WRITTEN ON SKIN
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Theater an der Wien
14.6.2013

Österr. Erstaufführung

Musikalische Leitung: Kent Nagano

Inszenierung: Katie Mitchell
Ausstattung: Vicki Mortimer
Licht: Jon Clark

Klangforum Wien

Koproduktion: Festival d‘Aix-en-Provence, De Nederlandse Opera, Amsterdam, Théâtre du Capitole, Toulouse, Royal Opera House Covent Garden, London, Teatro del Maggio Musicale Fiorentino, Florenz

The Protector - Audun Iversen
Agnés - Barbara Hannigan
Angel 1 / The Boy - Iestyn Davies
Angel 2 / Marie - Victoria Simmonds
Angel 3 / John - Allan Clayton

Angel Archivists (Schauspieler):
Laura Anne Harling, Sarah Northgraves,
David Alexander, Peter Hobday




Makabres Beziehungsdreieck“
(Dominik Troger)

Der Oper „Written on Skin“ eilt seit ihrer Uraufführung 2012 in Aix-en-provence der Ruf voraus, ein Meisterwerk zu sein. Die Wiener Festwochen haben die Uraufführungsproduktion jetzt für drei Aufführungen ins Theater an der Wien gelotst.

Gestern „Tristan und Isolde“ an der Staatsoper – heute „Written on Skin“: fast könnte man den Eindruck gewinnen, dass Dreiecksgeschichten die besten Opernstoffe abgeben. Eine Frau zwischen zwei Männern, das schafft auf der Bühne viel Raum für emotionale Eskapaden, für Ekstasen und Todeswünsche. In der Realität spielen sich solche Geschichten meistens viel banaler ab, dafür würden sich weder ein Librettist noch ein Komponist und schon gar kein Opernpublikum interessieren.

Der Handlungskern von „Written on Skin“ beruht auf einer Troubadursage aus dem 13. Jahrhundert („Le Coer mangé") und wurde vom britischen Dramatiker Martin Crimp zu einem Libretto bearbeitet. Die Handlung: ein brutaler, selbstherrlicher Gutsherr (The Protector) mit bigotter Ader holt sich einen jungen Künstler (The Boy) ins Haus. Er soll ihm ein Buch malen mit Bildern von der Hölle und vom Paradies. Agnés, die Frau des Gutsherrn, die bis dahin ein unterdrücktes, fremdbestimmtes Leben geführt hat, verliebt sich in den Künstler. Sie beginnt mit ihm ein Verhältnis, aus dem sich eine leidenschaftliche Beziehung entwickelt. Die Frau benützt dieses Verhältnis, um sich an ihrem Mann zu rächen. Der Gutsherr will zuerst nicht an die Affäre seiner Frau glauben, weil er selbst eine starke Zuneigung zu dem Künstler fühlt. Als ihm endlich die Augen aufgehen, greift er zu einer makabren Rache. Er tötet den Künstler und serviert Agnés das Herz des Nebenbuhlers als „Festessen“. Doch Agnés erschmeckt in diesem Herzen ihre Liebe (die bekanntlich durch den Magen geht) – und macht ihrem Mann klar, dass sie jetzt mit ihrem Liebsten untrennbar verbunden sei: nicht der gröbste Gewaltakt könne den Geschmack dieses Herzens aus ihrem Munde löschen. Jetzt sieht der Gutsherr endgültig „rot“ und zückt das Messer, Agnés springt vom Balkon in den Tod.

Das drastische Geschehen wird zwar linear erzählt – aber nicht auf die gewohnte unmittelbare Art, in der die Figuren der Handlung zugleich die Personen sind, die sie darstellen. Hier sprechen die Figuren vielmehr von sich selbst als dritte Person, so als würde von ihnen erzählt werden. Bei Agnés heißt es dann zum Beispiel, wenn sie selbst singt: „(...) sagte die Frau (...)“. Dadurch kippt die Rolle immer wieder aus ihrer Bühnenexistenz in die Rolle eines Erzählers. Dieser Kunstgriff abstrahiert geschickt die „Schauergeschichte“ und ermöglicht es dem Publikum, einen gewissen Abstand zur grausamen Handlung zu wahren.

