DAS VERRATENE MEER
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Wiener Staatsoper
14.11.2020

Premiere

Musikalische Leitung: Simone Young

Inszenierung: Jossi Wieler, Sergio Morabito
Ausstattung: Anna Viebrock
Ko-Bühnenbildner: Torsten Köpf
Kostüme: Herbert Murauer
Licht: Phoenix (Andreas Hofer)

Aufführung wegen der Corona-Pandemie ohne Publikum, Livestream der Wiener Staatsoper

Fusako Kuroda - Vera-Lotte Boecker
Noboru; Nummer Drei - Josh Lovell
Ryuji Tsukazaki - Bo Skovhus
Nummer Eins, Anführer - Erik Van Heyningen
Nummer Zwei - Kangmin Justin Kim
Nummer Vier - Stefan Astakhov
Nummer Fünf - Martin Häßler
Stimme eines Schiffmaats - Jörg Schneider


Das verratene Meer: Staatsoperpremiere im Livestream
(Dominik Troger)

Die Wiener Staatsoper widmete sich in ihrer ersten eigenproduzierten Premiere der Saison 2020/21 Hans Werner Henzes Oper „Das verratene Meer“. Wegen der coronapandemischen Einschränkungen wurde das Stück ohne Publikum aufgeführt und live von der Wiener Staatsoper gestreamt. Auf diesen Stream beziehen sich nachfolgende Ausführungen.

Im Zentrum der Handlung stehen Noboru, seine verwitwete Mutter Fusako, der Seemann Tsukazaki und eine Jungenbande, der Noboru angehört. Mutter und Seemann verlieben sich, sie wollen heiraten. Tsukazaki ist für Noboru zuerst ein großes Vorbild: ein „Held des Meeres“. Doch als Tsukazaki seine Mutter heiraten und das Seemannsleben aufgeben möchte, empfindet das Noboru als Verrat. Sein Held entpuppt sich als schwacher bürgerlicher Erwachsener, als „erbärmlicher Vater“. Tsukazaki wird für den Jugendlichen zum Symbol für die verhasste Elterngeneration. Noboru und seine Clique halten über Tsukazaki Gericht und beschließen, ihn zu ermorden. Der Seemann wird zum Versteck der Bande gelockt, es wird ihm ein mit Schlafmittel versetzter Tee gereicht. Die Oper endet Sekunden vor dem Beginn der Hinrichtung.

Die Handlung spielt in Yokohama. Sie besteht aus zwei Teilen („Sommer“ – „Winter“), die sich insgesamt in 14 Szenen gliedern. Die Szenen werden durch Zwischenspiele verbunden. Die Spieldauer ohne Pause beträgt rund zwei Stunden. Die Musik von Hans Werner Henze betreibt mit großem Orchester und zugespielten Geräuschen einen ungeheuren musikalischen Aufwand, allein die Auflistung der verschiedenen Schlaginstrumente liest sich wie ein Lexikoneintrag in der Encyclopaedia Britannica. Die Protagonisten befleißigen sich eines bei Schönberg und Berg abgelauschten Sprechgesangs, die Musik pflegt aber auch Reminiszenzen an Richard Strauss, Dmitri Schostakowitsch u.a.m. Das Orchester wird vor allem in den Zwischenspielen oft laut und dicht (zum Meer gibt es natürlich auch eine Sturmmusik), während die Singstimmen behutsamer gestaltet sind.

Der Stoff basiert auf einem Roman des japanischen Autors Yukio Mishima. Der deutsche Titel der Oper „Das verraten Meer“ entspricht bei weitem nicht dem, was der japanische Titel suggeriert. Der japanische Titel „Gogo no Eiko“ spielt offenbar auf Lotsenschiffe an, die große Schiffe in und aus dem Hafen leiten. Die Geschichte, die Mishima erzählt, ist geprägt von Gewalt und Sexualität, von der Sehnsucht nach Ruhm und Ehre, und reflektiert das Schicksal Japans nach dem Zweiten Weltkrieg. Außerdem lässt sich der Roman kaum von der Biographie des Autors trennen, der 1970 auf spektakuläre Weise Selbstmord begangen hat.

