DIE LETZTE VERSCHWÖRUNG
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Volksoper
4. April 2023

Dirigent: Steven Sloane

Regie: Lotte de Beer
Bühnenbild: Christof Hetzer
Kostüme: Jorine van Beek
Choreographie: Otto Pichler
Licht: Alex Brok
Videodesign: Roman Hansi, Christof Hetzer
Sounddesign: Martin Lukesch
Choreinstudierung: Roger Díaz-Cajamarca

Friedrich Quant - Timothy Fallon
Elisabeth, seine Frau / Natalya Ostrova,
russische Unternehmerin - Wallis Giunta
Lara Lechner, eine Flat-Eartherin /
Das SYSTEM - Rebecca Nelsen
Dieter Urban, Verschwörungstheoretiker /
Mr. Goodman, ein FBI-Agent - Orhan Yildiz
Georgina von Solingen, Quants Chefin - Annelie Sophie Müller
Alois Dunkler, Quants Manager - Jakob Semotan
Der Kanzler - Daniel Schmutzhard
Edgar Binder / Pressereferent des Kanzlers /
GORD, ein Außerirdischer - Aaron Pendleton
Sarah, Quants Kind - Mara Westerkamp
Philipp, Quants Kind - Konstantin Pichler
Angelica Boob - Tara Randell
Stimme aus dem Off - Moritz Eggert


„Horrortrip in der Volksoper
(Dominik Troger)

Wer dieser Tage die Volksoper besucht, braucht starke Nerven. Es wird von Dingen die Rede sein, die niemand sich hätte träumen lassen. Ist mein Sitznachbar ein Echsenwesen? Wird durch das Mobiltelefon ein Chip ins Hirn implantiert? Und noch etwas: Steigen Sie NIE, wirklich NIE, in einen Bus der Wiener Linien mit der Betriebsnummer 8196 ein: Das FBI wird dort auf Sie warten!

Neugierig geworden? Dann nehmen Sie all ihren Mut zusammen und kaufen Sie sich eine Karte für „Die letzte Verschwörung“ – eine „Mythos-Operette“ von Moritz Eggert. Zweieinhalb Volksopernstunden lang werden Ihnen die Augen geöffnet. Und keine Sorge: Eine Pause ist eingeplant. Sie dürfen sich bei Kaffee oder einem Gläschen Wein kurz erholen. Aber verzichten Sie auf belegte Brötchen. Man weiß ja nie. Außerdem erfahren Sie erst nach der Pause, warum es keine gute Idee ist, eine Salamipizza zu essen.

„Die letzte Verschwörung“ erzählt das Schicksal des Talkshowmoderators Friedrich Quant. Ein Schicksal, das auch Ihres sein könnte. Es gibt so viele seltsame Zufälle im Leben. Was für den einen „rund“ ist, ist für den anderen „flach“. Und wer die Erde für eine Scheibe hält, hat vielleicht zu viele eckige Tassen im Schrank. Quant setzt seine Existenz aufs Spiel, um die Wahrheit zu ergründen. Er gerät in einen Strudel immer neuer Theorien. Er wird zum Freiheitskämpfer für die Menschheit. Vielleicht ist dieser Quant aber auch nur eine Computersimulation? Gibt es die Volksoper überhaupt? Haben Reptiloide von ihr Besitz ergriffen?

„Jenseits der Wirklichkeit beginnt das wahre Sein.“ Diesen Satz hat der Komponist, der selbst das Libretto verfasst hat, der Figur des Dieter Urban in den Mund gelegt. Leider weiß niemand, wie dieses „Sein“ beschaffen ist. Aber wer Fragen stellt, sucht Antworten. Moritz Eggert hat sich in seinem neuesten Musiktheaterstück einer Auswahl aus jenen Antworten gewidmet, die heutzutage unter dem Label „Verschwörungstheorien“ kursieren. Von einem Anhänger der Flatearth-Theorie „geködert“ und durch eine Liebesbeziehung auch erotisch stimuliert verliert sich die Hautperson des Stücks in einem Labyrinth alternativer Welterklärungs- und Bedrohungsszenarien. Sie kosten ihr den Job, die Ehe und schlussendlich beinahe das Leben. Und wenn Friedrich Quant ganz am Schluss wieder im Fernsehstudio steht, dort, wo seine Reise in die „verschwörungstheoretischen“ Abgründe begonnen hat, geht dann alles wieder von vorne los? Eggert steigert die Handlung bis zur absurden Übertreibung, jagt die Hauptperson und das Publikum durch Albträume, die von manchen Menschen für wahr gehalten werden.

