SOLARIS
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Neue Oper Wien
Semperdepot
24. Mai bis 24. Juli 2021
Stream der Österreichische Erstaufführung
vom 6. April 2021

Musikalische Leitung: Walter Kobéra

Inszenierung: Helen Malkowsky
Bühne: Kathrin Kemp
Kostüm:
Anna-Sophie Lienbacher
Klangregie, Live-Elektronik: Christina Bauer
Lichtdesign: Norbert Chmel

amadeus ensemble wien

Hari - Simona Eisinger
Kelvin - Timothy Connor
Snaut - Martin Lechleitner
Gibarian - Ricardo Martinez Bojorquez
Offstage Kelvin - Christian Kotsis


Gewissensbisse auf der Raumstation
(Dominik Troger)

Der Science-Fiction-Roman „Solaris“ von Stanislaw Lem zählt zu den berühmtesten seines Genres – und er übt auf Opernkomponisten eine starke Anziehungskraft aus. Seit Mitte der 1990er-Jahre sind drei Opernfassungen des Romans entstanden. Die jüngste von ihnen – „Solaris“ von Dai Fujikura – wurde jetzt von der Neuen Oper Wien aufgeführt.

Die Österreichischen Erstaufführung der Oper ging am 6. April 2021 im Semperdepot über die Bühne – wegen der COVID-Restriktionen waren nur geladene Pressevertreter anwesend. Die Aufführung wurde aufgezeichnet und wird seit dem 24. Mai für zwei Monate über die Homepage der Neuen Oper Wien gestreamt. „Solaris“ von Dai Fujikura wurde 2015 in Paris uraufgeführt. Er ist damit in die Fußstapfen von Michael Obst („Solaris“, Uraufführung 1996) und Detlev Glanert getreten, dessen „Solaris“-Oper 2012 bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführt wurde.

Aber wieviel Science Fiction steckt in „Solaris“ wirklich? Der Verdacht liegt nahe, dass die Komponisten mehr von der psychologisch-menschlichen Komponente der Handlung inspiriert worden sind. Geht es bei „Solaris“ doch auch um die Frage, wie Menschen ihre – schuldhafte oder als schuldhaft empfundene – Vergangenheit bewältigen können. Die Handlung spielt zwar auf einer Raumstation, deren Besatzung den Planeten Solaris erforschen soll, aber diese Besatzung wird mit buchstäblich zum Leben erweckten Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit konfrontiert. Der Forscher Kris Kelvin, eben auf „Solaris Station“ angekommen, begegnet seiner Frau Harey (bei Fujikura: Hari), die vor vielen Jahren Selbstmord begangen hat. Es handelt sich um eine „Emanation“ des den Planeten umgebenden gallertartigen Ozeans, bei dem es sich möglicherweise um eine extraterrestrische Lebensform handelt. Der Solarisozean hat Harey aus den Gedächtnisspuren von Kelvin „kopiert“. Daraus ergeben sich psychologische und philosophische Fragestellungen, die Lem wichtiger waren als Raumschlachten.

Fujikura (Libretto: Saburo Teshigawara) widmet sich in der rund 90 Minuten langen, vieraktigen Oper stark dem Verhältnis von Kelvin zu seiner kopierten Frau Hari. Die Raumstation und der Planet dienen als „metaphorischer Hintergrund“. Es geht dabei nicht nur um die Gewissenserforschung von Kelvin, der sich schließlich in diese Kopie verliebt – sondern auch um die Kopie selbst, die sich seiner Liebe verweigert, weil ihr bewusst wird, dass sie nur eine Kopie ist. Opern handeln oft genug von Liebesbeziehungen – und „Solaris“ fügt diesen vielen vertonten Liebesgeschichten noch eine ganz seltsame hinzu, die in einer fernen humanoiden Zukunft spielt. Mittels einer „Neutrino-Gewebeneutralisation“ wird Haris Kopie zum Verschwinden gebracht. Kelvin, abermals allein, stattet dem Ozean einen Besuch ab, er berührt ihn, er spielt mit dem Gedanken, dass es vielleicht eine neue Kopie von Hari geben könnte. Zuletzt beschließt er, auf dem Planeten zu bleiben. Die Oper schließt mit den Worten: „Is my journey ending, or I am staying at the centre of eternity?“

Für die musikalische Umsetzung hat Fujikura eine Zeitlang am Pariser IRCAM Institut für Akustik und Musikforschung zugebracht. Dort hat man sich der elektronischen Verfremdung und Improvisation von Live-Musik sowie Raumklanginstallationen verschrieben. Improvisation spielt für Fujikura eine große Rolle, der Toningenieur wird in jeder Vorstellung erneut zum „Komponisten“. Für den Raumklang kann der Stream natürlich kaum beredtes Zeugnis ablegen, aber die akustischen Verfremdungen waren nachvollziehbar. Fujikura hat die Figur des Kelvin sogar geteilt: ein zweiter Kelvin, der „Off-Stage Kelvin“, steuerte seine Stimme bei – ins Mikrophon gesungene Wortmeldungen des Unterbewusstseins? Bei Hari verfremdet die Elektronik ihre Sopranunschuld – handelt es sich bei ihr doch um keinen echten Menschen, sondern „nur“ um eine Kopie.

