BAAL
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Expedithalle Ankerbrotfabrik
29. September 2011
Premiere

Musikalische Leitung: Walter Kobéra
Regie: Leo Krischke
Bühne & Kostüme: Gilles Gubelmann
Lichtdesign: Norbert Chmel


Orchester: Amadeus Ensemble Wien

Baal - Sébastien Soulès
Ekart - Michael Wagner
Johannes - Gernot Heinrich
Sophie - Belinda Loukota
Emilie / Junges Weib / Jüngere Schwester -
Manuela Leonhartsberger
Johanna / Junge Dame / Ein Mädchen -
Katharina Tschakert
Mutter (und 5 weitere Rollen) - Elisabeth Lang
Mech / Gougou / 1. Mann - Oliver Ringelhahn
Weitere Mitwirkende: Ulla Pilz, Dieter Kschwendt-Michel,
Stephan Rehm, Michael Schwendinger, Daniel Serafin,
Harald Wurmsdobler


„Zur Psychopathologie eines Anarchisten

(Dominik Troger)

Friedrich Cerhas „Baal“ wurde 1981 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Brechts Anarcho-Expressionismus hat im Zusammenspiel mit Cerhas Musik damals Furore gemacht. Aber seither sind 30 Jahre vergangen.

Die Geschichte vom Einzelgänger Baal, ein naturmystischer Dichter, der sich der Gesellschaft verweigert und am Schluss einsam und elendiglich verreckt, hat Berthold Brecht kurz nach dem ersten Weltkrieg verfasst. Das Stück ist grell und brutal. Es möchte durch Baals Tabubrüche schockieren, die in Vergewaltigungen und im Mord an seinem Freund Ekart kulminieren. Baal scheint seinen Mitmenschen gegenüber ohne Mitgefühl, nur an seine alte Mutter hat er eine starke Bindung. Doch er ist nicht gefühllos im eigentlichen Sinne. Er empfindet sensibel die Regungen der Natur und ergreift rabiat Partei für abgesägte Fronleichnamsbirken. Meistens sauft und hurt er sich aber durch die Welt und fühlt sich wohl in der Haut des Provokateurs.

1918 oder 1919 war das „modern“. Aus Brechts und aus Cerhas Sicht ist Baals Entscheidung, rücksichtslos sein eigenes Glück zu suchen, mit einer Gesellschaft korreliert, die im Künstler (und ist Baal nicht eine Dichter?) ein konsumierbares und „verwertbares“ Objekt sieht. Baal verweigert sich willentlich den „nahegelegten Paradiesen“ (so Cerha). Nicht nur Baal ist asozial, auch die Gesellschaft ist es. Stirbt Baal also zuletzt den Heldentod eines verkappten Revolutionärs? (Es sind einige Gedanken des Komponisten zum Werk dankenswerter Weise im Programmheft abgedruckt.)

Aber die Aufnahme des Abends durch das Publikum war etwas flau. In einigen Gesprächen, die ich führte, gab man unverhohlen zu, das Stück wirke schon ein bisschen antiquiert. Wahrscheinlich sieht man heute in Baal mehr eine psychopathologische Erscheinungsform menschlicher Existenz und weniger eine politische Ansage. Die freie, „revolutionäre“ Entscheidung Baals würde sich dann auf eine Krankengeschichte reduzieren. An diesem Punkt fällt einem freilich der Berg’sche „Wozzeck“ ein – und Parallelen zwischen Cerha und Berg sind unverkennbar.

Vielleicht war es ein Fehler der insgesamt gut ausgearbeiteten Inszenierung, zu deutlich und „geübt“ die Karte „Gesellschaftskritik“ auszuspielen. Einer der wenigen wirklichen szenischen Missgriffe, die Holzfäller mit Krawatten und weißen Hemden, könnten ein Indiz dafür sein, dass die Transformation des Stücks zum sozialkritischen „Lehrstück“ letztlich nicht funktioniert hat. Vielleicht hätte ein risikofreudigeres Andocken bei aktuellen Jugendrevolten (zB. England 2011) die Thematik wieder ins 21. Jahrhundert verschieben können. So blieb nur die Krankengeschichte als plausible Aussage zurück – die wurde aber nicht erzählt.

Das Team um Regisseur Leo Krischke (Ausstattung Gilles Gubelmann) hat die Halle für ein ungewöhnliches Bühnensetting genützt. Der Publikumsbereich wurde in zwei Blöcke geteilt, in die spitz eine ansteigende und sich nach vorne verjüngende, etwas knapp bemessene, requisitenlose Spielfläche ragte. An der erhöhten Basis gab es eine Wand mit Türelementen, rechts und links davon war die Halle abgetrennt. In die von Grautönen beherrschte Bühne waren einige mit Klappen verschlossene Versenkungen eingebaut, durch die ebenfalls Auf- und Abtritte erfolgen konnten. Das Orchester saß hinter beziehungsweise neben dem Publikum und füllte mittig den freien Raum gegenüber der Bühne auf, der zwischen den rechts und links schräg postierten Sitzreihen entstanden war. Dirigent Walter Kobera hatte keinen direkten Bühnenkontakt, die Sänger schauten ihm in den Rücken – und auf eine große Videoprojektion, die hinter Publikum und Orchester ablief.

