DER RIESE VOM STEINFELD

Aktuelle Spielpläne & Tipps
Forum
Opernführer
Chronik
Home
Cerha-Portal

Wiener Staatsoper
18.6.2002
2. Aufführung, Uraufführung am 15.6.
Libretto: Peter Turrini


Dirigent: Michael Boder


Inszenierung: Jürgen Flimm
Bühnenbild: Erich Wonder
Kostüme: Florence von Gerkan

Der Riese vom Steinfeld - Thomas Hampson
Die kleine Frau - Diana Damrau
Anja, Mutter des Riesen - Michelle Breedt
Der Klammerschneider - Herwig Pecoraro
Zirkusdirektor, Conferencier, Dorfbürgermeister - Wolfgang Bankl
Musikzauberer oder versoffener Komponist - Branko Samarovski
Der Teufel, Der Sargtischler- Alfred Sramek

Rabbi Fleckeles, Wihelm II. - Heinz Zednik
Königin Viktoria - Margareta Hintermeier
Sir Dorian Bosomworth, u.a. - John Nuzzo
Lord Pitt, u.a. - Janusz Monarcha
Sowie noch ein paar Bauernburschen, und kaiserliche Türsteher:
Hacik Bayvertian, Peter Köves, Walter Pauritsch, Liviu Burz


"Klassiker" der Moderne
(Dominik Troger)

Eigentlich hat Friedrich Cerha ja keine Oper mehr schreiben wollen. Wenn man aus diesem Vorsatz heraus das Resultat betrachtet, dann weiß man warum. Denn diese Oper ist um mindestens 20 Jahre zu spät geschrieben worden.

Das betrifft jetzt einmal nur die musikalische Sprache und die Tradition aus der sie kommt. Schon Cerha's "Baal", nach dem gleichnamigen Brechtstück, stand im Kontext von Berg's "Wozzeck" und "Lulu". Allerdings entwickelte der "Baal" durch die von Brecht in den Text montierten "Gesänge" trotz dieses musikalischen Naheverhältnisses eine eigene, dem Drama adäquate Form. Klangvolle Naturmystik und rohe Expressivität durchmischten sich hier zu mitreißender musikdramatischer Individualität. Aber das war 1981. Und jetzt, diese vorhin eingemahnten 20 Jahre später, muss man Cerha's Tonsprache als noch stärker in die Vergangenheit zurückgerichtet empfinden, als das schon vor 20 Jahren der Fall gewesen ist.

Das hat vielleicht auch mit dem Libretto zu tun, auf das noch zurückzukommen sein wird, und das ähnlich dem "Wozzeck", sich der gequälten und ausgesetzten menschlichen Kreatur annimmt. Die ersten Szenen erinnern einen musikalisch außerordentlich frappant an das Berg'sche Meisterwerk, auch was die Führung der Singstimmen betrifft. Und der starke "Streicherkern" mit dem das Orchester das eigentliche musikalische Rückgrat bildet, hat seine Wurzeln in einer direkter Abstammungslinie Brucker-Mahler-Berg... Das ist einerseits natürlich schön, dass hier die musikalische Tradition weitergeführt wird, weil es auch dem Orchester liegt, andererseits konnte man in den letzten 10 Jahren hierzulande doch sehr vieles an zeitgenössischer Oper hören - und da vermisst man dann ein wenig das spielerische Suchen und finden neuer Klangassoziationen und -räume. Verlockend ist es, in diesem Fall an die vor wenigen Wochen im Theater an der Wien aufgeführte "Drei Schwestern"-Oper von Peter Eötvös zu denken, die mit subtilem psychologischen Detail- und Klanggefühl fast schon mikroskopisch jenen musikalischen Rahmen gebaut hat, der bei Cerha - fast möchte man sagen - symphonisch tönend und überhöhend sich der "Konvention" bedient.