Der Komponist selbst hat „Die letzte Verschwörung“, ein Auftragswerk der Volksoper, als „Mythos-Operette“ bezeichnet. Viel „Operettenhaftes“ konnte ich darin allerdings nicht entdecken, gattungsmäßig pendelt das Stück mehr zwischen zeitgenössischem Musiktheater, Musical und Film. Fürchten muss sich vor Eggerts Musik niemand. Er pflegt einen sehr publikumsfreundlichen „Eklektizismus“, er spielt wie ein Chamäleon mit unterschiedlichen Stilrichtungen und Querverweisen. Er formt daraus einen Sog, in dem musikalische Moleküle von vielen namhaften Komponisten herumwirbeln bis zur Musical- und Pop-Musik. Eggert geht dabei stark szenebezogen vor: Wenn auf der Bühne zum Beispiel Pizza auf dem Speiseplan steht, wird von Orchester und Chor eine gschmackige „Tarantella“ serviert. Das Timing passt jedenfalls perfekt. Eggert garniert die in der Gegenwart spielende Handlung mit auflockernden oder kommentierenden Chören, kurzen revueartigen Tanzeinlagen sowie Zuspielungen elektronischer Musik. Die Singstimmen werden meist moderat geführt, der Text ist wichtig. Seltene ariose Ruheinseln bieten den Bühnenfiguren karge Momente zur Selbstreflexion. Die Orchesterbesetzung umfasst sogar zwei Harfen, ermöglicht subtile Klangfarben bzw. einen satten Orchesterklang – ganz nach Bedarf.

Im zweiten Teil nach der Pause besteht ein wenig die Gefahr, dass die Handlung aus den Fugen gerät, aber die bis in Details durchgestaltete Inszenierung von Lotte de Beer hat die Fäden gut geknüpft, und weil die Ausstattung dem absurd parodistischen „Ritt“ des Komponisten mit humorvoller Phantasie gefolgt ist, siegte ein Bühnenpragmatismus, den man sich heutzutage auf Theater- und Opernbühnen viel öfter wünschen würde. Gestützt wird der Zusammenhalt des Szenenreigens außerdem durch einen zugespielten Erzähler, der Hinweise zur Handlung gibt. Die Produktion ist zudem ein gutes Beispiel dafür, wie im Musiktheater mit Videos gearbeitet werden kann, ohne das Theater ins Kino auszulagern. Die Bühnentechnik hatte bei den vielen Schauplätzen viel zu tun. (Es wurde nicht mit einem geschmacklosen Einheitsbühnenbild gearbeitet!) Gegen Schluss, wenn das UFO erscheint, dreht sich der Mittelteil der Bühne imposant in die Höhe. Die Groteske wird dann zum eigentlichen Mittel der Aufklärung: Das UFO möchte die Verschwörungsgläubige Lara Lechner besamen, um einen neuen Messias zu zeugen!

Das Schicksal des Friedrich Quant entwickelt sich nicht ohne opernhafter Tragik – und die Überzeichnung soll in diesem Fall die Augen öffnen: Die Absurdität verschwörungstheoretischer Anschauungen wird ebenso bloßgestellt, wie auch die Wahrnehmungsverengung gezeigt wird, die sie bei ihren „Gläubigen“ auslöst. Der Tenor Timothy Fallon hatte als Friedrich Quant den Löwenanteil des Abends zu schultern und stand fast immer auf der Bühne: vom Fernsehmoderator bis zum Geliebten einer Androidin, die sich mit ihm zu einer Superintelligenz vereinigen möchte. Rebecca Nelsen gab als Lara Lechner eine verbissene Verschwörungstheoriengläubige, die sich als Quants Schicksal entpuppt, und ihn sogar zu einem Einbruch in die Kanzlervilla aufstachelt. Dort werden Kanzler (Daniel Schmutzhard) und die reiche russische Telekomunternehmerin Natalya (Sofia Vinnik) sich als Reptiloide entpuppen.

Orhan Yildiz mischte sich als Dieter Urban und agentenhafter Mr. Goodman in die Handlung, Alois Dunkler (Jakob Semotan) spielte – nomen est omen – die „dunkle“ Rolle eines Verschwörungstheoriengewinnlers, der manchmal versucht Wienerisch zu sprechen. Annelie Sophie Müller verkörperte die quotenhungrige TV-Intendantin. Insgesamt bestach der Abend durch die Ensembleleistung, Orchester, Chor und Ballett inbegriffen. Das Orchester unter Steven Sloane hat punktuell sogar die relativ laute Einspielung des Erzählers (Moritz Eggert) übertönt – zumindest auf meinem Platz am Balkon. Die Hilfestellung aus dem Souffleurkasten war oft (zu) deutlich vernehmbar. Der Schlussapplaus war wohlwollend, aber keine fünf Minuten lang. (Diese Eindrücke beziehen sich auf die dritte Vorstellung der Premierenserie; Uraufführung war am 25. März.)

... aber jetzt bemerke ich gerade, wie sich die Haut auf meinen Fingern der rechten Hand aufrollt, wie sie sich ledrig verhärtet, kleine blaugrüne Schuppen beginnen körperwärts zu wachsen ... ich erinnere mich: als ich mich nach der Pause auf meinen Sitzplatz zwängte, hat meine Hand zufällig die Hand eines Besuchers oder einer Besucherin gestreift ... ich befürchte das Schlimmste ...