ENOCH ARDEN

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Kammeroper
17. Mai 2022
Premiere

Musikalische Leitung:Walter Kobéra
Regie, Video Bühne: David Haneke
Kostüm: Axel E. Schneider
Licht: Franz Tscheck

Wiener KammerOrchester

Enoch Arden - Markus Butter
Annemarie - Valentina Petraeva
Klas - Andrew Morstein
Der junge Enoch Arden - Samuel Wegleitner


Seemannsgarn

(Dominik Troger)

Die Oper „Enoch Arden“ oder „Der Möwenschrei“ von Ottmar Gerster wurde 1936 uraufgeführt und basiert auf der gleichnamigen Ballade des englischen Dichters Alfred Tennyson: ein rührendes Stück „Seemansgarn“ voller Freundschaft, Liebe und Schiffbruch. An der Kammeroper wird das Werk in einer szenischen Bearbeitung von Roland Geyer gespielt, dem scheidenden Intendanten des Theaters an der Wien.

Seemann Enoch Arden und Müller Klas sind Freunde und lieben Annemarie. Enoch Arden heiratet sie. Auf großer Fahrt erleidet er Schiffbruch und sitzt über zehn Jahre auf einer Südseeinsel fest. Als er zurückkommt ist Annemarie mit Klas verheiratet. Annemarie erkennt ihn nicht mehr und er begeht Selbstmord. Ottmar Gerster und sein Librettist Karl Michael von Levetzow haben die Handlung auf vier Akte verteilt: Enoch Ardens Abreise – Annemarie und Klas heiraten – Enoch Ardens Robinsonade – Enoch Ardens Rückkehr.

Roland Geyer hat bei seinem szenischen Neuarrangement den dritten Akt – also das Geschehen auf der Südseeinsel – als Grundlage genommen. Auf ihr erlebt Enoch Arden die Handlung der drei anderen Akte als Vision. Er wird nicht von der Insel gerettet, sondern verfällt sichtlich der zunehmenden Isolation als einsamer Überlebender eines Schiffsbruchs. Das Publikum erlebt in Geyers Version die Handlung nur aus der Perspektive des leidenden Seemanns, den schlussendlich Halluzinationen plagen. Damit das funktioniert, hat das Produktionsteam Gersters dritten Akt aufgeteilt und die Begebenheiten der anderen drei Akte eingeschoben, also die Partitur neu zusammenmontiert. Der Abend beginnt deshalb bereits mit dem einsamen Enoch Arden auf der Südseeinsel und endet auch dort.

Ob Ottmar Gerster mit diesem Perspektivenwechsel einverstanden gewesen wäre, lässt sich natürlich nicht feststellen. Gerster ist 1969 als hochdekorierter DDR-Musikschaffender verstorben. In der Kammeroper machte dieses „Enoch Arden“-Projekt jedoch einen überzeugenden Eindruck – insofern hat Geyers Idee, die er in Kooperation mit Walter Kobéra (musikalische Leitung) und David Haneke (Regie, Video, Bühne) umgesetzt hat, gezündet. Geyer hat sich mit seiner Bearbeitung aber auch geschickt der Rezeptionsgeschichte des Werks „entzogen“.

Nach der Uraufführung in Düsseldorf wurde die Oper rasch an vielen deutschen Bühnen nachgespielt. 1940 folgte Linz, 1942 Graz. Anlässlich der Linzer Aufführung vermerkte das Neue Wiener Tagblatt (2. November 1940), die Oper wäre im „Altreich“ bereits auf mehr als 70 Bühnen aufgeführt worden. Anlässlich der Uraufführung schrieben die Signale für die musikalische Welt (94. Jahrgang, Nr. 48) es handele sich um einen „bedeutsamen Markstein auf dem Wege nach einer lebenskräftigen neuen deutschen Volksoper“. Das „volksmäßige“ wird in damaligen Rezensionen gerne herausgestrichen, dürfte Gersters Werk später auch den nahtlos-erfolgreichen „Szenenwechsel“ in das DDR-Regime ermöglicht haben. Seit den 1960er-Jahren gab es aber nur mehr eine Handvoll an Produktionen, die letzte, wenn der Eintrag auf der Website des Schott Verlages stimmt, ging im Jahr 2000 in Gotha über die Bühne.

Über die stilistische Einordnung durch die Zeitgenossen gibt eine weitere Notiz aus dem Neuen Wiener Tagblatt Aufschluss (24. April 1942) in der über die italienische Erstaufführung in Rom berichtet wird. Dabei sei die Chance genützt worden, die Unterschiede zwischen „deutschem und italienischem Verismus ausführlich zu vergleichen“. Erwähnt wird die Leitmotivtechnik Gersters, die allerdings auch schwer zu überhören ist. Aus heutiger Sicht wird einem zu allererst „Der fliegende Holländer“ einfallen – nicht als platte Nachahmung, sondern als anregendes Vorbild (Annemarie fürchtet sich z. B. davor, dass die Seelen am Meer verschollener Seeleute wieder an Land kommen) – wobei ein „Möwenschrei“ bei Gerster immer wieder klagend-dämonisches Kolorit verbreitet. Verbindungen lassen sich auch zu Richard Strauss, Eugen d’Albert und Franz Schreker oder dem späten Paul Hindemith ziehen. Die Singstimmen sind nicht frei von jener expressionistischen „Überspannung“, die den Sängern einiges abverlangt.

