„Barocker Tugendwahn“
(Dominik Troger)
Das
Theater an der Wien hat den Barockopernliebhabern nach Francesco Gasparinis
„Ambleto“ einen weiteren Ausflug ins
„opernverrückte“ London des 18. Jahrhunderts ermöglicht:
Giovanni Bononcinis Oper „Griseldsa“ ist 1722 im King’s
Theatre uraufgeführt worden.
Giovanni Bononcini wirkte ab 1720 einige Jahre neben Georg
Friedrich Händel in der Stadt an der Themse. Seine „Griselda“
war immerhin ein so großer Erfolg, dass man Ouvertüre und
Arien auch gedruckt hat: allerdings in einer instrumental entschlackten
Variante für die „Hausmusik“ und ohne Rezitative.
Der Musikwissenschaftler Dragan Karolic hat daraus – und unter
Berücksichtigung weiterer Quellen – die Oper rekonstruiert.
(Im Programmheft zur Aufführung findet sich ein kurzer Arbeitsbericht
aus seiner Feder.)
Initiator dieses Unterfanges war einmal mehr Max Emanuel Cencic, der
damit wieder einer barocken Opernrarität zu neuem Bühnenleben
verholfen hat. Die wiedergeborene „Griselda“ ist dem Publikum
2022 erstmals präsentiert worden. Die rekonsturierten Secco-
und Accompagnato-Rezitative erfüllten ihren Zweck übrigens
sehr gut, setzten die Handlung verankernde Akzente, machten aus dem
Ganzen eine Oper und keine Ansammlung von Arien.
Die Handlung basiert auf der einhundertsten Erzählung aus Giovanni
Boccaccios „Il Decamerone“. Die Bauerntochter Griselda
heiratet einen Fürsten. Dieser Fürst stellt sie dann grausam
auf die Probe. Er entzieht ihr Tochter und Sohn, trennt sich anscheinend
von ihr, schickt sie in ihr Dorf zurück etc. Am Schluss erklärt
er die ganzen „Prüfungen“ für beendet, und lässt
Griselda, die alles duldsam ertragen hat, wieder als Gemahlin an seine
Seite treten. Die Vorgangsweise des Fürsten wird dabei durchaus
kritisiert: „Was lernen wir aus dieser Begebenheit? Daß
vom Himmel eben sowohl göttliche Gesinnungen in die niedrigsten
Hütten herabsteigen, als es in den königlichen Palästen
Menschen giebt, welche vielmehr verdienen, Schweine zu hüten,
als über Länder und Leute zu herrschen.“ (1)
Aus diesem Stoff hat Apostolo Zeno eines seiner vielen, oftmals vertonten
Opernlibretti gebaut. Bei Zeno wird die Haltung des Fürsten politisch
motiviert: Seine ungleiche Ehe mit einem Bauernmädchen habe das
Volk aufrührerisch gemacht und die Proben seien ein Mittel, um
dem Volk zu beweisen, wie Tugendhaft und standesgemäß Griselda
sei. Bononcinis Oper basiert auf Zeno, wurde aber von Paolo Antonio
Rolli bearbeitet. Doch auch bei Bononcini läuft alles auf den
Lobpreis von Griseldas Tugend hinaus – und als Zuseher wundert
man sich vor allem darüber, warum Griselda alles mit sich so
demutsvoll geschehen lässt.
Im London jener Jahre hatten sowohl Händel als auch Bononcini
ihre Fans. Aus heutiger Sicht ist Bononcinis Musik zwar reizvoll und
unterhaltsam, aber er fasst die Seelenqualen Griseldas doch ein wenig
„naiv“ auf. Aber das ist nicht abwertend gemeint: Es ist
auch eine Kunst, gehobene Trivialliteratur zu schreiben, und diese
„Griselda“ hat ein bisschen etwas davon.
Eine der Arien hat es sogar zur Berühmtheit gebracht, Ernestos
„Per la gloria d’adorarvi“ haben sich als
Konzertstück u. a. auch Joan Sutherland und Luciano Pavarotti
angenommen. Dennis Orellana, der Ernesto dieser konzertanten
Aufführung, brauchte allerdings keinen Vergleich zu scheuen,
weil er mit seiner klaren, kräftig-keuschen Sopranstimme in dieser
ursprünglich für Kastraten konzipierten Partie nicht nur
technisch ausgezeichnet reüssierte, sondern auch viel authentischer
wirkte.
Denn Max Emmanuel Cencic, der selbst den prüfungsneurotischen
Fürsten gab, hatte wieder eine sehr gut ausgewählte Sängerschar
um sich versammelt. Im sängerischen Vergleich mit der szenischen
„Ambleto“-Produktion des Theaters an der Wien, die sich
derzeit einer Hamlet-Oper von Francesco Gasparini widmet (zehn Jahre
vor „Griselda“ in London aufgeführt) schnitt diese
konzertante „Griselda“ viel besser ab. Klare, nahezu virbratolose
Stimmen, die scheinbar mühelos ihre mit barockem Zierrat ausgestatteten
Arien zum Besten geben. Cencic allein ist schon ein Phänomen
für sich, auch wenn er inzwischen nicht mehr die jungen Liebhaber
singt, sondern die Fürsten. Aber seine Stimme ist elastisch wie
eh und je, mit bronzenem Timbre, ein bisschen gesetzter als früher,
und passt bestens für die ihm gewählten Bühnencharaktere.
Sonja Runje widmete sich der Alt-Partie der Griselda
mit einer sehr ausgewogenen, bedacht geführten Stimme, dem Rollencharakter
gemäß ganz dem duldsamen Leid verschrieben, das ihr Bononcini
verordnet hat. Sie machte Griselda zum Zentrum der Aufführung,
ein Ruhepol, in der Gemütsbewegung unexaltiert und gefasst, mit
auch in der Tiefe geschmackvoll rundendem Gesang und fast schon oratorienhaft
zu nennendem Ausdruck.
Shira
Patchornik gab die in Ernesto verliebte Almirena mit Humor,
ein lyrischer Sopran, der sich mit Mozartscher Kokettheit auf Bononcinis
bukolisches Tändeln einließ. Tomás Král
gab rollengerecht den „bösen Bass“ Rambaldo,
der Griselda nachstellt, und der in der ganzen Geschichte eine etwas
undurchsichtige Rolle spielt. Schließlich will er sich sogar
erdolchen, wovon ihn aber Ernesto abhält. Das Wroclaw
Baroque Orchestra unter Benjamin Bayl sorgte
für eine ansprechende, mir im Streicherklang etwas trocken anmutende
Begleitung. Die Arien ergänzte immer wieder das erfrischende
Spiel der Oboen und Flöten. Als Zugabe wurde für das dankbar
beifallspendende Publikum der Schlusschor wiederholt.
(1) Zitiert nach der zwar nicht mehr ganz taufrischen, dafür
gemeinfreien Übersetzung von Dietrich Wilhelm Soltau aus dem
19. Jahrhundert.