DEAD MAN WALKING
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Theater an der Wien
26.9.2007
Österreichische Erstaufführung

Dirigent: Sian Edwards

Libretto: Terence McNally
Inszenierung: Nikolaus Lehnhoff
Bühne: Raimund Bauer
Kostüme: Stephan von Wedel

RSO Wien
Arnold Schönberg Chor
Kinderchor des Musikgymnasiums Wien

Koproduktion mit der Sächsischen Staatsoper Dresden

Sister Helen Prejean - Kristine Jepson
Joseph De Rocher - John Packard
Mrs. Patrick De Rocher - Frederica von Stade
Sister Rose - Roberta Alexander
Father Grenville - Roman Sadnik
George Benton - Peter Lobert
Kitty Hart - Donna Ellen
Owen Hart - Steffen Rössler

Howard Boucher - Erik Arman
Jade Boucher - Rita-Lucia Schneider
Motor Cop / Prison Guard - Johannes von Duisburg
Prison Guard - Steven Scheschareg
Older Brother - Martin Mairinger
Younger Brother - Oscar Schöller
Sister Catherine - Ulla Pilz
Sister Lillianne - Akiko Mozumi
First Mother - Michiko Ogata
Mrs. Charlton - Silvia Lambert
A Paralegal - Andrew Johnson


Beklemmender Strafvollzug
(Dominik Troger)

Das Theater an der Wien präsentierte mit „Dead Man Walking“ eines der erfolgreichsten zeitgenössischen Musiktheaterwerke der letzten Jahre. Im Jahr 2000 in San Francisco uraufgeführt, erlebte es 2006 in Dresden seine Europapremiere. Diese Produktion ist jetzt auch in Wien zu sehen.

Die Handlung basiert auf dem 1993 erschienenen Buch einer katholischen, in den USA lebenden Nonne (Sister Helen Prejan). Sie hat dort Häftlingen, die zum Tode verurteilt waren, geistigen Beistand geleistet und bis zur Hinrichtung begleitet. Das Buch erregte in den Vereinigten Staaten großes Aufsehen. Auf das Buch folgte ein Film, auf den Film die Oper. Auch wenn sich die Brisanz der Thematik beim Atlantikflug ins „aufgeklärte Europa“ ein wenig abgeschwächt hat, die religiösen und moralischen Implikationen sind nicht ohne Sprengkraft. Geschickt wird man als Zuseher selbst in das emotionale Geschehen miteinbezogen und zur Stellungnahme gezwungen: Hält man es mit der jesusschwärmenden Nonne, die auch im dunkelsten Mörderherzen nach dem göttlichen Funken Ausschau hält; leidet man mit den Eltern der ermordeten Jugendlichen, deren Rachegelüste nur zu verständlich sind; empfindet man Mitleid mit der Mutter des Täters und ihrem fragwürdigen sozialen Umfeld; und wie steht man letztlich zu Joseph De Rocher, dem Monster, dem Killer, dem Menschen...?

Zumindest bei dieser Produktion (Inszenierung: Nikolaus Lehnhoff) halten sich die einzelnen Teilmengen die Waage und lösen die Spannung bis zum Schluss nicht auf. Denn die abschließende Gottesschau der Nonne wird man schwer nachvollziehen können, in der sich – für sie – die Sache zu runden scheint, weil der Mörder in letzter Sekunde (von ihrem Mitgefühl „erpresst“) geständig war und um Verzeihung gebeten hat. Die Eltern der Opfer empfinden mehr Leere als Befriedigung über das vollstreckte Urteil. Ihr Leben ist längst zerstört. Die Hinrichtung am Schluss, ohne Musik, wirkt im Theater wie ein Ritual. Es wird auf Opernbühnen so viel gestorben, das verwischt den erhofften (?) Mitleidseffekt. So bleibt man in gespannter Seelenlage mit sich allein zurück – und „unerlöst“.