Und wenn man noch ein wenig weitergräbt, dann stößt man vielleicht auf einen Prise von Lortzings Volkstümlichkeit (etwa in den Chören) oder auch bei so mancher Librettozeile. Allein, dass Enoch Arden sein Schiff „Annemarie“ getauft hat, lässt so manch biederen Vergleich zu: „Da ist die eine Annemarie und da ist die andere“. Dass eine Ziehharmonika mitwirkt, betont die volksnähe instrumental. Gersters Menschen sind sich zudem ihres Standes bewusst: Seemann, Müller, Hausfrau und Mutter, und Arden opfert sich am Schluss für eine funktionierende Gesellschaftsordnung auf. (Enoch Ardens letzte Worte lauten: „Das Leben geht weiter“. Individuelle Ansprüche müssen vor dem Ganzen zurückstehen.) Das Motiv des späten Heimkehrers (man denke an die Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs, die es nach Sibirien verschlagen hat) wird ebenfalls aufgegriffen. (Kultur-)ideologisch könnte man dergleichen in die Waagschale werfen.

Die Aufführung in der Kammeroper fasziniert vor allem wegen der geglückten, durch David Haneke geradezu beispielhaft gelösten Einbeziehung von Videos – sie verschmilzt sozusagen Oper und Film. Dominiert wurde die Bühne mittig von einem Sandhaufen mit daraus emporragendem Bootsteil. Der Hintergrund wurde als Projektionsfläche genützt. Rechts und links am Bühnenrand gab es noch Restbestände bürgerlichen Interieurs, ein Tischchen, ein Sessel, und von Annemaries Hausfrauentum: ein Bügelbrett. Schon zur Ouvertüre wurde das Publikum optisch auf das Meer mitgenommen, und auch später zauberten Filmaufnahmen Wogen und Sonnenuntergang ebenso auf die Bühne wie große Segelschiffe, die im Hafen schaukeln. Humorvoll gestaltete sich eine Videokonferenzschaltung mit dem Bürgermeister, der aufgrund einer Flaschenpost (!) Enoch Arden für tot erklärt und dadurch Annemarie und Klas die Heirat ermöglicht. Als Hochzeitsgratulanten stellte sich „online“ der Arnold Schönberg Chor ein.

Gespielt wurde ein Kammermusikfassung von Matthias Wegele, es wurden außerdem Passagen mit großem Orchester und Chor zugespielt. Zumindest für Sitzreihen im rückwärtigen Teil des Saales (bevor er sich verengt) war die Akustik gut und es ergab sich ein homogenes, multimediales Zusammenwirken. Walter Kobéra war mit dem Wiener KammerOrchester Garant für die musikalische Qualität und die notwendige Grundspannung, die in Anbetracht der etwas seichten Handlung für die nötige Überzeugungskraft sorgte. Auf der Bühne hatte er mit Markus Butter als Enoch Arden einen packenden Mitstreiter. Dessen Bassbariton erklang wie gegerbt von Wind und Wetter und Meersalz, ganz Seebär und Kapitän, gut gerüstet für die expressive gesangliche Ausmalung seines unfreiwilligen Inseldaseins und ein immer wieder von charakteristischen Möwenschreien untermaltes, existentialistisches Klagen. (Es überrascht nicht, dass man dabei ein wenig an den „Holländer“-Monolog dachte.)

Es tat der Produktion gut, dass für diese Partie das Junge Ensemble im Theater an der Wien (JET) um einen erfahrenen Profi ergänzt worden war. Stefan Herheim, ab kommender Saison Intendant, wird diesen „Studio-Betrieb“ ohnehin nicht mehr verlängern. Im Laufe der Jahre hat seine Strahlkraft aus meiner Sicht kontinuierlich abgenommen, zum Teil auch wegen der Spielplangestaltung, die zu wenig auf die Ressourcen der jungen Stimmen Rücksicht genommen hat – und ein Beispiel dafür bietet auch diese Produktion. Valentina Petraeva (Annemarie) als auch Andrew Morstein (Klas), die in der Darstellung beide den Figurencharakter gut getroffen haben, mussten ihre lyrischen Stimmen für die Anforderungen Gersters zu stark forcieren. Samuel Wegleiter steuerte den jungen Enoch Arden bei.

Laut Programmheft wurde nur wenig gekürzt. Die Wikipedia gibt die Spielzeit mit rund zweieinhalb Stunden an, eine auf Youtube auffindbare DDR-Studio-Produktion unter Kurt Masur bringt es auf eindreiviertel Stunden. Die Aufführung in der Kammeroper dauerte pausenlose eineinhalb Stunden. Der kleine Saal war am Premierenabend nicht ganz gefüllt. Roland Geyer nützte die Gelegenheit, um vor Beginn einige Dankesworte an Mitarbeiter und Publikum zu richten. Handelte es sich schließlich um die letzte Premiere seiner seit dem Jahr 2006 währenden Intendanz. Am Schluss der Vorstellung spendete das Publikum etwa fünf Minuten langen, starken Applaus.