DIE WÄLT DER ZWISCHENFÄLLE

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Museumsquartier Halle E
30.3.2005

Österreichische Erstaufführung

Musikalische Leitung: Frank Maximilian Hube

Inszenierung: Michael Scheidl
Bühne u. Kostüme: Nora Scheidl
Ensemble die reihe

Eine Koproduktion von NetZZeiT und Theater Lübeck (Uraufführung Lübeck 11.2.2004)

Der eine Tenor/Erzähler - Clemens C. Löschmann
Der andere Tenor - Mark Hamman
Der eine Bariton - Tom Sol
Der andere Bariton - Marco Stella
Der eine Bass - Christian Tschelebiew

Der andere Bass - Andreas Kruppa
Der Sopran - Chantal Mathias
Der Mezzosopran - Veronika Waldner


Was is(s)t Ich?
(Dominik Troger)

Das Musiktheaterwerk „Die Wält der Zwischenfälle“ des isländischen Komponisten Haflidi Hallgrimsson erlebte in der Halle E des Museumsquartiers seine österreichische Erstaufführung. Hallgrimsson hat Texte des russischen Schriftstellers Daniil Charms vertont – unter dem Druck des Stalinismus ins Absurde deformierte aphorismenhafte Kurztexte.

[1] Charms Texte wachsen wie pittoreske Pflänzchen aus den Kolchosenbeeten gleichgeschalteter sowjetischer Kulturproduktion, sie suchen nach ihrer eigenen Wahrheit, sie nehmen sich das Recht heraus, nach dem „Ich“ zu fragen in einer fremdbestimmten Welt. Allerdings, das Substrat, dem sie entwachsen sind, ist ein sehr spezifisches, ist das Russland der zwanziger und dreißiger Jahres des vorigen Jahrhunderts. Trotzdem, es bleibt einiges davon übrig, wenn man ihnen in einer „Oper“ des 21. Jahrhunderts begegnet, unter Verhältnissen, die den „Produktionsbedingungen“ eines Charms ausgefressen ins Gesicht lachen. Charms ist Anfang 1942 an Unterernährung in einer Leningrader Gefängnispsychiatrie gestorben.

[2] Haflidi Hallgrimsson hat sich mit dieser Textauswahl keine leichte Aufgabe gestellt. 15 Kürzesttexte von Charms hat er zum Inhalt seiner „Wält der Zwischenfälle“ gemacht: von absurder Sowjetalltagskomik bis zur Frage nach der „Beschaffenheit des Ichs“ und der „Beschaffenheit der Welt“. Hallgrimsson hat die Texte durch einen Erzähler miteinander verbunden, der durch die Episoden führt. Trotzdem hatte ich in der ersten dreiviertel Stunde nicht das Gefühl, das die Rechnung aufgeht. Die Vertonung schien mir der Prägnanz dieser Wortkarikaturen eher hinderlich. Was sich einem beim Lesen in Sekundenschnelle eröffnet, wächst sich plötzlich zu Minuten aus – wie ein Witz, den man künstlich verlängert. Dabei hat Hallgrimsson mit Bedacht instrumentiert, das Orchester vor allem begleitend eingesetzt, eine rezitativische Komponente gepflegt. Die Worte sind ihm wichtig. Aber auch die kurzen Zwischenspiele, die die Szenen verknüpfen, finden erst in der Mitte des rund eineinhalb Stunden langen Werkes zu Prägnanz und Eindringlichkeit. Es bedurfte so einer Art von „Schostakowitsch-Stakkato“ um mich aufzurütteln – bald gefolgt von einem rap-artigen Dialog. Da begann sich die Spannung langsam aufzuschaukeln, von Hallgrimsson durch akzentuierte Rhythmik (Perkussion!) geschickt geschürt. Letztlich kippte das Werk ins „Philosophische", erlöste sich das absurde Lebenstrauma Charms in der lapidaren Feststellung: „Doch ich bin die Welt“. Da war dann Intensität zu spüren, ein Sinnsuchen, dass auch an das Publikum mehr Anforderungen stellte, als die emotionale Zurkenntnissnahme irgendeiner opernhaften Effekthascherei. „Doch die Welt ist nicht ich. Obwohl gleichzeitig ich Welt bin.“

[3] Man kann das für ein „billigere Art“ von Philosophie halten, vielleicht für eine, die man eher im Plastiksackerl vom Supermarkt mit sich heimträgt. Jedenfalls hat gerade sie Hallgrimsson herausgehoben und der ganze Abend fängt sich in dieser vorletzten Szene wie eine Kugel in einem Trichter (ehe der Erzähler inszenatorisch in eine Abfalltonne gepackt wird). Die Einfachheit der Fragestellung fängt einen auch als Zuhörer. Der Text wurde zum Mitlesen dankenswerter Weise über der Bühne projiziert, das hat hier Sinn gemacht wie selten. Den Text gab es auch im etwas eigenwillig geklammerten Programmheft nachzulesen – perfekt!

