„Philosophischer Saisonstart im Theater an der Wien“
(Dominik
Troger)
Das
Theater an der Wien bietet zur Saisoneröffnung einen philosophisch-allegorischen
Ausflug zu den Anfängen der Oper. Emilio de' Cavalieris „Rappresentatione
di Anima et di Corpo“ befasst sich mit der Frage, wie man durch
ein tugendhaftes und gottgefälliges Leben den Weg zur Glückseligkeit
beschreiten kann.
Im Jahr 1600 in Rom, dem Aufführungsjahr und dem Aufführungsort
der „Rappresentatione“, wurde dieser Lebensweg natürlich
stark durch die katholische Kirche geprägt. Emilio de' Cavalieri
und das Libretto von Agostino Manni stehen ganz in dieser Tradition,
zielen – wie es Ulrich Schreiber im ersten Band seines Opernführers
für Fortgeschrittene“ (5. Auflage, 2010) zusammenfasst
– auf „die Einbindung der Menschheit in die Heilslehre“.
Der eigentlichen
„Rappresentatione“ ist ein Prolog vorangestellt, in dem
zwei Jünglinge (die „Einsicht“ und die „Umsicht“)
dialogisch über das sterbliche menschliche Leben verhandeln und
wie man es denn leben müsse, um am Ende nicht von falschen Hoffnungen
betrogen worden zu sein. Der Dialog leitet zum Auftritt der Zeit (Tempo)
über, mit dem die eigentliche Handlung beginnt. Die Zeit ist
schließlich der bestimmende Faktor des Lebens an sich, deren
unerbittlicher Verlauf es in jene unentrinnbare Vergänglichkeit
stürzt, die über Jahrtausende den Religionen so reichlich
Argumente für jenseitige Beglückungen geliefert hat.
Das klingt jetzt nicht so spannend, aber in den drei Akten werden
auch theatralisch dankbare Effekte bedient, die – so gut gemacht
– das Publikum auch heute noch in ihren Bann zu ziehen vermögen:
etwa die Entlarvung der vordergründig in Reichtum und Schönheit
prangenden Welt als inwendig verderbt und hässlich oder der
Gegensatz von Himmel und Hölle, der ewige Feuertod der Seelen
in den Flammen der Unterwelt oder ihre unendliche Glückseligkeit
im Schoß der himmlischen Heerscharen. Aber wie bringt man das
im Jahr 2021 auf die Bühne eines säkularen Theaterraums?
An dieser Frage dürfte Robert Carsen eine Zeitlang
„genagt“ haben, liest man zwischen den Zeilen eines Interviews
heraus, das im Programmheft zur Aufführung dem Publikum zur Kenntnis
gebracht wird. Dieses „Nagen“ ist auch der Inszenierung
anzumerken – vor allem dem Beginn. Carsen hat den Prolog stark
gekürzt und verändert, er wurde auf viele Figuren aufgedröselt.
Eine aus Solisten und Choristen zusammengesetzte und mit Rollköfferchen
ausgestattete „Reisegruppe“ rätselt in einer nachgestellten
Probensituation auf der leergeräumten Bühne und bei voll
beleuchtetem Auditorium über den Sinn des Lebens. Ein seichter
Start in diese christliche „Mysterienoper“, an dem sich
ablesen lässt, wie sehr Carsen darum gerungen hat, einen heutigen
Zeiten adäquaten Einstieg in die Geschichte zu finden.
Zum Glück siegte bei aller Skepsis gegenüber der dogmatischen
Glaubensverkündigung des Jahres 1600 rasch der Theaterpraktiker
über den „Philosophen“. Carsen gilt nicht umsonst
als einer der wenigen Regisseure, die es sehr oft schaffen, einem
Stück seinen Charakter zu belassen und es ohne entwürdigende
Banalisierung behutsam in die Gegenwart zu transferieren – ein
in diesem Fall besonders heikler Balanceakt. Der Regisseur hat die
Allegorien des Körpers und der Seele, um die sich das Stück
dreht, zu „Jedermann“ und einer „Jederfrau“
vermenschlicht. Die Allegorien gewinnen Eigenleben, beweisen im Rahmen
einer festgezurrten „Lehrmeinung“ einige Selbstständigkeit.
Carsen hinterfragt den in Verse gegossenen und mit Musik unterlegten
dogmatischen Wahrheitsanspruch aber mit einer angenehmen Zurückhaltung
und betrügt den theatralischen Spürsinn Cavalieris nicht
um seine Wirkung.
