DER RATTENFÄNGER

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Museumsquartier Halle E
10.6.2004
Staatstheater Darmstadt in Zusammenarbeit mit den Wiener Festwochen
Revidierte Fassung

Musikalische Leitung: Stefan Blunier

Inszenierung: Friedrich Meyer-Oertel
Bühnenbild: Harmut Schörghofer
Kostüme: Ulrike Rulle

Orchester des Staatstheaters Darmstadt

Der Rattenfänger - John Pierce
Der Stadtregent - Thomas J. Mayer
Divana, Frau des Stadtregenten - Jennifer Barrette Arnold
Maria, ihre Tochter - Diana Tomsche-Beikircher
Martin, ihr Sohn - Marian Olszewski
Elken, Kammerfrau Divanas - Elisabeth Hornung
Johannes, ihr gelähmter Sohn - Andreas Wagner
Stina, ein blindes Mädchen - Melanie Nawroth
Der Stiftsprobst - Friedemann Kunder
Der Dekan - Horst Schäfer
Der Stadtrichter - Hubert Bischof
Der Roggenherzog - Thomas Fleischmann
Hauptmann/Wirt/Feldwebel - Michael Witte
Der Hostienbäcker - Wojciech Halicki
Der Kleine Henker - Hans Christoph Begemann
Rikke, seine Tochter - Morenike Fadayomi
sowie Landsknechte, Kinder u.v.a.


Große Oper
(Dominik Troger)

„Der Rattenfänger“ wurde 1987 beim Steirischen Herbst uraufgeführt, übersiedelte dann für ein kurzes Gastspiel an die Wiener Staatsoper – und verschwand. Erst dieses Frühjahr hat das Staatstheater Darmstadt in Kooperation mit den Wiener Festwochen die deutsche Erstaufführung möglich gemacht.

Wenn sich die Wiener Festwochen 2004 ein Verdienst in Sachen Musiktheater erworben haben, dann ist es diese Koproduktion gewesen. Dabei kann man nicht sagen, dass es Cerha dem Publikum leicht macht. „Der Rattenfänger“ (nach dem gleichnamigen Theaterstück von Carl Zuckmayer) bietet drei Stunden Musiktheater, mit vielen Szenenwechseln, einem großen Figurenrepertoire und mehreren verwobenen Handlungsfäden.

Interessant ist, dass Cerha bei seinen Opern-Libretti jeweils auf Autoren zurückgegriffen hat, die um klare Bühnenaussagen nicht verlegen sind, deren moralisierenden und lebensweisheitlichen „Interjektionen“ man manchmal – in unserem globalisierten Zeitalter – schon als naiv empfinden könnte. Cerha geht hier wirklich von einer Bühnenpragmatik aus, die einem klassischen Opernverständnis sehr nahe liegt. Das fällt auch bei der Behandlung der Sprache auf, bei der Wichtigkeit des Wortes. Viele, fast rezitative Stellen betonen das Stück an sich, sollen klarstellen, dass man der Handlung folgen kann. Cerha war bereits 1987 anlässlich der Uraufführung zu folgendem Schluss gekommen (zitiert nach dem Programmheft des Staatstheater Darmstadt): „Angesichts unleugbarer Tendenzen zu massiven und vielfältigen Formen von Sprachverarmung erscheint es mir nicht irrelevant, Menschen heute mit einer auf diese Weise gestalteten und auf diesem Anspruch bestehenden Sprachwelt zu konfrontieren.“ Er schwamm mit dem „Rattenfänger“ schon 1987 bewusst gegen den Strom, er riskierte Standpunkt und Aussage.