Die Akustik des Orchesterklanges war durch dieses Setting ungewohnt und ein bisschen dumpf, in einigen Passagen ziemlich laut. Die Sänger wurden möglicherweise in die Halle verstärkt. Von meinem bühnennahen Platz waren sie recht gut und zum Teil überraschend textverständlich zu hören.

Eine weitere Überlegung bezieht sich noch auf die Darstellungsform der Balladen, die Baal im Laufe der Handlung erzählt – und die wie kleine „Arieninseln“ die vorwärtsdränge Handlungsrealität durchbrechen. In diesen Balladen, etwa in der vom Ichthyosaurus oder jener von Evelyn Roe, spiegeln sich Baals Gedanken und Lebensumstände wider. Sie hätten eventuell einer stärkeren szenischen und musikalischen Hervorhebung bedurft, um den auf die Dauer etwas monotonen Charakter der Baal’schen Verwahrlosung zu durchbrechen – und zu „erläutern“. Schließlich ergibt sich durch sie die Chance, Baals Leben von einer anderen, „höheren“ Warte aus zu betrachten.

Cerhas Musik hat sich allerdings frisch und lebendig erhalten. Sensibel geschichtete Klanglandschaften erzählen von der kreatürlichen Natursehnsucht Baals. Die „Volksszenen“ durchgeistert karikaturartig ein Akkordeon. Wuchtig und erschütternd werden Baals Missetaten kommentiert und expressiv in Musik getaucht. Im üppig mit Instrumenten besetzten Orchester lebt noch ein spätromantischer Gestus, eine Klangidee von großer Oper. Cerha geht hier aufs „Ganze“ und bremst alle „Moden“ seiner Epoche aus. Im Jahre 1980 notierte er (siehe Programmheft) „In meinem 'Produkt‘ steht vieles im Widerspruch zu dem, was den herrschenden Konventionen gemäß im 'modernen‘ Komponieren passieren darf.“

Als Baal stand Sébastien Soulès auf der Bühne. Der französische Bariton überraschte mit guter deutscher Aussprache und Artikulation. Das Timbre seiner Stimme war passend: nicht zu weich, aber flexibel und mit einem Schuss Arroganz. Das „Urtier“, das über Leichen geht, blieb in Summe aber doch etwas zahm, und im Finale jagte ihn die Regie in Zuckungen, die dem Tod Baals jede Chance auf die von Cerha eingeforderte „Rührung“ nahmen. Wann dann, wenn nicht im Tode, müsste sich ein Publikum mit einem Bühnencharakter identifizieren, um ihn als „glaubwürdig“ begreifen zu können?

Mit Michael Wagner als Ekart stand Baal ein passender „Reibebaum“ zur Verfügung. Wagner war ebenso stimmlich präsent wie Soulès, ein etwas leichterer Bass mit einem gewissen Härtegrad und Charakter. Johannes, Gerhart Heinrich, hatte es mit seinem lyrischeren Tenor etwas schwerer, sich in diesem „gewalttätigen“ Umfeld durchzusetzen. Belinda Loukota spielte und sang eine bedingungslos in Baal verliebte Sophie. Alle anderen Mitwirkenden verkörperten zumindest zwei Rollen, und zeigten sich durchwegs schauspielerisch und gesanglich gut geführt und passend besetzt.

Walter Kobera wirkte mit der gewohnten Souveränität im Umgang mit solch schwierigen Partituren und realisierte mit der einsatzfreudigen Unterstützung des Orchesters einen musikalisch spannenden Opernabend.

Die Produktion der Neuen Oper Wien in der Expedithalle der ehemaligen Ankerbrot-Fabrik in Favoriten galt dem 85. Geburtstag des Komponisten. Friedrich Cerha war selbst anwesend und nahm am Schluss die Beifallsbezeugungen des dankbaren, aber nicht wirklich enthusiasmierten Publikums entgegen. Wie man an den freigewordenen Plätzen sehen konnte, hatte es in der Pause bereits eine kleine Abwanderung gegeben.

Man sollte die Aufführung trotzdem nicht versäumen. „Baal“ ist schon so etwas wie ein Stück österreichischer Operngeschichte. Es wäre unfair, würde man das Werk nur nach dieser Produktion beurteilen, die szenisch das Werk mehr „verwaltet“ hat, als ihm so richtig auf den „Zahn zu fühlen“.