EIN LANDARZT
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Musikverein, Brahmssaal
17. Oktober 2016
Konzertante Aufführung

Musikalische Leitung: Peter Keuschnig

Orchester: Ensemble Kontrapunkte

Landarzt - Adrian Eröd


Kafkaeske Wundbeschau

(Dominik Troger)

„Ein Landarzt“: Hans Werner Henze vertonte Kafkas Erzählung im Jahr 1951 als „Funkoper“ für das Radio. Ensemble Kontrapunkte und der Gesangssolist Adrian Eröd führten im 1. Zykluskonzert der jungen Saison im Brahmsaal die Monodram-Fassung des Werkes auf.

Franz Kafkas Erzählung ist ein seltsames Stück Traumliteratur: Ein Arzt wird im Winter zu einem Schwerkranken gerufen. Wie von Zauberhand wird ihm von einem triebhaften Pferdeknecht ein Gespann präsentiert, das ihn eilig durch ein Schneegestöber trägt. Der Schwerkranke ist ein Junge. Die Krankheit, eine bereits von Würmern besiedelte Wunde an der Hüfte, entdeckt der Arzt erst beim zweiten Hinschauen. Der Arzt wird von der Familie entkleidet und zum Kranken ins Bett gelegt, damit er ihn heile. Der Arzt sinnt auf Rettung und flieht nackt mit dieser seltsamen Kutsche. Aber das Ende lässt offen, ob er jemals nach Hause kommen wird. Das Resümee des Arztes lautet: „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals wieder gutzumachen.“

Kafkas Erzählung vereinigt die psychoanalytisch prädisponierte und sich in surreale Bilder kleidende Traumwelt der Romantik mit den starken Bildern des Expressionismus – und sie besitzt einen grausamen, voyeuristischen Reiz, für den Jugendliche im Allgemeinen oft anfällig sind. Trotzdem mag es überraschen, dass dieses „Resümee“ eines alten Landarztes, der sein Scheitern eingesteht, einen 25 Jahre alten Komponisten anspricht.

Henze hat sich – so vermittelt ein Beitrag im Programmheft – mit der Figur des Landarztes identifiziert, mit seinem Leiden und Scheitern. Damals, in den Zeiten des raschen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, wurden viele Wunden schnell abgedeckt, nässten unter Federbetten weiter jahrzehntelang. Henze fühlte sich aber auch direkt vom „Landarzt“ angesprochen, fand darin möglicherweise Parallelen zu seiner eigenen „Leidens-Biographie“ (etwa bezogen auf seine Homosexualität und schwierige Vaterbeziehung), verklausuliert in der düsteren Traummetaphorik Kafka’scher Herkunft.

Die zentrale Stelle des knapp halbstündigen Monodrams bildet die Beschreibung der Wunde durch den Landarzt. Henze hat diesen Abschnitt mit Orgelklängen (laut Homepage der Hans-Werner-Henze-Stiftung ist die Besetzung mit Orgel für die Monodramfassung ad lib.) unterlegt. Auf diese Wundbeschau bewegt sich die Handlung zu, von dieser Wundbeschau entfernt sie sich wieder. Die Wunde ist nicht nur rein körperlich zu verstehen, sondern hat womöglich sakrale Bedeutung. Sie könnte Amfortasqualen mit einschließen oder gar das Leiden Jesu Christi. Henze scheint mit solchen Querverweisen zu spielen, schmeicheln sie doch dem Landarzt (und der Leiderfahrung des Komponisten), der dann zu einem ganz besonderen Fall gerufen sein würde, der Knabe in seiner Bedeutungsschwere weit über den dörflichen Rahmen hinausgehoben.

Aber der Landarzt ist gegenüber dieser Wunde hilflos und wird keine Heilung bringen. Er sieht sich in Henzes Vokalwerk ohnehin die meiste Zeit mit einem hintergründig lauernden, oft aufbegehrenden Orchester konfrontiert, dessen kleinteilig ausgeführten Attacken er nur sein stark deklamatorisch eingesetztes Wort entgegenzustellen vermag (und Henze hat bei der Komposition auf eine hohe Textverständlichkeit geachtet). Muss sich das Ich des Landarztes nicht mittels seiner Sprache gegen sein eigenes, stark solistisch orchestriertes Unterbewusstsein behaupten? Sobald dieses Ich verstummt, verliert es den Fokus der Selbstbestimmtheit, wird es davongeritten wie sein Körper mit dieser ominösen Kutsche, wird es von traumatischen Erinnerungen überwuchert, von Bläserklängen und flirrenden Streichern. Und so verstummt der Landarzt, nach dem er sein bereits zitiertes Resümee gezogen hat, und entschwindet auf ein düsteres Pianissimo gebettet im Nirgendwo einer kalten, schneeflockendurchwirbelten Winternacht.

Henze hat den „Landarzt“, den er, wie er selbst sagte, unter dem Einfluss der Musik Schönbergs komponiert hat, später zu einer einaktigen Oper, aber auch zu einem Monodram umgearbeitet. Die Monodram-Fassung wurde von Henze 1964 erstellt und 1965 mit Dietrich Fischer-Dieskau als Landarzt uraufgeführt. In der konzertanten Aufführung im Brahmssaal des Wiener Musikvereins hat sich Adrian Eröd dieser Partie angenommen.

Eröd ist für solche literaturaffinen Stoffe ohnehin prädestiniert, textdeutlich und interpretationsfreudig hat er sich auf den „Landarzt“ eingelassen. Dabei hielt er seinen schlanken Bariton auf intellektueller Distanz, hat sich nicht von dem Grauen, das hier allerorten hervorlugt, vereinnahmen lassen – und deshalb wurde auch das Ringen um lakonische Gefasstheit deutlich, mit der sich der Landarzt dem Strudel der surrealen Traumwelt entziehen möchte. Den Passagen direkter Rede – wie des dumpf brutalen Pferdeknechts, des Dienstmädchens oder des luzide schwächelnden Kindes – passte der Sänger die Stimme entsprechend an. Das Ensemble Kontrapunkte unter Peter Keuschnig begleitete differenziert und sorgte zugleich für die erwünschte Expressivität.

Dass vor dem „Landarzt“ die pfiffige Suite für Jazzorchester Nr. 1 von Dimitri Schostakowitsch gespielt wurde, hat das Gespür für die grotesken Seiten an Kafkas Text vielleicht ein wenig zu stark befeuert. Aber steckt in diesem ärztlichen Albtraum nicht auch eine große Portion an verzweifelter Selbstironie?

Nach der Pause widmete sich das Konzert noch Werken von Frank Martin, Franz Schreker und der unkonventionellen „Soirée tyrolienne“ von Werner Pircher.