Die Handlung geht natürlich von der sattsam bekannten Geschichte des „Rattenfängers von Hameln“ aus. Zuckmayer hat das politisiert: der böse Stadtregent, der mit steigenden Getreidepreisen spekuliert und deshalb verbietet, Ratten zu töten etc. Am Schluss gehen die Kinder freiwillig mit, sie drängen den Rattenfänger geradezu – sie werden von ihm also nicht entführt. Zuckmayer hat dabei ein richtiges mittelalterliches Gesellschaftssystem nachgezeichnet: die Macht der Kirche, die unterschiedlichen Bevölkerungsstrukturen zwischen Oberer und Unterer Stadt, der ganze Zauberei- und Hexerei-Plot etc. Cerha nimmt auch kompositorisch darauf Bezug. Hier war auch eine behutsame Regie gefragt, die diese stückimmanente Soziologie erhält und nicht auf dem Altar einer ahistorischen, nivellierenden Modernisierung opfert. Friedrich Meyer-Oertel hat sich in seiner Inszenierung ganz gut auf das Werk eingestellt, das 20. Jahrhundert war zwar gegenwärtig (in manchen Szenen für meinen Geschmack immer noch zu deutlich), suggerierte insgesamt aber doch eine beklemmende Zeitlosigkeit, eine ahnbare Transparenz verschiedener historischer Ebenen. Wichtig war ihm eindeutig, das lange Werk stringent umzusetzen, das ganze Netzwerk an Handlungsfäden und Szenen zusammenzuhalten – und ihm trotzdem den Raum zu lassen, den es braucht. Wesentlichen Anteil daran hatte auch die Drehbühne, die raschen, perfekten Schauplatzwechsel ermöglichte. Das Bühnenbild (Hartmut Schörghofer) schien teilweise aus Beton, etwa das Kanalsystem statt mittelalterlicher Stadtmauern, zeichnete aber mit einem kühnen Schwung den großen Raum des Stadtregenten, im Hintergrund Hochhäuser angedeutet. Belebt von den gut geführten Darstellern erfüllte es seinen Zweck – und ein paar ebenso gut geschneiderte Kostüme (Ulrike Rulle), von denen vor allem Divana, Frau des Stadtregenten, profitierte, belebten zusätzlich.

Der Rattenfänger ist eine Figur, dem Baal verwandt, die manchmal auch so ähnliche „Couplets“ singt. Der Rattenfänger hat die Einsamkeit Baals, aber er ist kein asoziales Wesen. Man könnte auch hier den Bogen zum Riesen spannen, wieder ein Außenseiter. Hier zeichnet sich eine Linie ab, die durch alle drei Opern von Cerha geht. „Der Rattenfänger“ gibt einen sehr gut fundierten, sehr anspruchsvollen Mittelteil ab. Bei ihm ist der Anarchismus des „Baal“ schon gebrochen, er kann sich sozial einbringen, während er sich beim „Riesen“ auf eine rein körperliche Erscheinungsform zurückzieht – mit nicht ganz so bühnenwirksamen Konsequenzen. Die Anlage des „Riesen“ erscheint gegenüber dem „Rattenfänger“ als geradezu eindimensional. Der „Rattenfänger“ ist Cerhas „große Oper“ – und der „Riese vom Steinfeld“ wirkt im Vergleich fast wie eine „Volksoper“.

Auch musikalisch scheint mir der „Rattenfänger“ das komplexeste dieser Werke zu sein. Cerhas Vorbilder kann man dabei nicht überhören, aber es gelingt hier eine Verdichtung, die sich mit dem gut gebauten Libretto ausgezeichnet verträgt. Der Bogen spannt sich vom solistischen Instrumentengebrauch über kammermusikalische Instrumentierung bis zu massivem Orchestereinsatz, dazu kommen weniger gebräuchliche „Opern“-Instrumente wie Tenorsaxophon (dem Rattenfänger zugeordnet) oder die Orgel. Die Szenenübergänge sind wieder durch sich symphonisch auswachsende Zwischenspiele gekennzeichnet. Bermerkenswert und hautnah das Pfeifen der Ratten, flankiert von Papiergeraschel, ein klagendes, ein enervierendes Pfeifen, eine musikalische Vision, die das Gewusel kleiner grauer Nagerkörper so recht nachvollzieht: schaurig, eklig, listig.

Die musikalische Umsetzung ging ebenso konzentriert und engagiert über die Bühne wie alles andere auch. Die SängerInnen hielten sich auf solidem Niveau. John Pierce gab dem Rattenfänger eine einheitliche, sympathische Kontur, auch wenn er stimmlich gegen Ende nicht mehr das zu halten vermochte, was man sich gewünscht hätte. Jennifer Barrette Arnold hat den schwierigen Charakter der Divana überzeugend dargestellt. Der Stadtregent (Thomas J. Mayer) nahm sich dagegen blasser aus, hätte bösartiger sein können. Für Rikke, die Tochter des kleinen Henkers, gespielt und gesungen von Morenike Fadayomi, hat man als Zuseher auch nicht mit Anteilnahme gegeizt. Allerdings, die stimmliche Anspannung war bei vielen Mitwirkenden nicht zu überhören. Das manchmal etwas lautstarke Orchester agierte sachlich korrekt und war gut darauf eingestellt, das Bühnengeschehen zu stützen. Die Zwischenspiele kamen sehr kompakt, utilaristisch, und man konnte die Dramatik ganz gut greifen.

Die Halle E im Museumsquartier war sehr gut besucht, nach der Pause waren ein paar Plätze frei geblieben. Der starke Applaus galt dem Ensemble und dem Komponisten, der auf die Bühne gekommen war. Der Beifall hielt nicht allzulange an – es war schon 23 Uhr. Aber man möchte dem Werk gerne wieder begegnen.