DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK

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Theater an der Wien
10. September 2015
Semi-Konzertante Aufführung

Dirigent: Leo Hussain

Szenische Einrichtung: Reto Nickler

Wiener Virtuosen

Sopran - Juliane Banse


Saisoneröffnung im Theater an der Wien

(Dominik Troger)

Im Theater an der Wien wurde die neue Saison mit einer semikonzertanten Aufführung der Mono-Oper „Das Tagebuch der Anne Frank“ von Grigori Frid eröffnet.

Grigori Frids Vertonung von Anne Franks Tagebuch entstand 1969, 1999 hat der Komponist die ursprüngliche Fassung für Kammerorchester zu einer in der Besetzung reduzierten Version überarbeitet. Diese Version lag der Aufführung im Theater an der Wien zugrunde. Die Uraufführung fand 1972 im Haus des Komponisten statt, damals nur mit Klavierbegleitung, weil die sowjetischen Behörden einer „offiziellen“ Aufführung aus politischen Gründen nicht zustimmen wollten.

Der russische Komponist Grigori Frid (1915-2012) hat den leidvollen Weg der Sowjetunion vom Anfang bis zu ihrem Ende mitgemacht. Ihn hat die „allgemein-menschliche“ Seite von Anne Franks Tagebuch fasziniert. Er hat es vermocht, aus diesem Zeitdokument des Holocaust durch eine knapp bemessene Auswahl an Textstellen und durch seine konzentrierte Musik diese Aspekte herauszuarbeiten: Annes Verzweiflung, aber genauso ihren Mut, ihren Glauben an die siegreiche Kraft von Vernunft und Menschlichkeit. Frids rund einstündige Mono-Oper ist inzwischen eines der meist aufgeführten zeitgenössischen Musiktheaterwerke, hatte vor allem in Deutschland großen Erfolg. In Wien gab es meines Wissens zuletzt Aufführungen vom Sirene Operntheater 2006 und 2008 im Jugendstiltheater auf der Baumgartner Höhe. (Ob dieses gerade für kleine Opernproduktionen als Spielort reizvolle Theater aus dem von der Stadt Wien verordneten Dornröschenschlaf noch einmal aufwacht??) Gespielt wurde die deutsche Fassung der Oper.

Der ausgesprochene Reiz von Frids Vertonung liegt darin, dass sie die jugendliche Unbekümmertheit von Anne respektiert, dass sie Furcht und Bedrohung nicht agitatorisch überzeichnet, und dass sie mit den ersten Liebesgefühlen Annes zu Peter (Nr. 15 „Wenn wir beisammen hocken“) eine einfühlsame poetische Lyrik entdeckt. Diese „Poesie“ führt über eine bedrohliche Entwicklungen ankündende, in den Streichern schmerzvoll berührende Passacaglia hin zu dem verklärenden Schlussteil, in dem Anne sich sozusagen selbst schon ihren Nachruf singt und sich ihre Seele in einer naturmystischen Vision aufzulösen scheint. Dieser Blick vom Dachboden des Verstecks in den Himmel (Nr. 21) wird noch mit einem kurzen, harschen Orchesterausbruch kommentiert, der wahrscheinlich das „reale“ Ende von Anne Frank andeuten soll (Verhaftung und Tod im Konzentrationslager), ehe die Musik lange und leise verlöschend ausklingt: dann betroffene Stille im Theater an der Wien, die ruhig noch länger hätte ausgehalten werden können, in schwermütigem Angedenken.

Juliane Banse sang die Anne – aber ob ihr Sopran für diese Partie nicht schon zu reif ist, diese Frage stellte ich mir im Fortlauf des Abends einige Male. Banse hat im ersten Teil für meinen Geschmack – ebenso wie die Wiener Virtuosen unter Leo Hussain – nicht wirklich in das Stück hineingefunden. Da hätten sich alle eine Spur sensibler geben und ein bisschen mehr Zeit lassen müssen, da hätten die Wiener Virtuosen unter Leo Hussain mit ihrer Lautstärke schon mehr haushalten können: im Theater an der Wien hört man auch leisere Töne vorzüglich. Das quirlige, backfischhafte Schulmädchen war im Orchester kaum und bei Banse mehr in Ansätzen vorhanden, und Frids Musik ist im ersten Teil noch nicht so bezwingend, dass sie zum „Selbstläufer“ wird.

Reto Nickler hat den Abend szenisch eingerichtet: Banse (im schwarzen Hosenanzug und mit den Noten vor Ort) sang – und arrangierte „nebenbei“ eine Art „Lichtbildervortrag“: Sie legte etwa Fotografien von Anne Frank unter einen Projektor, der die Bilder auf eine bühnenbreite Leinwand warf, die hinter der Sängerin montiert war. Sie schrieb auf Papier Daten aus Annes Leben auf, zuletzt Daten zu ihrem Tod und den Namen jenes Mannes, der Anne verhaftet hat und Jahrzehnte später in Wien verstorben ist. Sie las Textpassagen aus dem Tagebuch vor, die nicht aus Frids Libretto stammen dürften (sie fehlen im Text, der dankenswerter Weise im Programmheft mitgelesen werden konnte). Unter das gezeigte Dokumentationsmaterial mischte sich auch das Bild jenes toten syrischen Buben am Mittelmeerstrand, das in den letzten zwei Wochen überall medial verbreitet worden ist.

Begonnen hatte der Abend mit Auszügen aus Igor Strawinskys Suite seiner „Geschichte vom Soldaten“, die ich ohne Erzähler allerdings als etwas „unnarrativ“ empfand. Aber es wurde deutlich, dass Strawinsky natürlich auch auf Grigori Frid kompositorisch eingewirkt hat.

Nach ziemlich genau 90 pausenlosen Minuten gab es vom Publikum dankbaren Applaus. Das Theater an der Wien war relativ gut besucht, auch wenn der III. Rang noch viele leere Plätze aufgewiesen hat.