dann mehr oder weniger zusammenreimen. Zumindest wäre das nachvollziehbar, ohne in so bedeutungsschwangere Interpretationsmuster abzugleiten, wie sie das Programmheft mit Akribie bemüht. (Man konnte das Originalprogrammheft der Züricher Oper zur Uraufführung im Oktober 1998 mit einem eingelegten Zettel des Wiener Konzerthauses erwerben.) Das merkwürdige Leben des Schriftstellers Robert Walser, der viele Lebensjahre in einer „Nervenheilanstalt“ verbracht hat, lädt natürlich dazu ein, hier mannigfaltige Bezüge aufzudecken, und offensichtlich hat sich auch der Komponist dieses Werkes stark darum bemüht, diese Bezüge noch zu mehren.

Doch so mancher Text, dem man in gesprochenem Zustand längst nicht mehr über den Weg traut, macht gesungen immer noch eine ganz gute Figur. Und Holliger nützt diesen Viertakter, eine Art von kastriertem Blankvers, für mannigfaltige rhythmische Interaktionen. Es ist eben ein großer Unterschied, ob Strophe für Strophe und Wort und Sinn zusammengefasst süffig dahinfließen, oder ob Wort für Wort ausgestoßen, fast gestammelt, wie im Affekt ausgeschleudert, oder Arios verziert, plötzlich an Eigenleben gewinnen. Die starke dynamische Kraft, die aus dieser besonderen Behandlung des Sprachduktus entsteht, ist nicht zu unterschätzen und bringt die Spannung ein, die einen als Zuhörer wach hält – auch wenn sie nicht unbedingt die Sehnsucht nach emotionaler Geborgenheit im Schoße der Musik befriedigt. Holliger komponiert über weite Strecken keine Sätze oder Sinneinheiten, sondern Worte. Wie Mosaiksteinchen reihen sie sich aneinander, vom Orchester farbenreich umspült. Gerade mal Schneewittchen darf sich hin und wieder so einen Schuss an sentimental gespannten melodiösen Bögen setzen, und es darf seine Todes-Sehnsucht in dem neben Prolog und Epilog musikalisch eingängigsten Teil des Werkes, einer kleinen Arie in der zweiten Szene, so richtig ausleben. „Ich bin so still wie weicher Schnee, / der für den Strahl der Sonne liegt“ singt das arme Geschöpf, während im Orchester von Glasharmonika klingend unterstützt Eiskristalle auf akustisch glitzernde Weise zu schmelzen beginnen und dann wie kleine Eiszapfen von Dächern und Bergkanten zu Boden klirren. Da treibt Schneewittchens Todessehnsucht ziemlich einsam im hysterisch überspannten Klanggewühl und Wortstakkato, wie eine Puccini‘sche Insel längst vergangener Opernzeiten – im übertragenen Sinne. Aber diese Insel hat mit dem Prolog und dem Epilog des Werkes wenigstens einen Anfang und ein Ende gemein, in das dieses „Nicht-Märchen“ eingebettet ist: Der Beginn, als von den Sängern in Einheit geatmeter Klangraum, schwebend und meditativ – und das Ende, mit einem Nachwehen jener schneewittchenhaften Eiskristalle, die leise verklingen. Hätte es nur mehr davon gegeben, um ein wenig ausruhen zu können, von dieser imposanten Kopfarbeit.

Den Ausführenden, unter dem wachsamen, stabführenden Blick des Komponisten höchstpersönlich, kann man angesichts des herausfordernden Stücks nur Bewunderung zollen, und ob dieser deutlich spürbaren Souveränität mit der sie diese schwierige Aufgabe lösten. Vor allem auf das „Schneewittchen“ hatte es Holliger abgesehen, das er oft genug in exponierteste Lagen führt. Juliane Banse meisterte das beeindruckend und konnte sich dabei trotz aller Exaltismen fast immer den angenehmen, warmen Ton ihrer Stimme bewahren. Mit herbem, doppelzüngigem Charakter bot auch die Königin von Cornelia Kalisch als Gegenspielerin von Schneewittchens Unschuld eine starke Persönlichkeit. Steve Davislim hatte es als Prinz auch nicht gerade leicht, vor allem in der zweiten Szene hat ihm Holliger viel abverlangt, dagegen war der Jäger (Oliver Widmer) ja schon fast eine Okkasion. Und der König (Werner Gröschel) hat ja ausgesprochen wenig zu singen. Das Orchester der Oper Zürich war vom Komponisten-Dirigenten sehr gut eingestellt. Dass die Züricher Oper erst im Oktober eine Reprise in Uraufführungsbesetzung auf den Spielplan gesetzt hatte, machte sich wirklich sehr wohltuend bemerkbar. Da war reichlich Platz für Nuancierungen und Ausdeutungen der Partitur, und die Zuhörer im Konzerthaus konnten die Quintessenz von vier Jahren „Schneewittchen“ samt reprisenbedingter Auffrischung ernten: ein künstlerischer Genuss, eine hochwertige Aufführung – auch wenn man das Werk selbst mit einer gewissen Skepsis beäugte.

Und die „Drop-out-Rate“ beim Publikum war auch höher als erwartet – und nicht alle die gingen, taten dies auf leise, rücksichtsvolle Art. Es ist unbestreitbar, dass dieses „Schneewittchen“ den Zuhörern einiges abverlangt. Das Werk gibt sich akustisch über weite Strecken ziemlich spröde, regiert von einem faszinierenden, aber wenig anheimelndem Intellekt. Eine vordergründig dramatische Entwicklung findet überhaupt nicht statt. Man könnte auch sagen, die Handlung reflektiert sich selbst, und bricht sich am eigenen Erzählkontext. Und Holliger hat dann auch noch versucht, das in etwa so zu komponieren. Außerdem gab es da keine szenische Auflösung, die vielleicht ein paar visuelle „Aufheller“ hätte beisteuern können. Zwar blendete man auf einer großen Projektionswand hinter dem Orchester Szenenfotos von der Züricher Produktion ein, aber diesem Behelf gelang es nicht, den rigiden Puritanismus einer konzertanten Aufführung etwas auszustaffieren.

Nein, dieses „Schneewittchen“ ist wahrlich keine „Einstiegs-Oper“ in das zeitgenössische Repertoire. Es ist eine faszinierende Klang- und Wort-Agglomeration, die aber immer in der Gefahr schwebt, unter einem immensen Erklärungsbedarf zu ersticken. Ein Opern-„Rebus“ für Eingeweihte, das schlussendlich doch mit relativ viel Applaus bedacht wurde.