Und weil Librettist Martin Crimp und der Komponist George Benjamin offenbar der Meinung waren, dass das noch nicht ausreichen würde, um dieser alten Geschichte einen für das 21. Jahrhundert tragfähigen Rahmen zu geben, wurde ein „antiker Chor“ von fünf Engeln hinzugefügt. Diese Engel begleiten die handelnden Personen wie ein überzeitliches „Fatum“, sie lenken ihre Geschicke wie Nornen, sie erwecken den Gutsherrn und Agnés zum Leben, sie stellen sogar einen der ihren ab für die Rolle des Künstlers. Engel sind natürlich in mittelalterlichen Handschriften und Malereien ein beliebtes Motiv. In „Written on Skin“ werden sie ihrer rein historischen Funktion entkleidet und dienen nicht nur als zeitloser objektivierender „Puffer“ zwischen der grausamen Handlung und dem Publikum, sondern sie erwecken die „alte“ Handlung gleichsam in der aktuellen Gegenwart der Aufführung. Der Titel der Oper lässt sich natürlich mehrdeutig auffassen: „Written on Skin“ bezeichnet nicht nur das Pergament, auf dem der Künstler sein Buch malt (und schreibt). „Skin“ bezieht sich genauso auf die menschliche Haut, und so wie der Künstler dem Buch Zeichen und Worte, schreibt er der Haut der Frau im übertragenen Sinne seine Zärtlichkeiten ein.

Die Beziehungen der Figuren untereinander sind überraschend komplex. Dem Programmheft war leider kein Libretto beigefügt, aber am Gutsherrn lässt sich eine religiöser Puritanismus festmachen, und ob es zwischen ihm und dem immer nur „The Boy“ genannten Künstler mehr gibt, als eine platonische Beziehung, diese Frage hat zumindest die Inszenierung aufgeworfen. Der Künstler schlittert in die ganze Sache hinein, scheint er doch zuerst sehr knabenhaft und keusch. An der Figur der Agnés wird eine radikale emanzipatorische Entwicklung dargestellt, von einer schattenhaften, kindlichen Existenz hin zu einer sehr selbstbewusst ihre Liebeswünsche formulierenden und einfordernden Frau. Und über die Rolle der Engel im Rahmen dieser Handlung könnte man sicher länger spekulieren.

„Written on Skin“ dauert rund eineinhalb Stunden und besteht aus drei Teilen, die durch kurze Lichtpausen von einander getrennt sind. Die Handlung ist auf 15 Szenen verteilt, die ihrerseits wieder mit kurzen Orchesterüberleitungen verbunden sind. In dieser Inszenierung fungierten die Engel (in normalem Straßengewand) auch als „Inspizienten“, als Garderobiere, als Bühnenarbeiter. Nach jeder Szene nahmen sie Veränderungen bei den Requisiten vor, kümmerten sie sich um die Protagonisten, kleideten sie oder sich um. Auch hier wirkten die Engel als „Puffer“ zwischen den teils nervenaufreibenden Szenen.

Walter Benjamin hat die Komposition ganz in den Dienst des Wortes gestellt. Nur in wenigen Passagen werden die Sänger aus ihrem recht „natürlich“ wirkendem Vortrag gerissen. Vor allem Agnés muss ihren Sopran zwei Mal sehr exponieren, aber an Stellen, wo es handlungsmäßig Sinn macht (wie kurz vor ihrem Balkonsprung). Der Gesangstil ist eher deklamatorisch, und das Orchester begleitet fast immer sehr behutsam, viele zarte Streicher, die sich fein zusammenweben und ein schimmerndes Licht verstrahlen wie der Goldhintergrund auf mittelalterlichen Heiligenbildchen. Die meiste Zeit bekommt man als Zuhörer nicht mit, wie groß das Orchester wirklich ist. Da gibt es neben allerhand Bläsern und Schlagwerk eine überraschend große Streicherabteilung in der an Celli und Kontrabässen nicht gespart wird – und als klangliches „Nonplusultra“ spielt sich im Finale noch eine Glasharmonika in den Vordergrund mit ihrem fast schmerzend ätherischen Klang. Eine Viola da Gamba ist vielleicht als Tribut an die Liebeslyrik vergangener Epochen gedacht. Benjamin hat es zudem vermieden, historisierendes „Lokalkolorit“ einzubauen, obwohl ich da und dort durchaus vermeinte, leicht archaisierende Passagen herauszuhören.

Die Wucht des Orchesters bekommt man meist nur in den kurzen Zwischenspielen zu spüren – und die sind auch weniger reizvoll, als das feine Klanggespinst, das einen zum Zuhören zwingt und das mit subtilen Klangfarben spielt. Gehen die Streicher mal kompakter ans Werk, dann ahnt man einen Nachhall der zweiten Wiener Schule, in der Subtilität der Klangbehandlung erweist sich Benjamin als Schüler der neueren Franzosen (er hat bei Olivier Messiaen studiert), sein dramaturgisches Empfinden und seine Fähigkeit recht „handfest“ Oper zu machen, wandelt in den Fußstapfen Brittens.