[4] Hallgrimsson sind Text und Charms Philosophie des Absurden wichtiger als Komponisteneitelkeit. Der stark rezitative Unterbau des ganzen Stücks kommt wohl aus diesem Bemühen, die Textvorlage möglichst in den Vordergrund zu stellen. Nur in den Zwischenspielen gönnt er sich und dem kleinen Orchester Extravaganzen. Da wirbelt die kleine Trommel nervös, am Klavier sitzt ein Jazzfan, einschmeichelnde Melodien von der Klarinette – es gibt durchaus bezaubernde solistische Verführungen. Sein musikalischer Stil ist flüssig, besitzt stellenweise eine süffige Orientierung an Jazzmotiven und der „klassischen“ Moderne des 20.Jahrhunderts. Er war Schüler von Sir Peter Maxwell Davies, er pflegt einen „britischen" Stil. Ein satirischer Unterton ist ihm nicht fremd, aber in diesem Fall haben die Bühnenfiguren die Sympathie des Komponisten auf ihrer Seite. Gegen Schluss werden die Streicher dichter, das kleine Ensemble sucht die richtige Stimmung für die philosophische Schwärmerei. Da fällt es Hallgrimsson und Charms plötzlich ganz leicht, auch mich zu überzeugen.

[5] Worum geht es in diesen kurzen Szenen? Ein Liebespaar wird von der Polizei überrascht und abgeführt. Ein Mann stellt fest, wieviel sein „Glauben" wiegt (annähernd acht Pfund). Jemand sieht mit Augengläsern etwas anderes als ohne. Ein Mann wehrt sich dagegen, unter engen Wohnverhältnissen seinen Schlafplatz am Gang aufzugeben – wo alle über ihn stolpern. Menschen fragen sich, ob auf die Zahl Sieben, die Acht folgt – oder umgekehrt? Letztlich mündet dieser snapshot-artige Bilderreigen in der schon behandelten philosophische Fragestellung, der sich die Figur des Erzählers unvermittelt gegenübersieht. Aber wie bringt man das auf die Bühne? Da gibt es die Möglichkeit, die absurde Bilderwelt zu illustrieren, und gleichsam nachzubauen – mit viel Bewegung und pantomimischem Slapstick, vielleicht im Stil eine Zeichentrickfilms? – da könnte man sich an die Verwurzelung im kommunistisch-stalinistischen Alltagssubstrat halten, um zugleich die Gemeinsamkeit der Textvorlage zu betonen. Das Inszenierungsteam (Michael Scheidl/Nora Scheidl) verwirklichte die zweite Möglichkeit. Der Abend beginnt in einer U-Bahn Station mit allerhand Passanten – bald geht er auf einer Straße weiter, im Hintergrund ansteigend, zwei Laternen, wo der Rest spielt. Versatzstücke sowjetischen Alltags wie Plakate oder ein in kyrillisch beschrifteter Container verorten die Aufführung in der Zeit.

[6] Ob man dieser „Wält" wirklich mit solch „historischem Realismus" begegnen sollte, möchte ich mal in Frage stellen. Ich fand das ein bisschen zuviel an „Bühnennormalität“ für Charms bunte „Kopfstücke". Aber wahrscheinlich ist es der „sicherere" Weg gewesen, das „Substrat" abzubilden, als sich auf absurdes Theater einzulassen. Die Leistung des Ensembles war gediegen, im Spiel wie im Gesang. Der Erzähler (Clemens C. Löschmann) reüssierte mit prägnanter Diktion, so wie es sich für einen Erzähler gehört. Das Ensemble die Reihe unter der Leitung von Frank Maximilian Hube sorgte für eine eindringliche Umsetzung mit hohen solistischen Qualitäten. Der Applaus war freundlich bewegt, aber nicht sehr stürmisch, kaum Bravorufe. Aber ein halbleeres Auditorum macht nicht soviel Lärm wie ein volles.

PS: Das „Ä“ in „WÄlt“ wurde aus einem russischen Wortspiel Charms entwickelt – und vermittelt im Deutschen wohl nur mehr, dass an der Sache etwas schrÄg ist.