Die Gefahr bei solchen Überlegungen ist, dass man daraus ein Werturteil abzuleiten vermeint, wo nur versucht wird, den opernhistorischen Kontext festzulegen. In den Zwischenspielen des "Riesen" zeigt Cerha schon fast eine Art von "zugespitztem" Klassizismus, in dem sich noch einmal die großangelegten Orchsterräume eines Anton Bruckner zu öffnen scheinen. Da bauen die Streicher und Bläser, kurz aber gewaltig, eine musikalische Kathedrale der "Einheit", an der die minimalistischen und fragmentierenden Konzepte der Gegenwart abprallen, wie an einer "festen Burg". Einige dieser Überleitungen, die zwischen den insgesamt 14 Szenen vermitteln, sind in der Tat gewaltig. Und atmen jenen dramatischen Zugriff, der einem während der Oper über weiteste Strecken abgeht. Aber so holt die Zeit die Revolutionäre von Damals ein. Und Cerha, der nicht nur durch die Gründung des Ensembles "die reihe" so viel für die "Wahrnehmung" der zeitgenössischen Musik in Österreich getan hat, wird plötzlich zum "gezähmten" Konservativen, zu einem modernistischen Minimalkonsens, unter dessen Prämissen es der Staatsoperndirektor "riskieren" kann, einen Opernauftrag zu vergeben. Aber das klingt jetzt boshafter, als es gemeint ist.

Diese Sätze formulieren die Erfahrungen, die aus der zweiten Aufführung des Werkes gewonnen wurden, einer Aufführung, die vor einem gut besuchten, aber nicht vor ausverkauften Hause stattfand, und deren Ende so manche(r) BesucherIn nicht mehr erlebt hat. Dabei ist die Story plakativ genug. Die "Lulu", zum Beispiel ist da weit komplexer und "abschreckender". Peter Turrini neigt ja zu einer gewissen "Vereinfachung" von Sprache, Inhalt und Aussage. So auch in diesem Fall: Der Riese, knapp über 2 Meter 50 groß, hat im 19. Jahrhundert wirklich(!) gelebt. Weil man in der salzburgischen Provinz nicht viel mit ihm hat anfangen können, schleppt ihn der Dorfschneider als Attraktion durch halb Europa. Nach zwei Jahren kommt der Riese ins Dorf zurück und stirbt im Alter von 27 Jahren. Dieser Riese hat, in der dramatischen Umsetzung von Peter Turrini, ein ihn bestimmendes Begehren: seine Mutter soll eine große Wiese kaufen ("Die Wiese muss so groß sein, damit ich ganz klein auf ihr bin.") Er zieht auch deshalb mit dem Schneider mit, weil dieser versprochen hat, Geld an die Mutter zu schicken. Aber der tut das natürlich nicht. Der ausgenützte Riese verbringt also einen ziemlich deprimierenden Opernabend, um am Schluss zu sterben.

Der ganze "riesische" Lebenslauf wird durch eine Art Volkslied umklammert, dass der Riese zu Beginn singt "Der Montag ist so traurig, der Dienstag usw. am Samstag muss ich sterben usw." sowie am Schluss vor seinem Tod. Cerha hat das sehr feinfühlig und einfach in Töne gesetzt, die leicht zu rezipierende Botschaft eines weltverlorenen Individuums, die somit ganz gewiss die Zuhörer erreicht. Dazwischen liegt eine Tour durch Europa, vom Rieder Volksfest bis zur englischen Königin. Ein Stationendrama, mit ein paar überflüssigen Figuren, deren dramaturgische Bedeutung rätselhaft und deren lähmende Auswirkungen auf den dramatischen Fluss ärgerlich sind - allen voran der "versoffene Kompositeur", der einem mit seinen seichten, langweiligen Monologen stark auf die Nerven geht.

