GOD'S LIAR

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Semper Depot
16.8.2004
(Österr. Erstaufführung 2.8.2004)

Musikalische Leitung: Walter Kobéra
Inszenierung: Stephan Bruckmeier
Bühne: Klaus Baumeister
Kostüme: Dorothea Wimmer
Lichtdesign: Norbert Chmel

Amadeus Ensemble Wien

Neuen Oper Wien in Kooperation mit Klangbogen Wien

Stepan Kasatsky - Steffen Rössler
Stephen - Hristofor Yonov
The Women - Rebecca Nelsen

Ensemble - Veronika Groiß, Eva Maria Riedl, Rafael Alvarez, Noriyuki Sawabu, Günther Strahlegger, John Cummins


Kann denn Liebe Sünde sein?
(Dominik Troger)

Der Mönch Sergius beisst sich einen Finger ab, um den Verführungskünsten einer Witwe zu widerstehen. Doch später wird er einer 16jährigen erliegen. Stephen liest die Tagebücher des Mönchs und dreht einen Film darüber. Die 2001 uraufgeführte Oper von John Casken erlebte beim Klangbogen Wien ihre Österreich-Premiere.

[1] In diesem Werk geben sich Vergangenheit und Gegenwart ein seltsames Rendezvous. Den einen Handlungsstrang bildet die Kurzgeschichte „Vater Sergius“ von Leo Tolstoi aus dem Jahr 1898, den anderen haben Casken und Librettistin Emma Warner hinzugefügt. Bei dem einen handelt es sich um das Schicksal des russischen Offiziers Stepan Kasatsky, der nach der Eröffnung seiner Braut, Mätresse des Zaren gewesen zu sein, ins Kloster geht; bei dem anderen handelt es sich um Stephen, der sich in den Tagebüchern dieses eifrigen "Offizier"-Mönchs verliert und dessen Lebensweg in einem Filmprojekt verarbeitet. Das Ergebnis ist ein Dialog zwischen zwei Jahrhunderten über die mögliche Selbst- und Gottfindung des Menschen. Ein Dialog, der sehr pragmatisch in der „guten Tat“ einer Frau endet, die den verlumpten und seelisch zerrüttenden Mönch auf der Straße aufklaubt. Eine Geste des Erbarmens, die der in Sünde gefallene, verzweifelte Mönch vielleicht als Versöhnung nicht nur mit den Menschen (und Frauen) im allgemeinen, sondern auch mit Gott (und sich selbst?) – begreift.

[2] Nun hat man nicht viele Belege dafür, dass Casken und Warner es mit dieser Thematik auf eine Parodie abgesehen haben. Sie meinen es wirklich ernst. Emma Warner wird im Programmheft mit dem Satz zitiert: „Zwischen Nietzsches ‘Gott ist tot‘ und Steiners ‘Gott ist noch nicht‘ irrt der moderne Mensch durch die Welt, auf der Suche nach den Absoluten, die diese in letzter Zeit verlassen haben: Wahrheit, Gott, Ich. Das Erkennen einer ähnlichen Suche zieht unsere moderne Figur Stephen zu Vater Sergius, zu jener Figur, die Tolstoi über hundert Jahre zuvor schuf.“

[3] Trotzdem – oder gerade deshalb? – kann man eine gewisse Simplizität „God’s Liar“ nicht absprechen – im Text, aber auch im musikalischen Ausdruck einer ziemlich zeitlosen, um einen gefestigten Streicherkern herumkomponierten, nicht unsüfffigen Moderne. Doch zumindest für diese Produktion ist das Konzept aufgegangen: In schwindelnder Höhe, auf zwei Quadratmeter als Säulenheiliger der Verführung zu widerstehen, bringt neben artistischer Spannung auch gleichnishaft die Gedankenakrobatik dieses ganzen Opernentwurfes sehr gut zur Geltung. Vater Sergius kniet in vier Meter Höhe, die Witwe steigt ihm über die Leiter nach. Mit surrealer Sinnlichkeit und schwebenden Streicherklängen gepaart, nackter Mönchsbrust und schwarzem Kleid, kam die Verlockung auch über das Publikum. In dieser Szene, die mit dem Fingerabbiss endet, erlebte der Abend seinen packenden, von der Regie geschickt ausgenützten Höhepunkt.

[4] Der Rest war ein langer Ausklang, der soziale Abstieg des Mönchs, die Verzweiflung von Stephen, dem sein ursprüngliches Filmprojekt abhanden kommt, bis die Handlung in der menschlichen Schlussgeste dieser namenlosen Frau Ruhe findet. Formal interessant ist die Wiederholung der Verführungsszene unter Stephens Regie, im Zuge seines Filmprojektes. Der Schauspieler des Mönchs besitzt aber nicht so viel Willenskraft wie Tolstois Vorlage und lässt sich mit der Schauspielerin auf zu enge Tuchfühlung ein. Stephen, der sein Projekt mittels Agentin in Hollywood untergebracht hat, beendet die Dreharbeiten. Das liest sich fast wie ein Kommentar Nachgeborener auf die so schwer einzulösenden (und kaum mehr verständlichen) Erlösungsansprüche eines früheren Zeitalters – und zugleich handelt es das Thema der Verführung auch an der heutigen Konsum- und Glamourwelt ab. Konsequent kehrt Stephen Hollywood den Rücken und sucht seine ganz persönliche Fassung für diesen Film.

[5] Für die Sänger bietet „God’s Liar“ dank- und sangbare Rollen. Die Sopranpartie – „The Women – verkörpert alle wichtigen Frauenrollen durch dieselbe Sängerin. Auch von Stepan Kasatsky, Offizier und Mönch, wird eine große Gestaltungsfähigkeit verlangt. Etwas weniger deutlich konturiert ist der Stephen angelegt. Alle drei Mitwirkenden machten ihre Sache überzeugend. Am rundesten wohl die Leistung von Steffen Rössler (Vater Sergius), dessen kräftiger Bassbariton sich auch am besten mit der nachhallenden Akustik vertrug. Rebecca Nelsen zeigte sich darstellerisch und gesanglich sehr wandlungsfähig, etwas blasser wirkte der Tenor von Hristofor Yonov. Um die drei Hauptpersonen hat Casken noch ein Ensemble von sechs Personen gruppiert, die je nach Bedarf weiteres Personal abstellen. Walter Kobéra sorgte für die gewohnt gute musikalische Umsetzung der Neuen Oper Wien.

[6] Das Bühnenbild bot eine vor allem die Höhe suchende, helle Holzkonstruktion, die Buchstaben „I“, „C“, „H“ als Säulen beziehungsweise das „C“ als eine Art von längerer, rundgezogener Sitzbank nachgebaut. Der Regie gelang eine durchaus belebte Darstellung der Handlung, in der geschilderten Verführungsszene mit großer Überzeugungskraft. Nach rund eineinhalb Stunden Spieldauer (ohne Pause) wurde die Aufführung (die vierte dieser Serie) vom Publikum eifrig beklatscht.

PS: Die schlechte Akustik des Semperdepots kam diesmal wieder voll zum Tragen – vor allem das Orchester litt darunter.