Ob die exquisite Wiedergabe durch das Klangforum Wien unter Kent Nagano das emotionale Spektrum dieser Musik ausgelotet hat, könnte noch hinterfragt werden. Die analytische Kühle, die wohl dem Dirigenten geschuldet ist, hat das „Leuchten“ dieser Musik vielleicht zu wenig befeuert. Andererseits scheint es im Sinne des Komponisten zu liegen, wenn man als Publikum die „Künstlichkeit“ der Darbietung empfinden kann – sonst hätte man auch im Libretto nicht den Aufwand betrieben, die Unmittelbarkeit des Bühnengeschehens zu unterlaufen. Trotzdem scheint mir das Kalkül mit mehr Wärme im Klang einen Versuch wert zu sein.

Überhaupt – und jetzt kommt die Inszenierung an die Reihe – dürfte das Potential dieser Oper bei weitem noch nicht ausgelotet sein. Der Clou liegt in der Gleichzeitigkeit von Epochen, die Jahrhunderte auseinander liegen. Mit dem „Puppenhaus“, das man zu sehen bekam, zwei Zimmer im Parterre, zwei im ersten Stock, wurden die szenischen Möglichkeiten nur angedeutet: Ein modernes Labor, eine moderne Garderobe (?) darunter – ein Zimmer im Haus des Gutsherrn im Parterre mit direkt anschließendem „Wald“, darüber ein Zimmer das kaum bespielt wurde und nur Agnés als Absprungbasis diente, das gab nur eine sehr rudimentäre, gleichsam „nackte“ Spielfläche ab.

Das Gefühl für die mittelalterliche Bilderwelt, die der Buchmaler entwickelt, seine zeichnerischen Apokalypsen, die den Gutsherrn entzücken, der sich selbst natürlich im Paradies wieder finden möchte, hätte optisch deutlicher vermittelt werden können. Es würde in seinem illustrativen Gehalt der musikalischen Anlage entsprochen haben, die die Figuren auf ihrem kurzen, aber sehr expressiven Bühnenweg begleitet. Außerdem böte sich dadurch an, die Engel szenisch deutlicher zu verankern. In dieser Produktion wurde den ganzen Abend lang eigentlich nicht klar, was es mit diesen Engeln wirklich auf sich haben könnte. Sie wirkten vor allem als geschäftige Bühnenarbeiter, ohne das Charisma alleswissender Geschichtenerzähler zu erlangen.

Dem Regieteam um Katchie Mitchell ist es aber gelungen, die Hauptgeschichte (ohne Engel) recht klar und auch in der Personenregie einprägsam umzusetzen. Vor allem die Zeichnung der Agnés schien am Herzen gelegen zu haben, deren Selbstwerdungstrip zu einer furiosen schauspielerischen Leistung von Barbara Hannigan geriet – und dabei hat sie noch gesungen! Hannigans Sopran erwies sich als ausdauernd mit einem Schuss Fragilität. Er war in seiner „Abmischung“ eine ideale Besetzung für dieses „weibliche Kind“, das zur „Frau“ wird. Der bisherige Erfolg von „Written on Skin“ wird auch mit Hannigan zu tun haben, die sich um Leib und Seele zu spielen und zu singen schien, und für die der kleinere Rahmen des Theaters an der Wien mit seiner blendenden Akustik und seiner Publikumsnähe einen idealen Bühnenraum abgab.

Iestyn Davies burschikoser Countenor, ganz britische Schule, verlieh dem „Boy“ die nötige „engelsgleiche“ Keuschheit und Androgynität – ebenfalls eine sehr gut in den Rahmen dieses Werkes passende Besetzung. Beim Gutsherrn von Audun Iversen war die Bühnenwirkung bei prägnantem Bariton nicht so stark, er hätte in der Ausstrahlung noch ein wenig mehr Herrentum und Brutalität vertragen. Victoria Simmonds (Marie) und
Allan Clayton (John) mischten sich nur punktuell in die Handlung.

Die Aufführung wurde vom Publikum dankbar, aber nicht enthusiastisch aufgenommen, einige Plätze waren allerdings leer geblieben.

Fazit: Solche Produktionen hätte man sich in den letzten Jahren öfters von den Wiener Festwochen gewünscht, (aber statt dessen wurde ein auf musikalische und szenische „Diät“ gesetzter „Verdi-Zyklus“ serviert).

Der Vollständigkeit halber angemerkt: Bereits 2008 zeigte man bei den Wiener Festwochen Walter Benjamins „Into the little hill“, eine Kurzoper über die Rattenfängersage.