Die Kammeroper beginnt mit elektronischer Beschallung, gleich dem Start eines Flugzeugs, die am „Peak“ der Lautstärke von einem nervösen Streichertremolo abgelöst wird. Kevin meldet sich erstmals zu Wort: „Solaris Station, Solaris Station ... Arriving!“. Das Orchester spinnt die Erregung des Ankunftsmoments fort – und Kevin trifft auf Doktor Snaut. Der drängenden Unruhe des kleinen Orchesters stellt sich jetzt eine recht uniforme Gesangslinie gegenüber, die in der emotionalen Ausdeutung vage bleibt. Die Gesangstimmen sind insgesamt mehr rezitativisch orientiert. Es handelt sich um Dialoge, die zu keinem Duett finden, und die ein wenig orientierungslos dahintreiben wie Körper im leeren Raum. Und die Orchesterbegleitung treibt vorüber wie der Planet Solaris vor den Fenstern der Raumstation mit einer fremdartigen, leicht impressionistisch getönten, flirrenden, von rasch wechselnden dynamischen Schattierungen geprägten „Textur“.

Apropos Raumstation: Selbige in der Säulenhalle des Semperdepots zu installieren, wäre ein reizvoller „Kontrast“ gewesen. Die Inszenierung von Helen Malkowsky hat sich aber diese naheliegende Verortung versagt. Die Spielfläche zeigt eine Projektionswand für Video- und Beleuchtungseffekte, es gibt eine runde, abgeschrägte, verspiegelte Plattform, die den Mitwirkenden auch als Podest dient – und das wars im Wesentlichen. Malkowsky hat sich stark auf die Personen konzentriert, die viel miteinander reden und dabei wenig weiterbringen. Sie hat die Figuren mit einer leicht symbolisch anmutenden Gestik versehen, Ansätze zu einer „Gefühlspantomime“ als Ergänzung zum Redefluss. Vor allem die Figur der Hari hat davon profitiert.

Warum sich Snaut auf der Raumstation mit ein paar Holzbrettern abmüht, bleibt allerdings rätselhaft. Die Figuren verheddern sich in langen Fäden, die abgespult werden, und dass eine der Säulen langsam umfällt, zählt schon zu den szenischen Höhepunkten. Aber es wird wohl darum gegangen sein, eine Art von innerem „Gewissensraum“ zu entwerfen, in dem die Figuren umherirren – szenische Paraphrasen über die Entfremdung menschlicher Beziehungen, von den oft genug bedrohlich ausstaffierten Klangflächen des Solaris-Ozeans unterspült. Aber der Nachteil dieser szenischen Lösung ist, dass die Reflexion über die Handlung siegt und den statischen Gesamteindruck verstärkt. (Zur besseren szenischen Strukturierung und zum Aufbau von Spannung hätte man zum Beispiel verdeutlichen können, dass es sich beim Auftritt von Gibarian um eine Videoaufzeichnung handelt, die Kelvin als Nachricht des bereits verstorbenen Wissenschaftlers zur Kenntnis gebracht wird u.a.m.)

Das amadeus ensemble wien unter Walter Kobéra sorgte für die musikalische Weltraumfahrt – die Besatzung von Solaris Station hinterließ insgesamt einen sehr guten Eindruck: Simona Eisinger war mit angenehmen lyrischem Sopran eine Hari voll schwebender, melancholischer Unschuld; Timothy Conner sang den gewissensgenötigten Kelvin mit virilem Bariton und Martin Lechleitner lieh dem, durch den Aufenthalt auf der Raumstation sonderbar gewordenen Snaut einen klaren, lyrischen Tenor. In der kurzen Partie des Gibarian kam Ricardo Martinez Bojorquez mit schlankem Bass zum Einsatz. Den Offstage Kelvin steuerte Christian Kotsis bei.

PS: Es erfreut, dass die Neue Oper Wien nach der sehr befremdlich anmutenden Beurteilung der hiesigen Musiktheaterszene durch die Wiener Theaterjury von der Kulturabteilung der Stadt Wien nicht fallen gelassen wurde. Die Neue Oper Wien konfrontiert seit drei Jahrzehnten das Wiener Publikum erfolgreich mit zeitgenössischem Musiktheater – mögen sich noch weitere drei erfolgreiche Jahrzehnte anschließen.