Es existieren mehrere Fassungen der Oper und für die Staatsoper wurde offenbar eine Mischfassung erstellt, die einerseits Henzes Revisionen aus den 2000er-Jahren berücksichtigt, andererseits aber in deutscher Sprache singen lässt. Deshalb lautet auch der Titel der Staatsopern-Produktion „Das verratene Meer“ und nicht „Gogo no Eiko“: Unter diesem Titel und in japanischer Sprache wurde die Oper 2006 bei den Salzburger Festspielen gegeben. Die Revisionsgeschichte lässt vermuten, dass sich für Henze der Stoff zunehmend „japanisiert“ hat.

Im Publikumsmagazin der Wiener Staatsoper vom November 2020 wird Henze mit der Aussage zitiert, dass er in dem Stoff eine von „klassischen, archaischen Ausmaßen“ bestimmte Liebestragödie gesehen habe, die Figuren der Witwe und des Seemanns hätten ihn an Odysseus und Penelope erinnert. Sein Ziel sei es gewesen, die beiden in einer unheroischen, negativen, modernen Fassung zu präsentieren. Er erwähnt aber auch, dass eine Madame Mishima den Wunsch geäußert habe, den japanischen Titel in der Opernfassung besser zu respektierten. Das unaufgelöste Spannungsverhältnis zwischen der Romanvorlage und seiner Oper könnte Henze letztlich auch zur Neubearbeitung gedrängt haben.

Die Handlung speist sich aber nicht nur stark aus einem soziokulturellen Milieu japanischer Zeitgeschichte, sondern unter der Oberfläche von Mishimas Prosa lauern sexuelle Abgründe und von einem kühlen Nihilismus gespeiste Grausamkeiten. Was den Leser in assoziativer Prosa zu beängstigenden Phantasien drängt, lässt sich auf der Bühne nur sehr schwer in Bilder fassen. Das Buch beginnt zum Beispiel damit, dass der Sohn die Mutter bei autosexuellen Handlungen „bespannt“. Das Libretto hat die voyeuristischen Ambitionen von Noboru übernommen. Man mag an ihnen die Nöte eines pubertierenden Knaben ablesen, aber mit der Umsetzung auf der Bühne ist es schon ein bisschen schwierig. Mishimas Abgründe verwandeln sich derart schnell in recht harmlos wirkende beunterhoste Sänger, Streifenpyjamaträger und einen zahmen, sich auf dem Bett räkelnden Geschlechtsakt – so wie an diesem Abend in der Wiener Staatsoper.

Das Regieteam um Jossi Wieler und Sergio Marabito hat sich bei ihrem „Bühnenrealismus“ auf zu solides Handwerk verlassen, auch wenn es ist sicher nicht einfach war, aus Staatsopernsängern eine Jungenbande zu formen, die von unterschwelliger Aggressivität gepeinigt bei den Docks herumlümmelt und mit männlichem Imponiergehaben ihr Selbstbewusstsein aufpäppelt. Dazu gesellt sich noch das „geschraubte“ philosophische Pathos des Anführers der Bande, von dem man nicht so recht weiß, ob es Henze ironisch meint oder ob dieses Pathos noch der japanischen Grundierung anhängt. Das Einheitsbühnenbild, mal Schiff, mal Lagerhalle, erzeugte keine „Gruseleffekte“. Und das Meer – also das, was dem Titel nach „verraten“ wird – suchte man vergebens (Ausstattung: Anna Viebrock).

Musikalisch ist die Bewertung von Streams – so sehr man sie in diesen Zeiten zu schätzen lernt – schwierig. Bo Skovhus gab einen etwas trocken klingenden Seemann, der seinen nackten Oberkörper zeigen durfte. Der Seemann wurde von einer juvenilen und sopranleichten Vera-Lotte Boecker umgarnt, der Henze in der Hochzeitsvorfreude sogar Koloraturen erlaubt. Ihr Sohn Josh Lovell musste sich in Short und Pyjama exponieren und mit nüchternem lyrischem Tenor um ein paar Jahre jünger machen. Erik Van Heyningen war ein präsenter Bandenführer, stimmlich mit einem schon zu männlichen Bariton ausgestattet. Kangmin Justin Kim steuerte seinen Countertenor bei, Stefan Astankjhov und Martin Häßler ergänzten die Bande. Am Pult manövrierte Simone Young das orchestrale Riesenschiff sicher über die hohe See Henze’scher Klangräume.

Fazit: Szenisch zu harmlos und indifferent; die Oper benötigt womöglich wirklich einen engen japanischen Kontext mit japanischem Libretto und Ausführenden.