Der Lohn für diese Zurückhaltung sind einige starke Szenen:
die Demaskierung der in Gold gekleideten Welt, ihren vermoderten Leib
freigelegt und bloßgestellt – sowie die zwischen Himmel
und Hölle, zwischen Schnürboden und rauchdampfender geöffneter
Unterbühne schwebenden „Seelen“: ein „Ballett“
schwerelos wirkender, halbnackter, erlöster oder höllegequälter
Menschen. Ein Bild, das mit der eindringlichen Musik zu einem packenden
Musiktheatermoment verschmilzt. Im Finale siegen dann Freude und Feststimmung:
bei voll erhelltem Theaterraum schmücken weiß gekleidete
Protagonisten und die Zuschauer die Gegenwart mit der lächelnden
Glückseligkeit des Paradieses. Das schwungvolle Finale animierte
zu viel Beifall und Bravorufen.
Die Kostüme (Luis F. Carvalho) sind von einer
deutlichen Farbsymbolik geprägt: der in schlichtes Schwarz gekleidete
betende und kniende Chor im zweiten Akt; die leuchtend roten Kostüme
von Piacere (Vergnügen) und ihren Begleitern; die in Gold gekleidete
Welt (Mondo) samt ihren Anhängern; der weißgewandete Schutzengel
(der über den Zuschauerraum auftritt), dessen Weiß schließlich
auch das Finale bestimmen wird. Im dritten Akt treten ganz in Schwarz
gewandete Bischöfe auf (Intelletto und Consiglio), offenbar die
starre Haltung des Dogmas symbolisierend. Seele und Körper tragen
Jeans, werden diese später aber ablegen und wie alle anderen
Mitwirkenden in das reine Weiß der Glückseligkeit gekleidet
sein. Mit der klaren Farbsymbolik korrespondierte ein sparsamer Bühnenbau:
im Wesentlichen zwei große Bauelemente, jeweils ein Rundbogen,
von einem Tor verschlossen, von denen einer auch an die Rampe vorfährt,
dem Publikum näher rückt, während der andere im Hintergrund
verbleibt.
Musikalisches
Herzstück der Aufführung war das Orchester von Il
Giardino Armonico unter der Leitung von Giovanni
Antonini. Ganz besonders in den Intermezzi konnte das Orchester
mit seinem vorwärtsdrängen Spiel und angenehmen Klang begeistern
(Intermezzi, die hier nicht szenisch aufbereitet wurden). Für
sie wurden von Antonini weitere Musikstücke aus jener Zeit adaptiert
(im Programmheft genannt werden u.a. Giovanni de Macque, Giovanni
Gabrieli, Giovan Pietro del Buono). Aber auch der Gesang, der sich
in rezitativischem Rahmen bewegt, ist abwechslungsreich genug und
mit interessanten Effekten versehen, wenn etwa das Echo als „Stimme
des Himmels“ auf die Fragen der Anima antwortet oder wenn verstörend
die Höllenqualen beschworen werden. Dabei galt es es –
und gilt es – den Grundsatz absoluter Textverständlichkeit
einzuhalten.
Es überrascht nicht, dass auch im Ensemble die Spezialisten den
stilistisch nachdrücklichsten Eindruck hinterließen: etwa
Cyril Auvity (Intelletto) mit seinem klaren Haute-Contre-Tenor
oder der Countertenor von Carlo Vistoli als Angelo
Custode. Margherita Maria Sala, Preisträgerin
des Cesti-Gesangswettbewerbs 2020, hatte mit schlankem Alt für
das Vergnügen zu sorgen. Anett Fritsch und Daniel
Schmutzhard sangen die vermenschlichten Allegorien der Anima
beziehungsweise des Corpo. Daniel Schmutzhard lieh der Figur jugendliche
Unbekümmertheit mit virilem Bariton, Anette Fritsch beschwor
mit ihrem Sopran eine bewegte und bewegende Seele. Florian
Bösch war – wie bereits so oft im Theater an der
Wien – seinen Bühnenfiguren ein kräftiger, aber wie
immer stark textbezogener Anwalt, so wie es sich für einen „guten
Rat“ geziemt. Georg Nigl durfte anfangs als
Tempo (Zeit) einen betrunkenen Clochard ins Feld führen –
als eine Figur die außerhalb der Gesellschaft und ihrer „Zeit“
steht. Später trat er noch einmal als Mondo auf. Der Arnold Schönberg
Chor bot wieder eine gediegene Leistung.
Das
Publikum war von den rund eineinhalb pausenlosen Stunden sehr angetan,
aber zumindest auf dem II. und III. Rang gab es einige freie Plätze.
Es sollte noch kein Problem sein, für die Folgevorstellungen
Karten zu bekommen (aber die Kritiken werden wahrscheinlich recht
gut ausfallen und das Interesse mehren).
Was sonst noch aufgefallen ist? Dass das Programmheft des Theaters
an der Wien plötzlich ganz zeitgeistige „Gendersternderl“
setzt: die Sänger*innen, die Instrumentalist*innen, die Künstler*innen
...