Wie an diesen Ausführungen vielleicht schon abzulesen war: die Figurenkonstellation ist perfekt gebaut und verdrahtet, ein paar Nebenfiguren setzen zusätzliche Impulse, das erzeugt ein hohes dramatisches Potential. Doch der Ausführung in Wort und Musik fehlt es ein wenig an Prägnanz. Der intellektuelle Anspruch von Sister Helen Prejan ist für europäische Verhältnisse doch zu gering, zu stark überwiegt die musikalisch gestützte, liebenswürdige Gospelfrömmigkeit. Ihr hilft ein Rosenkranz, wenn sie gar nicht mehr weiter weiß. So hängt über mancher Szene jener Hauch von Kitsch, der dem Musical gut tut – und europäisch sozialisierten, opernerprobten Ohren ein wenig verdächtig vorkommt. Jene dulden nur mehr bei Puccini, was hier an spätromantischer Seelenerweichung aus dem Orchestergraben flutet. Doch den Stab über Jake Heggie zu brechen wäre mehr als ungerecht: in den kurzen, von brutaler raubtierhafter Gewalt durchfluteten, nach Freiheit drängenden Häftlingschören, erweist er sich als später „Schüler“ Brittens, voll geladen mit Energie und klangvisionärer Begabung (für die Sister Helens heilsames Wirken eine viel zu „brave“ Richtschnur vorgibt). Zudem ist Heggies Musik ein starkes Zitat der „amerikanischen Oper“ der letzten 30 Jahre – dem Stoff und dem dortigen Opernpublikum gut angemessen.

So hält in Summe die Sprengkraft der Thematik das Werk am Leben, und seine Wirkung auf der Bühne hängt überaus stark von der Kunst des Regisseurs und der Ausführenden ab: das Publikum muss in die emotionale Zange genommen werden. Bei dieser Produktion ist dies gut gelungen – und die drei Stunden Aufführungsdauer (inklusive einer Pause) animierten über weite Strecken nicht dazu, auf die Uhr zu schauen. Im Mittelpunkt steht natürlich das ungleiche Paar: Nonne und Mörder, in dieser Aufführung von Kristine Jepson und John Packard eindringlich verkörpert. Jepson hatte genug Einfalt parat, um bei dieser Hochschaubahn der Gefühle nicht aus der bergenden Kurve der göttlichen Vorsehung zu fliegen – und John Packard, mit abfedernden Liegestützen beim Zellentraining und angerauhtem Bariton, fand sich in der Figur eines etwas verschlagen wirkenden, durch das Gefängnis triebgebändigten Mannes, bestens zurecht. Von ergreifender Wirkung war das Klagen der Mutter (Frederica von Stade) vor dem Begnadigungsausschuss – (dank Fredrica von Stades starker Bühnenausstrahlung eine der beklemmendsten Szenen des Abends). Die übrigen Mitwirkenden waren vom Typus gut besetzt, der vierschrötige Gefängnisdirektor (Peter Lobert) oder der zum Zynismus neigende Gefängnisgeistliche (Roman Sadnik) sowie Roberta Alexander als Mitschwester von Sister Hellen. Das gesangliche Niveau war angemessen, aber nicht herausragend. Sehr engagiert musizierte das RSO Wien unter Sian Edwards.

Der Verdienst von Nikolaus Lehnhoff war es, die einzelnen Figuren in ihren konträren Meinungen so weit ernst genommen zu haben, dass ihre Glaubwürdigkeit keinen Schaden gelitten hat. Weder wurde Sister Helen in ihrer religiösen Überzeugung bloßgestellt noch der Todeskandidat zur Bestie erklärt. Das Bühnenbild war von einem funktionalen Realismus geprägt, einfach gehalten, wendig im Szenenwechsel, im Gesamteindruck meist karg und von asketischer Genügsamkeit. Aber braucht es viel mehr, um ein Gefängnis darzustellen, als ein Gitter? Filmeinspielungen zeigten im Prolog den Mord, begleiteten die Autofahrt von Sister Helen zum Gefängnis in der zweiten Szene.

Der Schlussbeifall war stark, doch verhältnismäßig kurz. Die solide Aufführung und das kräftige Lebenszeichen zeitgenössischen Musiktheaters hätten sich längeren Premierenapplaus verdient.