Befremden löst auch der Auftritt des Riesen in Preußen bei Wilhelm II. aus. Nicht nur die kalauernden kaiserlichen Türsteher "Hojotoho, hier kommt der Wilhelm Zwo usf." enthüllen hier eine plumpe Agitatorik, sondern auch das "Heute gehört uns Preußen und morgen das blutige Feld", das Turrini Wilhelm in den Mund legt. In Summe machte diese Szene - ebenso wie die anschließende am Hofe der englischen Königen - einen (durch die Regie willfährig unterstützt) ziemlich peinlichen Eindruck. Der Königin wird gerade die Erfindung des Wasserklosetts präsentiert, als der Riese auftaucht, um seine Aufwartung zu machen. Die Palastwache singt: "Wir haben ganz lange Mützen am Kopf." Spätestens zu diesem Zeitpunkt hat auch schon eine gewisse "Absetzbewegung" im Publikum eingesetzt. Beim Verlassen des Raumes murmelt eine Dame halblaut, aber zynisch: "Das Watercloset ist sehr anregend."

Solch biederes, selbstgefälliges Agitprop jagt freilich keinen Faschisten mehr ins Bockshorn oder Adeligen von seinen Pfründen. Gleichzeitig erhärtet sich beim Zuseher immer stärker der Verdacht, dass diese Schaustelltour vor allem auch dazu dient, um Zeit zu gewinnen, und das Werk künstlich aufzublasen, denn die Figur des Riesen tritt doch stark in den Hintergrund, erfährt in seiner stupiden, ländlichen Naivität keine raumgreifende Psychologisierung. Wie denn auch? So muss also noch eine "kleine Frau" her, die dem Riesen öfters über den Weg läuft, und mit der sich eine "Liebesgeschichte" anzetteln lässt. So kommt es dann im zweiten Teil des ohne Pause gespielten Werkes (Länge rund eindreiviertel Stunden) noch zu einem hübschen Liebesduett zwischen ihr und dem "Riesen" (Diana Damrau als "Die kleine Frau" mit gehörpenetrierendem Sopran). "Die kleine Frau" darf auch als die ganz große Inszenierungs-Klammer dienen, liegt zu Beginn vorne beim Souffleurkasten, legt sich am Schluss wieder dort hin zurück. Inszenierung und Bühnenbild (u.a. eine eigenartige Plexiglaskonstruktion, die sich von links vorne nach hinten zieht) vermittelten auch keine starken Impulse. Durchaus anregend, wie der Riese anfangs aus dem Bühnenuntergrund "geboren" wird, aber das war es auch schon fast. (Im selben Loch wird man ihn dann auch begraben. Vorher werden der Leiche noch die Beine abgesägt, damit sie in den Sarg passt. Aber diese Groteske ist aus dem Leben des wirklichen Riesen gegriffen. Ja, wäre Turrini auch nur irgendwas annähernd so "Griffiges" eingefallen.)

Es schien auch nicht sehr wichtig, ob gerade Thomas Hampson den Riesen singt, oder nicht. Ehrlich gesagt. Das mit Hampson ist in diesem Zusammenhang mehr ein geschickter Marketing-Gag der Staatsopern-Direktion. Der eigentlichen Matchwinner war das Orchester unter Michael Boder. Boder mit seiner starken Affinität zur "klassischen Moderne" hat diese Querbezüge der Partitur vielleicht auch noch besonders betont, so wie er bei seiner "Lulu"-Interpretation die Bezüge Berg's zu Richard Strauss manchmal wirklich sehr frappierend in den Vordergrund gerückt hat. Vielleicht ist der gewonnene Höreindruck also auch durch Boder's Sichtweise ein wenig zu sehr in ein bestimme Richtung gedrängt worden.

Und wie muss das Resümee ausfallen? Ein sehr seichtes Libretto, eine ziemlich impulslose Inszenierung, und eine eigenartige musikalische Mischung aus Anachronismus und überzeugender selbstwusster Traditionsfortschreibung. Wirklich interessant wäre es, eine Beurteilung des Werkes aus der Sicht des Jahres 2050 zu riskieren. Im Rückblick verschwimmen die zeitlichen Grenzen. Möglich, dass man dann in Cerha genau diesen Mittler sieht, der das kompositorische Wissen und die Meisterschaft der zweiten Wiener Schule noch in das 21. Jahrhundert hinübergetragen hat. Aber wer weiß, was die Menschen in 50 Jahre überhaupt noch über Oper denken...